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Prolog

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Erlöst atmeten die Menschen in diesem Frühjahr neunzehnhundertfünfundvierzig auf, als es schließlich still geworden war. Fortdauernde Stille waren sie nicht gewohnt, und so sprachen sie von einer Friedhofsstille und wussten nicht, was sie davon halten sollten und was danach kommen würde. Wie wird es mit uns weitergehen, so dachten und fragten sie untereinander. Aus ihren Fenstern wehten eine Zeit lang weiße Laken oder Tischtücher, und das andere Tuch, das rote mit dem Hakenkreuz, das sie in den vergangenen Jahren heraushängen mussten, das arbeiteten sie zu Wäsche oder anderem um. Sie fühlten sich befreit, und sie sahen zweifelnd, jedoch ohne Angst auf das, was nach diesen Jahren kommen würde. Auch wenn sie sich in einem zerstörten Land zurechtfinden mussten, in dem alle Ordnung daniederlag und die alten Gesetze nicht mehr galten, weil andere das Sagen und neue Weisungen beschlossen hatten und streng auf die Einhaltung dessen achteten, was sie verfügten. Fremde, mit denen man es zu tun bekam, wurden misstrauisch beäugt, weil man nicht wusste, auf welcher Seite die einmal standen. Das, was sie jetzt erlebten, war noch nicht die ersehnte Freiheit, auch wenn es keinen Bomben-und Parteiterror mehr gab. Die Stille, die sich auf die Menschen legte und sie selbst still machte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Denn diese Stille glich einer Leere. Auf vielen lag etwas, das ihnen den Hals zuschnürte, ihnen das Aufatmen schwer machte und sie mit Sorgen erfüllte und sie fragen ließ, ob ein geregeltes und geordnetes, wenn auch bescheidenes Leben, ein Leben in Sicherheit und Normalität überhaupt noch einmal im Bereich des Möglichen liegen würde.

Sie hatten sich einzurichten in einem persönlichen und allgemeinen Durcheinander. Mit dem Ende der Sperrstunden wurde es lebhafter, manchmal laut auf den Straßen, es wurde gerufen, geschrien, gezankt und geraubt, es wurde geklagt, geweint und getrauert, auch gestorben. Und nicht immer wurde der, der unter den Strapazen und Entbehrungen sein Leben verloren hatte, betrauert. Man tat mit ihm, was schicklich war – und tröstete sich mit den Worten: Wieder einer, der es hinter sich hat. Warum sollte er betrauert werden? Er war zu beneiden, so fanden nicht wenige! Millionenfach ist in der Vergangenheit gestorben worden, elender und bestialischer als hier auf der Straße zwischen Trümmern und Schutt und unter den Augen Umhergetriebener. Wer davongekommen war, dessen Gedanken kamen nicht los vom Fressen, weil der Magen Tag und Nacht brannte und bohrte und keine Ruhe gab; die Gedanken vieler kreisten um eine Bleibe, wo sie sich ausstrecken und ein wenig erholen konnten, wo sie Schutz fanden vor Regen und stechender Sonne, vor der Habgier des Stärkeren, der nach allem schielt, was der andere gerettet hat. Vor allem aber, unablässig, beschäftigte der Gedanke ans Essen die Gemüter und machte die Menschen unruhig und umtriebig.

Die Heimsuchung ist vorüber, doch was ist anders geworden? Nicht nur das Land und seine Städte sind geschändet, geschändet ist auch der Mensch, verwundet an Leib und Seele, und er fragt sich, ob es noch Sinn macht, sich einer solchen Ausweglosigkeit zu stellen und ein Kreuz auf sich zu nehmen, unter dem er am Ende nur zusammenbrechen wird. Andere wiederum entwickeln Kräfte, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen, so dass mancher geneigt ist zu glauben, sie wären in ihrem Tatendrang, wären in ihrem Leben eingeschnürt gewesen. Die waren die ersten, die hervorkrochen, wenn die Sperrstunde vorüber war, die geschäftig bald hier, bald da zu sehen und zu hören waren und die es drängte, das Normale wieder auferstehen zu lassen. Um das zu erreichen, scheuten sie nichts, nicht einmal Unerlaubtes. Was sie trieb, das waren ihr starker Wille und ihre Entschlossenheit, dass die Welt in ihren alten und bewährten Zustand zurückversetzt werden müsste.

Frauen waren es und Mütter, die von einer geheimnisvollen Kraft getrieben wurden; die, die ihre Kinder in eine andere Welt hineingeboren hatten und die jetzt alles daransetzten, ihnen diese verlorene und untergegangene Welt neu zu schaffen. Frauen und Mütter mit Visionen, denen die Männer und Söhne genommen und vor einen Feind gestellt, die in fremde Erde gelegt oder verschleppt wurden in Strafgefangenenlager am äußersten Ende der Welt. Diese Frauen haben in doppelter Verantwortung Zukunft zu bauen: als Mutter und als Vater. Sie sind hart geworden, und wenn sie bestehen wollen, müssen sie hart bleiben: hart gegen sich selbst, gegen andere und hart gegen die, für die sie alles einsetzen.

Gekleidet in Strickjacke oder Mantel, wenn sie einen hat, an den Füßen polternde und scheuernde Holzpantinen, so huscht die Frau in den Trümmern herum, schleicht über den Schwarzmarkt und sucht die Nähe der Besatzungssoldaten. Wer Glück hat, lässt sich in einer verlassenen Wohnung nieder; die Erfolglose ist mit einem Erdloch zufrieden, in dem sie halbwegs trocken und windgeschützt unterschlüpfen und sich verstecken kann, und sie dankt Gott, dass sie nicht als Vertriebene mit wenigen Habseligkeiten von Ort zu Ort ziehen muss und fußlahme Kinder und Eltern im Schlepp hat.

Ja, wenn es gelingen sollte, die Vision von einer neuen und besseren, einer lebenswerten Welt Wirklichkeit werden zu lassen, wenn es gelingt, für sich selbst und die Kinder Zukunft aufzubauen – dann ist es diese zähe und harte Frau in ihrer elenden Schäbigkeit, die Frau mit ihrem zu kurz gekommenen Leben, die die Last trägt, für eine Generation Mutter und Vater zugleich sein zu müssen.

Die Bärin  Roman

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