Читать книгу Die Bärin Roman - Wilhelm Thöring - Страница 3

Kapitel 1

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Der Geruch von Staub hat Ursula Andreae geweckt. Er liegt in einer dicken Schicht auf ihr und auf der Decke und brennt in der Nase. Sie kann sehen, wie der Wind ihn durch die Spalten um die Tür bis in den Winkel weht, in dem sie schlafen. Sie liegt zwischen ihren Kindern im Keller des zerbombten Hauses, so wie Tiere sich in Erdhöhlen verkriechen und auf die Zeit warten, die ihre Zeit ist. Hinten in der Ecke, wo es nicht durchregnet und nicht so sehr zieht, hat sie aus den umliegenden ausgebombten Wohnungen zusammengetragene Matratzen aufgeschichtet, auf denen sie mit ihren Kindern in diesem Keller schläft. Die Decken wärmen nicht. Seit Stunden liegt Wolfgang, ihr Ältester, auf ihrem Arm und sie fühlt sich, als hielte er sie gefangen. Einen Keller kann man diese Höhle nicht nennen – es ist ein dreckiges Loch zwischen Schutt, zersplittertem Holz und dem, was sie in den vergangenen Wochen, nachdem sie ausgebombt war, zusammengetragen hat. Ein Tisch ist da, mit einem zur Hälfte abgebrochenen Bein, unter das sie Steine gestapelt hat; seine Linoleumplatte zeigt große Löcher. Dazu besitzt sie drei verschiedene Stühle und ein paar Bretter, die sie mit Hilfe von Ziegelsteinen zu einem Regal zusammengestellt hat, in dem vier Blechtassen, zusammengesuchtes Geschirr und Besteck, zwei verbeulte Töpfe, eine Bratpfanne und ein Wasserkessel, eine brauchbare Kaffeemühle sowie ein paar Gläser mit Eingemachtem stehen, die sie hier im Keller gefunden hat.

Sie liegt reglos, um die Kinder nicht zu wecken. Durch die Scheibe der behelfsmäßigen Tür fällt Sonnenlicht: Ein gutes Zeichen, denkt Ursula, denn heute werden ihre Eltern zu ihr herüberkommen. Sie hausen mit vielen anderen Menschen in einer kleinen Wohnung, wo es Diebereien gibt, ständig Streit und auch Handgreiflichkeiten, und wo einer dem anderen das Leben schwer macht. Das sei die reine Hölle, sagten sie, und sie werden gehen und künftig bei ihr wohnen. Über aller Trostlosigkeit, nach den grauen und kalten Tagen zeigt wenigstens der Himmel heute ein freundliches Gesicht und lässt in ihr Freude und Hoffnung aufglimmen. Wenn die Eltern da sind, dann werden sie sich nach einer richtigen Wohnung umsehen. Der Vater ist geschickt, und er versteht es, zu reparieren und vieles von dem anzufertigen, was zum Leben notwendig ist. Auch gibt es mehr Sicherheit, wenn noch zwei Erwachsene dazukommen.

Sie verspürt das Verlangen aufzustehen und nach draußen in die Sonne zu gehen, um ihre steifen und durchfrorenen Glieder wärmen zu lassen. Doch der Junge hindert sie daran. So muss sie warten, bis er sich wegdreht oder aufwacht.

Vor der Nische, in der früher einmal Kohlen oder Kartoffeln lagerten, hat sie noch immer das weiße Laken hängen, den Siegeslappen, wie sie es nennt. Dieses Laken hat sie auf Geheiß der Behörde, die keine Behörde mehr war, beim Einmarsch der Amerikaner vor ihre provisorische Tür gehängt, als Zeichen dafür, dass sie sich mit ihren drei unmündigen Kindern der Besatzung ergibt. Sie, die kein Bett, keinen Herd, die nichts mehr hat als ihre Kinder und das Leben, sie muss auch das für andere sichtbar machen, dass in dieser Behausung weder Soldaten noch Waffen versteckt sind. Wie hat sie nach einem weißen Tuch in den leerstehenden Häusern und Trümmern gesucht! Jetzt hängt es vor der Nische und macht sie zu einem Raum, in dem sie sich ungesehen von den Kindern waschen kann. Eine Wanne hat sie nicht, nur eine verbeulte, fleckige Emailleschüssel, die auf einem Sockel von aufgeschichteten Steinen steht.

Im Sonnenlicht sieht sie dicke Wolken von Staub, die von etwas Übermächtigem in ihre Unterkunft geblasen werden. Wir leben nicht mehr wie Menschen, sondern wie Ratten, denkt sie, ja wie Ratten, versteckt und bedroht und immer auf dem Sprung, wie in der Zeit, als feindliche Bomber über uns hinwegdröhnten! Immerhin: Wir leben! Und Reinhold, das sagt ihr ihre innere Stimme, Reinhold lebt auch. Der Krieg ist zu Ende, so wird es nicht mehr lange dauern, und er kehrt heim. Ob die Kinder ihn wiedererkennen werden? Als er Fronturlaub hatte, haben die beiden Jungen sich von ihm ferngehalten. Sie waren ein Leben nur mit der Mutter gewöhnt, der Vater war fremd und störte. Und Marlene mit ihren eineinhalb Jahren hat ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Was kennt das Mädchen, was weiß es von einem Vater?

Der Krieg hat Reinhold fremd gemacht, auch für sie. Es gab nur noch wenig Gemeinsames zwischen ihnen. Sie konnten Stunden beisammensitzen und schweigen. Sie dachte an die zahllosen Bombennächte und ihr gehetztes Rennen mit den Kindern in den Bunker und daran, dass sie immer allein war, immer auf sich gestellt. Und er dachte an seine Erlebnisse an der Ostfront, von denen er anfangs stundenlang erzählte, bis sie es nicht mehr hören konnte. Haarsträubende Geschichten erzählte er, aber hatte sie in der Heimat nicht ebenfalls Vergleichbares erlebt? Wenn sie davon sprach, dann schwieg er und dachte an die russischen Dörfer, durch die er gezogen war. Er dachte an jene Menschen, an Frauen, an Kinder und Greise, und wozu deutsche Landser fähig waren. Er sagte ihr: Gott sei’s geklagt, Ursula, was diese Menschen erleiden! Wenn der Russe uns das heimzahlt! Gütiger Himmel! Sein Mitgefühl hat Reinhold nie verloren. Der Krieg hat ihn still gemacht, abwesend und noch empfindlicher für Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, aber roh oder gar brutal – nein, das ist er nicht geworden.

So aufgebracht hat sie Reinhold nie in ihrem Leben gesehen wie bei seinem letzten Fronturlaub, als vor ihrem Haus Fremdarbeiter von deutschem Wachpersonal geschlagen und malträtiert wurden. Es war eine Kolonne russischer Frauen, die im Schutt des zerstörten braunen Hauses – der örtlichen Parteizentrale, die bei einem der letzten Fliegerangriffe von einer Bombe getroffen worden war – aufzuräumen und alles Wichtige und Brauchbare auszugraben und zu bergen hatte. Ihr schwermütiger, zu Herzen gehender Gesang machte Reinhold auf sie aufmerksam und lockte ihn ans Fenster. Und was er sah, das empörte ihn derart, dass er Ursula zu sich rief. Aufgereiht, teilnahmslos wie Tiere sahen die Frauen zu, wie einige jüngere Leidensgenossinnen sich um eine ältere Frau bemühten, die auf der Straße lag. Ihre wattierte Jacke hatte sie aufgerissen, wie ein Fetzen Stoff hing eine Brust heraus, und ihr Kopftuch lag neben ihr auf dem Boden, auf das eine andere ihren Fuß gestellt hatte, um es nicht fortwehen zu lassen. Ein Schuh war auf die andere Straßenseite geflogen, aber dahin traute sich keine. Die Frau, die auf der Straße lag, bekam keine Luft. Sie bäumte sich auf, warf den Kopf nach hinten und zur Seite, knetete ihre Brust und trommelte darauf und riss den Mund weit auf, aber sie blieb still, so wie die anderen Frauen auch. Ungerührt standen zwei Wachsoldaten daneben, das Gewehr im Anschlag und sahen zu, wie die jüngeren Frauen sich abmühten, die Kranke wieder auf die Beine zu stellen und mitzuschleppen. Der Jüngere stieß die Alte mit dem Stiefel an, er trat nach ihr und brüllte, ungeduldig geworden, auf sie herunter. Sie schaffte es nicht hochzukommen. Die Wachsoldaten berieten sich kurz, die Frauen wurden in ihre Reihe zurückgedrängt, dann zog der jüngere Bewacher seine Pistole und erschoss die Frau auf der Straße. Wie einfach das ging! Er streckte seine Waffe nach ihrem Kopf hin und drückte ab. Der Kopf der Kranken fiel aufs Pflaster, sie versuchte noch einmal sich aufzubäumen, dann lag sie still, Mund und Augen immer noch weit aufgerissen. Wie ungerührt die Frauen dabei zusehen konnten! Und als sie weiterzogen, als die kräftigsten von ihnen die Tote mitschleppen mussten, da sangen sie wieder.

Außer sich vor Erregung hatte Reinhold das Fenster aufgerissen und den Bewachern etwas zugerufen, hatte geschimpft und ihnen gedroht, diesen Vorfall zu melden, so dass Ursula ihn ins Zimmer zurückreißen und das Fenster schließen musste. Es gehe hier nicht anders zu als an der russischen Front, hatte er ungläubig gestöhnt. Wie da, so würden auch hier Menschen mit Füßen getreten, würde Jagd auf sie gemacht und man schieße sie ab, wie anderswo die Hasen oder Enten. Drüben im Osten habe er Grausameres gesehen, viel Grausameres als das, was sie eben mit der Russin getan haben... Diese Frau sei nicht langsam und qualvoll gestorben, im Grunde sei sie ohne viel Aufhebens erlöst worden von ihrem jämmerlichen Dasein. Und das sagte er auch: Er glaube, dass jede Untat, die von einem Volk begangen werde, ein Spatenstich zu seinem eigenen Grabe sei.

Reinhold! Obwohl er verändert war und fremd bei seinem letzten Besuch – sie ist es auch, das weiß sie – so ist ihre Sehnsucht nach ihm an manchen Tagen so groß, dass sie seinen Namen hinausschreien möchte. Hier haust sie in einem Loch und ist voller Verlangen nach seinen Armen, nach seinem Körper, dass es schmerzt und sie verrückt werden könnte!

Und er? Steckt er auch wie eine Ratte in einem ähnlichen Loch wie sie? Und weiß auch er vor Verlangen nicht wohin? Wenn sie doch aufstehen und in die Sonne gehen könnte!

Ursula liegt in der Umklammerung ihres ältesten Sohnes und weint still, die Tränen verschmieren den Staub auf ihrem Gesicht. Und über ihr tickt der Wecker und erinnert sie daran, dass die Sperrstunde bald vorüber ist.

Der Vater hat sie zuerst erkannt. Ursula steht mit ihren Kindern auf den Trümmern vor ihrer Behausung und hält Ausschau nach ihren Eltern, nach Gottfried und Emma Straeten. Seitdem die Sperrstunde vorüber ist, sitzt sie wartend auf einem Mauerrest, denn hier draußen atmet sie frische Luft und wird von der Sonne gewärmt. Wenn sie jemanden entdeckt, der den Eltern ähnlich sieht, dann läuft sie ihm entgegen. Anfangs sind die Kinder mitgelaufen, jetzt bleiben sie, wo sie sind und sehen nicht einmal mehr auf, wenn die Mutter davonstürmt. Die kleine Marlene sitzt zwischen dem Schutt und spielt mit einer leeren Ölsardinendose, und Wolfgang und Achim, ihre beiden Brüder, schichten Steine aufeinander; sie bauen neue Häuser, sagen sie.

Und immer noch ziehen Flüchtlinge kreuz und quer durch die Straßen, als kämen die Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Wenn die Sperrzeit vorüber ist, dann kriechen sie aus ihren Verstecken und ziehen weiter, bis sie wieder gezwungen werden, in den Trümmern unterzutauchen und zu warten, bis eine neue Sonne über dem zerschlagenen Land aufgeht. Überwiegend sind es jüngere Mütter mit ihren Kindern, die die Straßen füllen, auch Alte sind dabei mit fragenden oder verständnislosen Blicken und mit leeren Gesichtern. Abgeschlafft und verdreckt sind sie und stumpf geworden von dem, was hinter ihnen liegt. Die einen schieben voll bepackte Kinderwagen oder ziehen Wägelchen hinter sich her, andere führen, vom weiten Weg krumm geworden, ihr Fahrrad, auf dem sie ihre Habseligkeiten festgezurrt haben.

Früher hat Ursula auch schon einmal einen dieser Umherirrenden angesprochen, hat ihn gefragt, woher er kommt und wohin er unterwegs ist.

„Ach, Gottchen ne, dahin, wo ich kann ausschlafen oder sterben“, war die Antwort. Jetzt fragt sie niemanden und beachtet keinen mehr. Aber sie überlegt manchmal, wo in diesem verwüsteten Land, in dem keine Nahrung und kaum Obdach zu finden ist, die Flüchtlinge denn bleiben wollen. Westwärts wollten sie; sie sind im Westen angekommen und sind noch immer unterwegs. Diese Gestalten werden nicht mehr wahrgenommen, werden nicht befragt, werden nicht angesehen. Wonach Ursula alle Tage Ausschau hielt und mancher Täuschung erlag, das war Reinhold. Heute guckt sie sich nach ihren Eltern die Augen aus dem Kopf. Die Frau aus der ersten Etage des Hauses gegenüber, eine Frau in ihrem Alter mit fünf Kindern, schleppt Holz herbei. Sie trägt Schwarz, weil ihr Mann in den letzten Kriegswochen gefallen ist. Ihre schwarze Kleidung hat der Trümmerschutt zu einem hellen Grau verfärbt. Die Frau klappt das Ende ihres Schals, den sie um den Kopf geschlungen hat, herunter, um Schweiß und Staub aus dem Gesicht zu wischen. Als sie Ursula sieht, hebt sie grüßend eine Hand und rät ihr, sich mit Brennholz einzudecken, denn es geht das Gerücht, dass wieder strenger Frost aufkommen wird. Ja, das wolle sie tun, ruft Ursula zurück, aber später, später. „Jetzt“, ruft sie voller Freude, „jetzt halte ich nach Besserem Ausschau: Meine Eltern werden heute zu mir kommen!“

Die Nachbarin nickt und lacht unter ihrer Last und geht ihres Weges.

Hinter ihr streiten sich die beiden Jungen. Achim, der Jüngere, der mit einem leicht verbogenen Rücken geboren wurde, brüllt und will den Hammer haben, den sein älterer Bruder Wolfgang in den Trümmern gefunden hat. „Er soll abhauen“, schreit der Ältere, er habe den Hammer gefunden. Der Hammer gehöre ihm! Der Achim ruft nach der Mutter, und als sie sich zu ihnen umdreht, fängt er an, herzzerreißend zu weinen. „Gebt endlich Ruhe“, mahnt die Mutter, der Wolfgang sei der Ältere, und der Ältere gibt nach!

Dass es zwischen den Jungen zu einer Prügelei kommt, das merkt sie nicht mehr – denn unten in der Straße, zwischen den Schuttbergen links und rechts, sieht sie den Vater winken. Er steht erhöht auf einem Mauerstück und schwenkt seinen Hut. Langsam und schwerfällig watschelt die Mutter, Emma Straeten, auf sie zu.

„Wie bin ich froh, dass ich das hinter mir habe! Urschel, es war die Hölle... Gott sei Dank, jetzt bin ich hier!“ Mit zitterndem Kinn stellt sie ihre Tasche ab, in die sie Dinge gepackt hat, die wichtig sind und die nicht verloren gehen dürfen, und laut schluchzend fällt sie der Tochter um den Hals. „Lieber in einem Erdloch hausen wie ein Vieh als in einem Schuppen bei solchem Pack!“ Und wieder weint sie.

„Ja, mehr als ein Erdloch kann ich euch nicht bieten, Mutter. Ihr werdet euch mit einem zusammengebrochenen Keller zufriedengeben müssen.“

„Was soll’s... Wenn ich nur meinen Frieden, meine Ruhe habe. Du lieber Gott, was haben wir bei dem Gesindel nicht alles durchgemacht!“

Auch der Vater trägt eine Tasche, größer als die der Mutter, in der es bei jedem Schritt klirrt und scheppert. Er geht aufrecht und forsch und nicht wie ein Endfünfziger; Haar und Bart sind gestutzt und haben Form. Ja, auf sein Äußeres hat der Vater immer mehr Wert gelegt als die Mutter. Trüge er nicht diesen zerschlissenen, ausgefransten Mantel, an dem es keine Knöpfe mehr, dafür reichlich Flecken gibt, und diesen sonderbaren steifen Hut – der Vater gäbe eine gute Figur ab und würde Eindruck machen. Jetzt sieht er nur wunderlich aus, wie jemand, der sich verkleidet hat. Den Kopf ein wenig vorgestreckt, hält er der Tochter seine Wange zum Kuss hin. Leise, in seiner bedächtigen Art sagt er: „Hier gibt es ja noch ganz leidliche Wohnungen. Hätte ich noch all mein Werkzeug, Urschel, glaube mir, ich könnte euch beiden und den Kindern eine Bleibe schaffen, auf die mancher scheel blicken würde! Nun, wir werden sehen, was sich machen lässt.“ Er zwinkert der Tochter zu: „Siehst du, der Krieg ist zu Ende, und jetzt scheint auch wieder die Sonne.“

Auf ihrer Kochstelle, die Ursula Andreae sich aus Steinen und einer dicken Blechplatte gebaut hat, hat sie für die Eltern Malzkaffee gekocht. Sie selbst trinkt selten Kaffee, sie trinkt meistens Wasser. Kaffee ist für die Kinder. Das Wasser holt sie aus dem Keller eines halb zerstörten Hauses. Seitdem sie einen Eimer besitzt, ist das Wasserholen für sie leichter geworden, denn sie muss über die Trümmer steigen, und mit der verbeulten Schüssel hat sie oft mehr als die Hälfte verschüttet.

Gleich, nachdem der Vater sich in ihrer Behausung umgesehen hat, ist er daran gegangen, einige Verbesserungen vorzunehmen. Zuerst hat er an einer Stelle, wo sie trocken sitzen können, den Boden geebnet, so dass Tisch und Stühle einigermaßen fest stehen. Als nächstes, hat er gesagt, werde er die Spalten und Ritzen um die Tür abdichten. Mit Mäusen kann er sich abfinden, aber nicht mit Ratten oder ähnlichem Kroppzeug.

Die alte Frau sieht müde und elend aus, und Ursula hat den Verdacht, dass sie eine Krankheit in sich trägt. Ihr Gesicht und ihre Hände sind gelblich, und sie ist so schlapp, dass sie, wenn sie aufstehen will, nur mühsam auf die Beine kommt. Wenn die Mutter zu ihr herübersieht, dann beginnt jedes Mal ihr Kinn zu zittern, und sie schämt sich deswegen und wendet sich schnell ab.

„Was fehlt dir, Mutter?“

Die Mutter schüttelt den Kopf. „Jetzt geht’s mir gut. Ach, Kind, wenn du wüsstest! Wie können Menschen nur so abscheulich zueinander sein! Sie sitzen da und denken darüber nach, wie sie böses Blut machen können!“ Sie nickt zu den Matratzen hin. „Wenn ich mich da einen Moment ausstrecken könnte...“

Es dauert nicht lange, und die Mutter ist auf dem Lager eingeschlafen; Ursula Andreae muss ihre Kinder ermahnen, Rücksicht auf die Großmutter zu nehmen, ruhig zu sein oder auf die Straße zu gehen.

„Vater, wissen die anderen, wo ihr jetzt Unterschlupf gefunden habt?“

„Freilich. Ich hab’s sogar draußen an die Wand geschrieben. Und neben die Tür unseres zerbombten Hauses habe ich ebenfalls geschrieben, wo wir jetzt wohnen. Wenn die beiden Jungen aus dem Krieg kommen, dann müssen die doch wissen, wo sie uns zu suchen haben!“

„Ja, Reinhold wird uns zuerst bei euch suchen“, murmelt sie. „Und der Bruno...“

Der Vater sieht sie sonderbar an. „Ja, ja, Bruno und Reinhold. Die Hoffnung hält uns auf den Beinen“, flüstert er. „Mehr ist uns nicht geblieben. Hoffnung! Ob die Jungen...“

„Vater, hast du sie aufgegeben?“

„Die Hoffnung? Nein, ganz und gar nicht. Weder die Hoffnung noch unsere Männer im Feld habe ich aufgegeben“, sagt der Vater und hält eine Hand wie einen Schirm an den Mund. „Aber dass sie alle wohlbehalten heimkehren – daran, Urschel, dürfen wir uns nicht klammern.“

Die Mutter in der Ecke wird unruhig, sie wälzt sich und jammert und ruft nach jemandem, den der Vater und die Tochter nicht kennen.

„So ging das Nacht für Nacht.“ Der Vater hat seinen wunderlichen Hut aufgesetzt und ist zur Tür gegangen. „Wie sollte ich dabei Schlaf finden? Immer klagte oder weinte sie und warf sich herum, und das ließ mich keinen Schlaf finden. Ich denke, dass sie und ich hier zur Ruhe kommen werden. Urschel, ich muss mich in der Gegend umsehen. Bis später.“

Sie sieht ihm nach, wie er, mit seinen Armen rudernd, in seinem absonderlichen Aufzug über die Trümmer stolpert. Der Wolfgang ruft sie und hält etwas in die Höhe: Es sind ein schwerer Hammer und eine Rohrzange.

„Wo hast du das gefunden, Wolfgang?“

Der Junge deutet auf einen Spalt zwischen den Steinbrocken. „Da unten.“

„Das ist genau das, was der Opa braucht! Vater! Warte einmal. Vater!“ Aber der Vater hört sie nicht mehr. Er hat die Straße erreicht und bleibt vor der Ruine des braunen Hauses stehen, und plötzlich ist er nicht mehr da.

„Wolfgang, geh und sieh nach. In dem Loch wird bestimmt noch mehr von dem Werkzeug liegen. Bring alles her“, fordert die Mutter ihn auf. „Der Opa kann das besser gebrauchen als du. Hörst du: Alles, was du da unten findest, bringst du zu mir in unseren Keller!“

Nein, der Junge möchte es behalten, als er aber das Gesicht der Mutter sieht, ihre zusammengekniffenen Augen und die Falten auf der Stirn, streckt er ihr gehorsam hin, was er gefunden hat. „Wolfgang, sei vorsichtig, wenn du in den fremden Keller steigst! Sieh dich um, ob da auch noch andere Sachen herumliegen.“

Sie steht auf den Trümmern und guckt in den hellen Himmel, freut sich an den unbeweglichen gleißenden Wolken im Südwesten. Was mögen die Wolken alles gesehen haben, fragt sie sich, und was decken sie zu? Ihr fällt ein Satz ein, den sie einmal von einer Frau hörte, die vor den Trümmern ihres Hauses stand und über diesen Verlust nicht mehr weinen konnte, weil sie am Tag zuvor ihren Mann verloren hatte: Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte... Sie sagte das so laut, als hielte sie eine Ansprache. Ja, wo sind sie geblieben, die Schuldigen, die Bösen und Ungerechten? Heute gibt es nur noch Ahnungslose und Opfer, selbst die unerbittliche und strenge Parteigängerin aus dem Nebenhaus, die von Untermenschen sprach und davon, dass lebensunwertes Leben wie Unkraut ausgerupft werden muss, die ist zwischen Trümmern und Entbehrungen zum Opfer geworden! Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte – es ist schwer geworden, sich dazwischen zurechtzufinden! Und behutsam und so leise, wie es möglich ist, trägt sie Hammer und Rohrzange in ihre Behausung und verwahrt das Werkzeug zwischen den Gerätschaften im Regal.

„Wo ist der Vater?“ Die Mutter sitzt mit dem Rücken gegen die Wand auf den Matratzen. Ursula Andreae ist von der Sonne geblendet, dass sie nichts erkennen kann.

„Er wollte sich ein wenig in der Straße umsehen...“

„Ja, die Untätigkeit drüben war schlimm für ihn. Er kann nicht dasitzen, die Hände in den Schoß legen und in den Tag stieren... Er muss immer etwas zu werkeln haben. Na, dann wird er uns mit irgendeinem Einfall überraschen.“

Wieder und wieder prüft Gottfried Straeten mit leuchtenden Augen das Werkzeug, das der Enkel aus dem Kellerloch geholt und die Tochter vor ihm auf dem wackeligen Tisch ausgebreitet hat. Das sei ein Vermögen und mehr wert als der übliche Plunder, den die Menschen gewöhnlich aus den Trümmern ziehen, sagt er. Werkzeug, wenn es in die richtigen Hände komme – das sei die beste Versicherung fürs Überleben. Einen unbezahlbaren Schatz habe der Junge zusammengetragen! Er solle nur herausholen, was herauszuholen sei, er könne alles gebrauchen! Unermüdlich hat der Wolfgang sich durch den Spalt in den Keller gezwängt, in dem er am Vormittag Hammer und Rohrzange gefunden hat. Sogar einige Konservendosen mit Schrauben und Nägeln hat er zutage gefördert, und darüber hat der Großvater sich ebenso gefreut wie über Hämmer und Zangen, Meißel, Schraubenzieher, den nagelneuen Hobel und die verschiedenen Sägen. Wolfgang, du bist ein gescheiter und brauchbarer Junge, hat der Großvater zu ihm gesagt, und er werde nicht lange warten, um damit für die Großmutter, für Mutter und Geschwister eine ordentliche Wohnung herzurichten. Und dabei brauche er eine tüchtige Hilfe, einen geschickten Mann wie den Wolfgang brauche er. Seitdem hielt sich der Junge in der Nähe des Großvaters auf, aber als nichts geschah, ist er enttäuscht spielen gegangen.

„Was du dem Jungen erzählst! Wo willst du eine Wohnung herrichten?“ fragte die Großmutter. Und als der Großvater erzählte, was er gefunden habe und wo diese Wohnung liege, und dass sie sie gleich heute beziehen sollten, da seufzte sie und winkte ab. In diese Gegend lasse sie sich nicht mit zehn Pferden hinziehen, rief sie.

„Heutzutage können wir uns weder eine geeignete Wohnung noch die passende Gegend dazu aussuchen! Ich sage dir: Das, was ich gefunden habe, das ist eine günstige Gelegenheit, und wir müssen sie beim Schopfe packen!“ mault Gottfried Straeten, ohne sie anzusehen, auf die geschundene Tischplatte hinunter. „Gleich morgen früh geht’s los, sehr zeitig, bevor ein anderer sich in das Nest setzt. Willst du wie eine Ratte monateoder jahrelang in einem solchen Loch wie diesem hausen? Morgen ziehen wir hinüber! Für sechs Personen ist es hier zu eng. Heute darfst du noch auf diesem Matratzenlager schlafen, aber morgen packen wir alles zusammen und gehen!“

„Beim braunen Haus! Früher, ja, da habe ich immer einen großen Bogen um dieses Haus gemacht“, erklärt die Großmutter der Tochter. „Und jetzt will der Vater gleich dahinter seine Zelte aufschlagen...“

„Dahinter ist nicht darin!“ empört sich der Großvater. „Du musst heutzutage froh sein, Mutter, wenn du überhaupt ein Dach über dem Kopf hast! Es ist auch nur vorübergehend, ein Provisorium, aber ein besseres als das, aus dem wir kommen, auch ein besseres als das, in dem wir hier leben. Du musst ja nicht bis in alle Ewigkeit hinter dem braunen Haus wohnen bleiben! Das Haus an sich ist nicht schrecklich, und die, die dieses Haus zum Schrecken gemacht haben, die sind verschwunden und über alle Berge...“

Die Großmutter seufzt, ja, es stimmt, was der Großvater sagt, aber sie weiß nicht so recht. Sie hat sich geschworen, niemals in den Schatten dieses Hauses zu kommen, geschweige denn, es zu betreten. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, dann musste sie an der Parteizentrale vorbei, und immer stand einer von den aufgeblasenen Kerlen in seiner braunen Kluft, in Stiefeln und geschweiften Hosen, das Sturmband unterm Kinn, auf der Straße und versuchte, die Leute vom Kirchgang abzuhalten. Manches Mal kam sie nach Hause und sagte: „Heute habe ich wieder eine Sünde auf mich geladen: Ich habe darum gebetet, dass nicht immer unsere Häuser, die überhaupt nicht überflüssig sind, getroffen werden, sondern dass endlich einmal der braune Kasten von einer Bombe in die Luft gejagt wird! Es würgt in meinem Hals, wenn ich schon von Weitem diese braunen Kettenhunde sehe! Um nicht immer an ihnen und diesem scheußlichen Schuppen vorbeizumüssen, könnte ich unser geliebtes Viertel verlassen!“

Die Tochter meint: „Der Vater hat recht, Mutter: Das Haus an sich ist niemals schrecklich gewesen, es war das Pack, das sich da eingenistet hatte.“

Mit brüchiger Stimme entgegnet die Mutter: „Ich weiß gar nichts mehr. Wie ein Zigeuner ziehe ich von einem Ende der Stadt zum anderen... Heute hier, morgen da! Ich möchte irgendwo in Frieden bleiben können.“

Der Vater ist noch ungeduldiger geworden. „Ich habe dir gesagt, Emma, dass es eine taugliche Wohnung ist: Dach und Wände sind dicht, bis auf einen Raum gibt es noch überall Fußböden... Was fehlt, das sind die Fensterscheiben. Aber die fehlen überall, und die lassen sich reparieren. Alle Wasseranschlüsse funktionieren, du hast Wasser in der Küche und im Bad! Ja, auch das gibt es noch. Kein Wasserschleppen mehr, keine Sitzungen auf dem Eimer, bis du einen Krampf im Hintern kriegst... Und dann – Mutter, es stehen sogar Möbel da, gute Möbel. Was willst du mehr? Du solltest einmal mitgehen und es dir ansehen!“

Nein, die Mutter will nicht. Beschwichtigend tätschelt die Tochter die Hände der alten Frau. „Der Wolfgang hat dem Vater Werkzeug beschafft. Er wird für dich die Wohnung so herrichten, dass du dich wie in einer Villa fühlen wirst... Lange können wir hier nicht bleiben. Es zieht und regnet durch, und wenn wir Frost haben, dann glitzert er auf den Steinen bis in den hintersten Winkel. Sieh nur die Kinder an: Seit langem haben sie laufende Nasen, sie sind käsig und husten immerzu, und es wird nicht lange dauern, und wir haben uns den Tod geholt! Nein, wir werden dieses Loch morgen verlassen! Und noch etwas, Mutter: Wer weiß, was außer dem Werkzeug noch alles ganz nahe bei uns unter den Trümmern liegt und die Ratten anzieht.“

„Du denkst doch nicht an Leichen?“

„Doch, Mutter.“

Die Mutter schlägt die Hände vor ihr Gesicht. Still, mit bebenden Schultern weint sie eine Weile vor sich hin. Als sie allein sind, sagt sie zur Tochter, es sähe in ihr aus wie ringsum in den Straßen: Nur Schutt und Asche trüge sie in sich, Finsternis und Trostlosigkeit. Dazu die Sorge um ihren Jüngsten. Einen Sohn habe sie geopfert, der liege in russischer Erde, aber der Bruno, ihr Jüngster. Wenn sie doch wüsste, was mit ihm ist! Nichts anderes wäre mehr in ihr. Nur Angst und Sorgen füllten ihren Kopf und ihr Herz! Die letzte Zeit zwischen dem kreischenden, dem zänkischen und missgünstigen Pack habe sie ausgehöhlt. Sogar ihre Körperkraft, auf die immer Verlass gewesen sei, habe sie unter jenen Menschen verloren. Sie sei wohl krank geworden, denn es falle ihr manchmal schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leer sei sie und aufgebraucht und müde von den Jahren und Ereignissen, so dass der Wunsch, sterben zu können, an manchen Tagen überhand nehme. Und jetzt habe sie wohl einen solchen Tag erwischt, sagt sie.

„Mutter, lass deinen Kopf nicht hängen! Du hast deine Hölle hinter dir, jeder andere hat seine hinter sich! Auch wenn alles am Boden liegt, tiefer geht es nicht mehr – es kann nur aufwärts gehen! Ganz tief in mir ist der Glaube, dass Reinhold und Bruno eines Tages vor unserer Tür stehen, und dann wird wieder alles so sein, wie es einmal war...“

„Ach, Gott gebe es...“ seufzt die Mutter. „Hätte ich deine Gewissheit, Kind, und Vaters Stärke! Er ist stark geblieben und immer noch voller Unternehmungsgeist. Bei mir ist das anders geworden. Und das will er oft nicht einsehen. Der Vater meint, es müsste mir alles noch so von der Hand gehen wie vor zehn Jahren... Ich bin siebenundfünfzig, Urschel, aber ich fühle mich, als wäre ich achtzig! Warum bin ich zum Leben verurteilt, warum?“

Jetzt bekommt auch die Tochter feuchte Augen; mit gesenktem Kopf sitzt sie der Mutter gegenüber und weiß darauf nichts zu sagen.

Gegen Abend – der Großvater sitzt mit den Enkelsöhnen vor der Tür und erklärt ihnen, warum fremde Menschen Bomben auf das Land geworfen und Frauen und Kinder, Männer und Tiere getötet haben – packt Ursula Andreae alle Dinge, die sie in dieser Höhle zusammengetragen hat, in eine Decke und verknotet sie.

„Das brauchen wir morgen früh nicht zu tun“, sagt sie zu ihrer Mutter, die bei der Enkeltochter auf dem Lager liegt. „Gleich, wenn die Sperrstunde aufgehoben ist, werden wir umziehen, Mutter. Weg von der Schuttwüste hier. So sind wir noch nie umgezogen: Mein Buckel als Umzugswagen!“ Sie lacht. „Hätten wir mehr Krempel, der Umzug wäre nicht so einfach. Das ist, als würde man von einer Kaffeetafel aufstehen...“

Die Großmutter schweigt. Sie blickt auf die kleine Marlene und streichelt immerzu deren Haar. Und das Kind liegt still mit geschlossenen Augen, es genießt diese Liebkosungen der Großmutter.

„Das hast du dir auch gerne gefallen lassen, Urschel“, murmelt die Großmutter. „Dein Haar war wie lauter Gold...“

„Marlenchens Haar ist verstaubt, Mutter. Früher, wenn ich es mit Kamille gespült habe – dann war auch ihr Haar wie reines Gold!“ Sie stellt das Bündel mit den Sachen neben die Tür. „Wir haben alles verloren, sagen wir, und doch werden wir uns mit diesem Kram einen Ast abschleppen! Was wir in der kurzen Zeit nicht alles zusammengetragen haben!“

„Vaters Werkzeug ist schwer“, meint die Großmutter.

„Ja, es ist auch mehr wert als Lebensmittelmarken“, sagt er.

Für alle ist auf dem Matratzenlager kein Platz, so wird die Großmutter bei den Enkeln schlafen, der Vater und die Tochter wollen am Tisch sitzen bleiben. Das gehe schon für eine Nacht, meinte Urschel. Im Bunker hätten sie sich manche Nacht noch ganz anders behelfen müssen.

Und als es dunkel geworden ist, sitzen Vater und Tochter einander am wackeligen Tisch gegenüber, den Kopf auf den Armen und warten auf den Schlaf.

Vier Räume gehören zur Wohnung hinter der ehemaligen Parteizentrale‚ dazu eine Küche und ein schmales Bad. Auch ein Balkon klebt an der Außenwand, von dessen Gitter ein Teil weggeschossen worden ist. Wortlos ging Großmutter Emma, als sie die Wohnung betreten hatte, durch alle Zimmer. Vor einem Fenster ohne Scheiben blieb sie stehen, um über die Trümmer nach jenem Haus zu sehen, das sie aus tiefem Herzen verabscheute. Sie betrachtete die Gegend, als wollte sie sich einprägen, wo sie fortan zu Hause sein würde. Nachdem sie lange genug die Ruinen angestarrt hatte, ist sie noch einmal durch alle Zimmer gegangen, und dabei prüfte sie in der Küche und im Bad die Wasserhähne – ja, die Leitungen sind unbeschädigt geblieben, die Hähne funktionieren und sie hat Wasser in der Wohnung! Als ihr Mann den ersten Stuhl hereintrug, setzte sie sich darauf, zog die Enkeltochter auf den Schoß, wiegte sie und begann leise zu summen. Ihrer verwunderten Tochter rief sie zu: „Doch, doch, hier ist es gut, Urschel! Hier bleibe ich! Ich habe das Gefühl, dass es mit mir wieder bergauf gehen wird!“

Als Erstes hat der Großvater die Wohnungstür mit einem Riegel gesichert. Ursula Andreae machte sich über den Schmutz in der Wohnung und im Flur her, und auch die beiden Jungen mussten ihr dabei helfen, wobei der kleinere, der Achim, hinderlich war und nur Spielereien und Unfug im Kopf hatte, so dass sie ihn fortschickte. Notdürftig ist als nächstes eines der vielen Fenster abgedichtet worden, dass kein Wind hereinblasen kann. „In diesem Raum werden wir schlafen“, entschied Ursula Andreae. „Und morgen vernageln wir die anderen Fenster, dass sie alle dicht sind. Hier drinnen wird es nicht so hell sein wie draußen, aber wir haben es trocken und nicht so zugig wie drüben in der Räuberhöhle!“

Die Großmutter meinte staunend: „Man merkt, dass du lange Zeit ohne Mann bist, Urschel. Nein, wie entschieden du die Dinge angehst!“

Die Tochter lachte darüber, spuckte in die Hände und wuchtete den Eimer mit dem zusammengekehrten Schutt auf den Balkon und schüttete alles in die Tiefe.

An diesem ersten Tag in der neuen, in der richtigen Wohnung, wie die Kinder dazu sagen, ist es sehr spät geworden, bis sich auch die Erwachsenen hinlegen konnten. Jetzt hat jeder seine eigene Matratze und es braucht niemand mehr bei den unruhigen Kindern zu schlafen, weil der Vater in einer anderen Wohnung noch gute und feste Matratzen gefunden hat. Auch Decken hat er mitgebracht, dazu Kopfkissen und allerlei Küchengeräte und einen Waschkessel.

„Was sollen wir damit?“ hat Großmutter Emma gefragt. „Wir haben keinen Herd, um Wasser heiß zu machen.“

„Nein, heute haben wir noch keinen Herd, Mutter, aber morgen“, gab er zur Antwort. „Es wird alles so kommen, dass du nichts mehr vermisst!“

Anderntags haben er und Ursula aus einer zerstörten Wohnung in der Nachbarschaft einen Herd samt Ofenrohren, Töpfen und Pfannen geholt und ihn in die Küche gestellt. „Hier kannst du wieder nach Herzenslust kochen“, sagte der Großvater zu seiner Frau und ist, nachdem der Herd angeschlossen war und er ihn geprüft hatte, gegangen, um Bretter und Teerpappe zum Abdichten der Fenster zu besorgen.

Da noch alle Fensterrahmen vorhanden sind, ist es für Gottfried Straeten nicht schwierig, die zugesägten Bretter vor die Fenster zu nageln. Einen Teil im unteren Bereich lässt er frei, da will er eine Scheibe einsetzen, dass der Raum nicht ganz ohne Tageslicht ist. Und nach einer Woche hat er auch das bewerkstelligt. Zufrieden seine Pfeife rauchend sitzt er in der Stube und freut sich über den Sonnenschein, der durch das kleine Rechteck auf den Fußboden fällt.

„Woher hast du nur den Tabak“, wundert sich die Tochter. „Ist deine Tabaksdose so etwas wie das Töpfchen im Märchen, aus dem ohne Ende süßer Brei quillt?“

Der Vater zwinkert ihr listig zu. Dann, nachdem er ein paar tiefe Züge genommen hat, sagt er: „Schachern, Urschel! Tauschen!“

„Tauschen? Was haben wir denn, um es gegen Tabak einzutauschen?“

„Schau dich nur einmal in den Trümmern um! Da kannst du noch so manche Herrlichkeit finden! Und dann ab damit auf den Schwarzmarkt!“

„Vater! Gibt es hier wirklich einen Schwarzmarkt!“ Fast schreit es die Tochter, als hätte der Vater ihr gestanden, dass er Ungeziefer habe. Später fragt sie: „Und was tauschst du da?“ „Von der Christbaumkugel bis zur Kaffeemühle und der verbeulten Kaffeekanne – alles! Auch Bilderrahmen, Lampenschirme und Klamotten aus dem Lumpensack. Noch nehmen sie, was du bringst.“

„Und Lebensmittel?“

Nein, Lebensmittel habe er keine gesehen, sagt er. Tabak sei das höchste. Meistens werden andere Dinge getauscht, Werkzeuge, Küchengeräte, halbwegs tragbare Kleidung, auch Schmuck habe er schon gesehen. Er habe gehört, dass es anderswo Schwarzmärkte von ganz anderem Format gebe! Da würde mit Schokolade und Bohnenkaffee gehandelt und sogar mit Nylons!

„Wenn du einmal etwas Besonderes brauchst, Urschel, ich werde es dir besorgen. Fensterglas ist in der ganzen Stadt nicht zu kriegen, wahrscheinlich gibt es im ganzen Land kein Glas mehr. Unsere Fensterscheiben, die habe ich auch da aufgetrieben, Urschel!“

Ja, es ist ein Segen, dass die Eltern zu ihr gezogen sind! Wo wäre sie, wenn der Vater nicht gekommen wäre? Unter der tropfenden Decke, zwischen dem Schutt im Keller, wo der Wind ihr durch jeden Spalt Staub und Dreck ins Gesicht blies. Wo vielleicht nebenan noch Leichen unter dem Schutt liegen... An einem kalten, regnerischen Tag Ende April lugte ein heruntergekommener, fremder Mensch in ihre Behausung und fragte nach Leuten, deren Namen sie nie gehört hatte. Es gehe um seine Frau und die beiden Kinder, die haben hier oben im Haus gewohnt. Ob die fortgezogen seien? Sie wisse es nicht, hat sie dem Menschen gesagt. Sie kenne niemanden mit diesem Namen. Jetzt wohne sie hier mit ihren drei Kindern. Und alles, was sie in ihrem Raum stehen habe, das habe sie in diesem Haus gefunden. Der Mann hat sich angehört, was sie zu sagen hatte, und die ganze Zeit hat er sie angesehen, als verheimlichte sie ihm etwas. Dann ist er gegangen. Unten auf der Straße stand er längere Zeit und betrachtete den Schutthaufen, in dem er einmal mit seiner Familie zu Hause war. Vielleicht hätte er noch Steine weggeräumt und nach ihnen gesucht – aber sie und ihre drei Kinder waren ja da und wohnten in einem der Keller.

Am Abend, als sie im Dunkel zwischen den Kindern auf ihrem Matratzenlager auf den Schlaf wartete, da fiel ihr wieder die Familie jenes Mannes ein, die unter einem Schuttberg oder hinter einer der Mauern liegen könnte, vielleicht an der Stelle, wo sie mit ihren Kindern Nacht für Nacht geschlafen hat, und sie wusste nichts davon. Auf einen erholsamen und die Kräfte stärkenden Schlaf wartete von denen keiner mehr, weil der endlose Schlaf, der vollkommene, sie bereits vor langer Zeit eingeholt hatte. Und plötzlich begann sie zu frieren und sich zu fürchten, und ihre Zähne schlugen aufeinander, dass sie vom Fleck weg nach draußen hätte laufen können, wenn es möglich gewesen wäre.

Ja, der Vater ist ein Segen, denkt sie voller Inbrunst. Gott schütze ihn und die Mutter, und lass es so werden, dass wir alle wieder fröhlich sein können!

Anderntags ist es kalt, in der Nacht hat starker Regen eingesetzt. Der Vater hat sich davon nicht abhalten lassen, wieder auf Tour zu gehen, wie er zu seinen Erkundungsgängen sagt. Gestern hat er einen Beutel Kleie aufgetrieben, die die Großmutter mit braunem Zucker und Wasser verrührte. Aus diesem Kleister, Teig will sie dazu nicht sagen, werde sie für die Kinder etwas Ähnliches wie einen Kuchen backen. Die drei Enkel stehen bei ihr und sehen zu.

„Jetzt, da wir einen Backofen haben, kann ich auch wieder etwas für euch zaubern! Na, Köstlichkeiten sind das nicht – aber wir sind ja bescheiden geworden, nicht wahr?“ Zuerst legt sie reichlich Holz in die Glut, dann schiebt sie das Blech in den Ofen. Sie setzt sich daneben, auf den Stuhl mit den abgesägten Beinen, zieht das Marlenchen auf den Schoß und erzählt den Kindern, wie es bei ihren Eltern zuging, als sie selbst noch ein Kind war.

Im Flur hört sie den Großvater. Und noch bevor er in die Stube tritt, ruft er, dass er die Urschel brauche. Sie müsse sofort, ohne Aufschub, mit ihm gehen!

Die Großmutter findet, dass er stört. Die Jungen spielen zu ihren Füßen mit leeren Streichholz-und amerikanischen Zigarettenschachteln, die Enkeltochter schmiegt sich an sie und kann nicht genug von dem hören, was sie zu erzählen weiß. Es ist gemütlich und warm in der Küche, und sie ist voller Duft von dem gebackenen Kleiekuchen. „Was gibt’s denn jetzt schon wieder?“

„Ich habe Bettgestelle und Kissen! Die sind sogar noch bezogen. Im Kleiderschrank habe ich auch noch Laken und Bezüge gefunden! Dass sich dafür noch keiner interessiert hat! Die Urschel muss mir helfen. Wo steckt die denn?“

Die vernagelte Tür zum Balkon geht auf. „Hier bin ich.“

„Komm mit!“ sagt der Vater. „Wir können nicht warten, bis andere die Sachen wegschnappen.“

Durch den Regen schleppen Vater und Tochter die Bettgestelle in ihre Wohnung. Vier Betten haben sie, das reiche, meint die Tochter. Von den Eltern habe jeder sein eigenes Bett, für die beiden Jungen reiche das dritte, und sie werde Marlenchen zu sich nehmen oder es auf der Matratze auf dem Fußboden schlafen lassen. Dazu habe sie feines Bettzeug zum Wechseln, ja, allmählich werde es wie früher, bevor die Bombe ihr Haus getroffen habe. Wenn sie nun noch Strom und elektrisches Licht bekommen könnten... „Herz, was willst du mehr!“ ruft sie der Mutter zu.

„Mehr zu essen brauchen wir.“ Die Mutter zeigt auf die am Boden liegenden Jungen. „Die sind schwer satt zu kriegen. Und Feuerholz brauchen wir auch! Wenn es weiter so kalt bleibt, dann wird bald jeder Span aufgebraucht sein.“ Und mehr zu sich sagt sie: „Unten auf der Straße werden die Schwachen und Kranken umfallen wie die Fliegen. Und die kleinen Kinder auch! Das ist immer so gewesen.“ Als sie gestern die letzte Ration Mehl gekauft habe, da hätten die Leute vom Kohlenklauen gesprochen, erzählt sie. Aber hier gibt es keine Bahn, schon gar keine, die Kohlen durch die Weltgeschichte fährt. Es wäre doch schade, wenn sie von den Möbeln das eine oder andere in den Ofen stecken müssten! Der Tochter fällt auf, dass die Mutter, die mit den Enkeln zu tun hat, und die sich jetzt mit den Dingen umgeben kann, die sie einmal besaß, nicht mehr von ihren eigenen Sorgen und Ängsten spricht! Und den Bruno erwähnt sie auch nicht mehr. Ob sie nicht mehr an ihn denkt?

Dicht beim Fenster, dass er abkühlen kann, steht ihr Kleiekuchen, ein brauner, flacher Fladen, der so hart ist, dass nicht einmal die Tochter davon essen will, weil sie um ihre Zähne fürchtet. Die Großmutter weiß sich zu helfen: sie hat eine Blechtasse mit Malzkaffee vor sich auf dem Tisch und wird ihn Stück für Stück darin einstippen.

Plötzlich fahren sie zusammen: Unten im Flur ruft jemand. Sie sind darüber dermaßen erschrocken, dass sie die Kinder wie zum Schutz auf den Schoß nehmen und sich so still verhalten, als wäre im ganzen Haus nicht eine Menschenseele versteckt.

„Es ist eine Frau“, flüstert Ursula in Achims Haare. „Eine Frau ist keine Gefahr. Ich sehe nach!“

„Bist du verrückt? Du bleibst sitzen!“ Die Großmutter hat nach dem Feuerhaken gegriffen. „Ein Weib ruft, und ein Kerl mit einer Keule steht im Winkel und schlägt zu.“

Wieder wird gerufen, und diesmal ist es Ursula Andreaes Name. „Ich gehe!“ Ursula entriegelt die Tür und nimmt der Mutter den Feuerhaken weg und geht in den Flur. Gleich danach steht sie mit einer fremden Frau in der Stube. Es ist die Kriegswitwe mit den fünf Kindern. Obwohl es dunkel ist, ihre Blässe ist zu erkennen, sie leuchtet geradezu von innen heraus. Sie geht zu den beiden Frauen und gibt ihnen die Hand und stellt sich vor: „Mein Name ist Gresshage. Käthe Gresshage. Ihre Tochter wird mich noch kennen. Wir waren sozusagen Nachbarn, als sie noch drüben im Keller wohnte...“

Die Großmutter gießt Käthe Gresshage eine Tasse Kaffee ein und legt ihr ein Stück vom flachen, harten Kuchen neben die Tasse, den Frau Gresshage nicht isst, sondern für ihre Kinder einsteckt. Sie sei in Sorge, erzählt sie, ihr Zweitjüngstes, der Berni, sei vor einigen Tagen von einer Mauer gefallen, und jetzt liege er da und wimmere und weine Tag und Nacht.

„Ich weiß keinen Rat mehr! Was soll ich machen?“ klagt sie und wischt mit dem Ärmel über ihre Augen.

Die anderen wissen es auch nicht. Nach längerem Nachdenken rät der Großvater: „Gehen Sie zum Doktor Morgenthal. Der lässt wieder Patienten kommen. Was der als Bezahlung nimmt, das weiß ich nicht. Aber wenn ich kann, werde ich Ihnen dabei helfen...“

Frau Gresshage schluchzt auf und küsst dem Großvater die Hand. „Ich sag’s ja: Die braune Bande hat vieles, sie hat fast alles zugrunde gerichtet, beim Allmächtigen und den wirklich guten Menschen – da ist es ihnen nicht gelungen...“

Als Frau Gresshage gegangen ist, fragt die Tochter: „Wie willst du ihr helfen, Vater? Wir haben doch selbst nichts!“

„Nun, durch meine Touren, durch den Schwarzmarkt...“ Lächelnd hebt er eine Schulter. „Da werde ich auch für den Doktor etwas finden. Er muss ihr nur sagen, was er gebrauchen kann. Sie ist ein armes Mensch... Fünf Kinder! Da kann ich meine Ohren nicht auf Durchzug stellen.“

„Weil sie dir die Hand geküsst hat?“ neckt die Tochter ihn. Der Großvater bläst verächtlich die Luft aus. „Quatsch!“

Die Großmutter schlägt vor, auch unten an der Haustür einen Riegel anzubringen, dann würde sie sich in diesem Haus sicherer fühlen.

„Das ist kein Problem“, sagt Großvater Gottfried. „Es gibt aber andere Probleme: Was ist, wenn jemand zu uns will? Besuch wie eben? Oder wenn einer von uns nach draußen gegangen ist, und die Kinder versperren die Tür? Wir haben keine Klingel! Soll er rufen? Steine gegen die vernagelten Fenster schmeißen? Das geht nicht. Und wie ist es, wenn einer von unseren Jungen aus dem Feld heimkommt? Was hilft es, dass wir überall Nachrichten an die Wände geschrieben haben, wo sie nach uns suchen sollen, wenn wir sie aussperren?“

Die Großmutter hat sich wieder am Herd zu schaffen gemacht. Der große Topf ist mit Wasser gefüllt, und jetzt, da es kocht, rollt sie Mehlklöße zwischen ihren Handflächen und lässt sie ins kochende Wasser gleiten, das sich augenblicklich weiß färbt.

„Milch haben wir keine“, ruft sie über die Schulter. „Und doch gibt es heute Abend Milchsuppe. Wer kann das schon: Milchsuppe kochen ohne Milch? Das kann nur jemand, der so alt geworden ist wie ich“, sagt sie zu den Kindern. „Und der von klein auf Kriege und Hungerzeiten kennt!“

„Ja, Mutter, die Kinder sind ohne Schaden durch diesen Krieg gekommen“, sagt Ursula. „Einen neuen darf es nicht geben. Zwei Kriege, am Anfang des Lebens und gegen Ende des Lebens, wie ihr beide es erlebt habt, das ist zu viel! Das muss doch einmal durchbrochen werden! Ich hoffe, dass alle aus dem gelernt haben, worunter wir noch lange werden leiden müssen.“

Die Großmutter, die in ihrem Topf rührt, spricht gegen die Wand: „Ein zuchtloser König richtet Land und Leute zugrunde; wenn aber die Mächtigen klug sind, so gedeiht die Stadt.“ Und als sie das gesagt hat, hebt sie den Topf vom Herd und stellt ihn mitten auf den Tisch, wo sie eine wackelige, abgeplatzte Kachel liegen hat. Das verkürzte Tischbein ist vom Großvater repariert worden, so dass die Holzplatte, die darunter lag, weggenommen werden konnte. Die Großmutter blickt mit gefalteten Händen zu den Kindern hin, die immer noch nicht wissen, was sie von ihnen erwartet, doch dann falten sie ihre Hände und warten, dass das Tischgebet gesprochen wird.

Ursula Andreae lehnt am Türrahmen. Die Sonne steht so tief und wirft ihr Licht in die Stube, als stünde sie direkt hinter der kleinen Fensterscheibe. Wie muss es erst sein, wenn die Fenster von oben bis unten Scheiben haben und kein Licht mehr ausgesperrt wird! Drüben im Keller gab es nur Dämmer und Staub, der das wenige, durch die Ritzen einfallende Licht in einen Schleier packte. Heute, als sie an jenem zerschossenen Haus vorbeigekommen ist, hat sie gesehen, dass nach ihr andere Leute in dieses verlassene Loch gezogen sind. Aus den Spalten und Löchern rings um die Tür drang Qualm, und da, wo ihre Kinder spielten, saßen nun andere und klopften Steine. Wahrscheinlich sind es Flüchtlinge, die von einem Ende der Welt zum anderen gezogen sind, um im Keller eines zerbombten Hauses auszuschlafen oder zu sterben.

Schweigend und gedankenverloren sitzt die Großmutter auf ihrem niedrigen Stuhl neben dem Ofen und spaltet Feuerholz zu dünnen Spänen, mit denen der Großvater seine Pfeife anzündet. Unten auf der Straße, die nur noch ein schmaler Pfad zwischen mannshohen Schutthaufen ist, hört sie die Jungen schreien. Auf ihrem Bett liegt Marlenchen. Sie ist eingeschlafen. Wieder einmal ist sie eingeschlafen, denkt die Großmutter. Ein Kind in ihrem Alter dürfte lebhafter sein. Die Jungen waren lebhafter und verschliefen nicht den halben Tag. Aber Marlenchen... Sie wird das Kind besser im Auge behalten müssen!

Die Ruhe in der Stube wird durch den Großvater gestört. Keuchend schleppt er eine Kiste herein und stellt sie vorsichtig auf den Boden. Die Großmutter sieht nicht auf. „Na, was schleppst du denn wieder an?“

„Komm her und sieh.“

Mühsam erhebt sie sich, und als der Großvater ein Brett anhebt und sie nicht gleich sehen kann, was es ist, sagt er zu ihr: „Ja, dann fass doch einmal hinein.“

Sie holt eines von den Pfeifenspänchen und leuchtet damit in die Kiste und fährt erschreckt zurück. „Was ist das?“

„Ein Festtagsbraten, Mutter, ein Kaninchen, das bald Junge haben wird.“

„Ein Kaninchen!“ Enttäuscht geht die Großmutter wieder an ihren Platz zurück. „Was du uns alles ins Haus bringst! Und wo willst du das Tier lassen?“

„In der Stube drüben, in der die Fußbodenbretter fehlen. Sie steht leer, niemand benutzt sie. Also machen wir einen Kaninchenstall daraus!“

„Ja, ja, heute sind’s Kaninchen, morgen ist es ein Schwein“, sagt sie und wippt auf ihrem niedrigen Stuhl vor und zurück. „Wir haben selbst nichts zu beißen. Womit willst du es füttern?“

„Mit Karnickelsalat!“ lacht der Großvater auf sie herunter. „Der wächst überall. Und Zeit, um welchen zu suchen, Mutter, die habe ich reichlich. Dabei können mir auch einmal die Jungen helfen!“

„Kommt das auch vom Schwarzmarkt?“, fragt die Tochter.

Der Vater, der sich auf die Kiste gesetzt hat, blickt eine Weile schweigend zu ihr auf. Dann nickt er unmerklich und sagt: „Natürlich. Woher soll es denn sonst kommen? Glaubst du, es wäre mir nachgelaufen? Oder dass ich bei meinen Touren klauen gehe?“

„Na, meinetwegen. Du machst sowieso, was du willst. Das Fenster drüben ist noch offen, der Wind bläst herein. Aber es ist ja nur ein Karnickel, das es in dem zugigen Zimmer aushalten soll. Mich fragst du ja nicht!“ Mit abwehrenden Armbewegungen gibt Ursula dem Großvater zu verstehen, dass das Gespräch für sie beendet ist.

Anderntags stehen in der leeren Stube mehrere Käfige für das Kaninchen und seine fünf Jungen. Und fortan ist der Großvater mit einem Sack zu sehen, in dem er Löwenzahn und Gras sammelt für seine stummen Kostgänger, wie er zu den Kaninchen sagt. In der ersten Zeit saßen Ursulas Kinder stundenlang in diesem kalten und zugigen Zimmer vor den Käfigen, bis sie hinausgejagt wurden, weil sie sich den Schnupfen holten.

Heute ist wieder Frau Gresshage gekommen. Sie ist mit ihrem Berni bei Doktor Morgenthal gewesen, erzählt sie, und er habe ihr gesagt, es sei für ihn selbstverständlich, dem Kind zu helfen, es wenigstens von seinen Schmerzen zu befreien. Der Doktor habe Bernis Schulter einrenken müssen, erzählt sie weiter, das habe dem Jungen sehr weh getan, und er habe gebrüllt, dass es ihr eiskalt den Rücken heruntergelaufen sei, aber ihm sei geholfen worden.

„Hat er dafür was haben wollen?“ fragt die Großmutter.

Frau Gresshage lächelt still vor sich hin, dann sagt sie: „In solchen Zeiten, sagte der Doktor, müssen wir zusammenstehen, weil wir einander brauchen. Und dann sagte der Doktor auch noch, wir sollen alle zum Gesundheitsamt gehen und uns gegen Krätze behandeln lassen. Nein, nicht auf dem Amt in der Stadt, das liegt ja in Trümmern! Wir aus diesem Viertel müssen in die ‚Kaffeemühle’, Sie wissen doch, in den kleinen kreisrunden Erdbunker draußen am Rand des Luisenparks. Alle müssen hin, Männer und Frauen und auch die Kinder. – Sagen Sie, Frau Andreae: Wie kommt der Mensch an Krätze?“ Sie schüttelt sich. „Die hat bestimmt das fremde Volk mitgebracht, das jetzt überall die Straßen verstopft und das in jeden Winkel kriecht.“

„Wer sich nicht richtig sauber hält, der kriegt Krätze!“ weiß die Großmutter. „Und wir Hiesigen können uns ebenso wenig sauber halten wie die, die mit ihren Handwagen unterwegs sind! Mit Läusen und Flöhen ist es nicht anders!“

„Hören Sie auf!“ ruft Frau Gresshage und schüttelt sich wieder. Sie legt beide Arme um den Körper, als wäre ihr kalt geworden. „Bei dem Wort Krätze juckt es mich gleich am ganzen Körper. Und dann kommen Sie auch noch mit solchem Zeug: Läuse und Flöhe!“

„Wann müssen wir dahin?“ fragt die Großmutter.

„Heute, morgen... Wann sie wollen oder können.“

„Gut, dann lassen wir uns mal behandeln.“ Sie schiebt den Ärmel hoch und betrachtet ihren Arm. „Noch habe ich keine Krätze, aber Vorsorge ist besser als heilen. Sagt man nicht so bei den Ärzten?“

Noch am selben Tag ist Ursula Andreae zur „Kaffeemühle“ gelaufen und hat sich erkundigt, was zu tun sei. Nichts sei zu tun, sie müsse nur kommen. Am Nachmittag sei der Andrang groß, da wäre es besser, wenn sie als Mutter von drei Kindern mit ihrem Nachwuchs am Vormittag käme, sagte man ihr.

Sie ist am nächsten Vormittag gegangen. Es regnete, ein kalter Ostwind blies. Vor dem Erdbunker drängten sich die Menschen, vorwiegend Mütter mit ihren Kindern. Auch ein paar Männer waren darunter und Alte. Sie standen im Windschatten und warteten darauf, in den Bunker gerufen zu werden. Wer behandelt aus der Tür kam und nach Hause durfte, der lachte nur und winkte ab und floh gleichsam aus der „Kaffeemühle“.

Nachdem Ursula Andreae sich und die Kinder angemeldet hat, müssen sie warten. Weil es kalt ist, dürfen sie drinnen bleiben. Und es dauert nicht lange, bis sie aufgerufen werden. „Die Frauen und Mädchen nach links! Die Jungen gehen nach rechts!“, kommandiert eine abgemagerte bebrillte Frau, die immer, wenn sie jemanden aufruft, ihre Hände in die Kitteltaschen steckt. Auch der Raum ist kalt und rings an den Wänden stehen Menschen mit gesenkten Köpfen. Alle sind nackt, und viele glänzen vor Nässe und versuchen, ihre Blöße zu bedecken. Sie sind darauf bedacht, in den Bereich eines der wenigen Heizöfchen zu gelangen, um so schnell wie möglich trocken zu werden und nach draußen an die frische Luft zu kommen.

Mitten im Raum steht eine unförmige Zinkwanne, die fast bis an den Rand mit einer trüben, milchigen Brühe gefüllt ist. Dahinein muss der zu Behandelnde steigen. Der Arzt hinter der Wanne taucht seinen dicken Quast in die Brühe und pinselt die Menschen vom Kopf bis an die Beine mit der Brühe ab, wobei die Magere ihm behilflich ist, indem sie den zu Behandelnden dreht, seine Arme weit in die Höhe zieht, damit seine Achseln bepinselt werden können, oder sie zieht zu diesem Zweck auch einmal die Gesäßbacken eines Dicken auseinander. Aber Dicke sind so gut wie nicht zu sehen.

„Fertig! Nicht abtrocknen, sondern antrocknen lassen!“ kommandiert sie und winkt den nächsten in die Wanne. Die Jungen ließen diese Prozedur still an sich geschehen, aber das Marlenchen brüllte, dass die Ärztin, die die Frauen behandelte, ungehalten den Quast eintauchte und dem Kind damit einen Schwall Brühe über den Kopf goss. „Was brüllst du?“ giftete sie. „Dir passiert nichts. Schrei, wenn du draußen bist! Unsere Nerven werden hier schon genug strapaziert!“

Die Magere gibt den Jungen zu verstehen, dass sie sich wieder anziehen dürfen. Draußen fragt Achim, dem vor Kälte die Zähne klappern: „Warum haben die uns angestrichen?“

„Weil jetzt alles schöner wird in Deutschland“, sagt die Mutter. „Und da müssen auch wir schöner werden!“

„Du, da stand ein Mann... So groß!“ Achim zeigt mit beiden Händen, wie groß das gewesen ist, was er gesehen und ihn beeindruckt hat. Die Mutter tut so, als hätte sie nichts gehört und auch nicht hingesehen, sie wuschelt nur seinen Kopf, dann drückt sie den Jungen an ihre Hüfte.

Die Großmutter lauert hinter der kleinen Fensterscheibe auf ihre Tochter und die Kinder. Sie ist gespannt, was es mit der Vorsorge auf sich hat. Oben steht sie an der Treppe und fragt durchs hallende Treppenhaus: „Na, wie war’s? Was machen die mit den Leuten?“

„Die Füße werden gebadet, und du wirst angestrichen!“ rufen die Jungen zurück, die über das Unangenehme schon hinweg sind. Und als die Tochter ihr später schildert, wie es dort zugeht, ist die alte Frau entsetzt: „Und selbst wenn ich die Krätze hätte – so etwas mache ich nicht mit! Mich vor anderen ausziehen? Niemals! Ja, wo sind wir denn!“, empört sie sich.

Nachdem sie sich beruhigt und eine Nacht darüber geschlafen hat, ist sie mit ihrem Mann am anderen Tag doch zur „Kaffeemühle“ gegangen.

Pfingsten ist vorüber, und seit etlichen Tagen ist das Wetter schön und überaus warm. Die Leute erzählen sich, dass es vorerst so bleiben werde. Der Großvater ist seit dem Morgen schon auf Tour, und die Großmutter hat einen Stuhl in das Kaninchenzimmer getragen und sich in die Sonne gesetzt. Hier sehe ich so gut wie keine Trümmer, sagte sie zur Tochter. „Und wenn ich die Augen schließe, dann ist es, als wäre ich in Thüringen auf einem Berg. So warm, so still und friedlich war es, als ich meine Großmutter in einem engen Tal in Thüringen besucht habe. Wir saßen am Abhang eines Berges, unter uns der Ort zwischen Feldern und Grünem. Da habe ich zum ersten Mal Frieden und Glück erfahren, denn ich war noch ein sehr junges Ding, was habe ich von der Natur wahrgenommen? Feld und Wiese, das bedeutete mir nur Arbeit...“, erzählt sie und schließt die Augen und lässt den Windhauch über ihre nackten Arme streichen. Im Sommer sind Fenster ohne Scheiben recht praktisch, denkt sie. Da hast du immer frische Luft und fühlst dich, als wärst du in einem herrlichen Garten. Ursula ist gegangen, neben sich hört sie die Kaninchen durch ihren Käfig hoppeln. Manchmal schlägt der junge Bock mit den Hinterbeinen auf den Boden. Anfangs hat sie das erschreckt, jetzt weiß sie, dass sein Poltern nichts zu bedeuten hat. Einmal ist die Tochter an die Tür gekommen, und als sie die Mutter immer noch wie in Betrachtung auf ihrem Stuhl sah, ist sie wieder leise gegangen. Bis zum Mittag sitzt die alte Frau im Kaninchenzimmer, und irgendwann hat sie sich die Kinderkleidung vorgenommen, die der Großvater für die Enkel aufgetrieben hat, um sie auszubessern. Die Ärmel an den Pullovern sind verschlissen, so dass Ursula Andreae sie auflösen und neu stricken wird. Die Bündchen wird sie mit anderer Wolle vervollständigen.

Ursula hat die vernagelte Balkontür geöffnet. Licht, so viel Licht in dieser Stube! Auch sie sitzt dicht bei der Tür und lässt sich von der Sonne bescheinen. Im Kaninchenzimmer mag sie nicht lange sitzen, da stinkt es. Der Großmutter macht das nichts aus, sie sagt selbst, sie könne nicht mehr gut riechen. Jetzt ist sie müde geworden und droht einzuschlafen. Vorhin wäre sie beinahe vom Stuhl gefallen.

Im Flur hört sie schwere Schritte. Der Vater ist es nicht, der geht trotz seines Alters leichfüßiger. Jemand klopft leise an die Tür. Für ungebetene Gäste hat der Vater eine Dachlatte hinter die Tür gestellt und geraten: „Keine Hemmungen, schlagt nur zu! Wenn ihr es nicht macht, macht es der Ganove!“

Lautlos huscht Ursula zur Großmutter ins Kaninchenzimmer. „Da ist jemand an der Tür“, flüstert sie.

„Wir sind nicht da“, sagt die Mutter und schließt wieder die Augen. Ohne sich zu rühren fragt sie: „Hat er Laut gegeben?“

„Nein. Es ist ein Fremder. Ein Mann. Mutter, so geht nur ein Mann, der schweres Schuhwerk trägt.“

Und noch einmal sagt die Mutter: „Lass ihn gehen, wir sind nicht da!“ Aber sie dreht sich doch auf ihrem Stuhl um und beobachtet die Flurtür. Und als heftiger geklopft wird, steht sie auf und bewaffnet sich mit der Dachlatte.

„Mach auf“, sagt sie. „Aber vorsichtig. Du nimmst den Schürhaken, ich die Latte. Leise, leise.

Ich stelle mich hinter die Tür und sollte er...“ Sie lässt die Dachlatte durch die Luft sausen. „Dann kriegt er gleich eins über seine Rübe!“

Auf Zehenspitzen schleichen sie an die Tür, und die Mutter baut sich dahinter mit erhobener Latte auf. „Mach auf!“ flüstert sie.

Ursula Andreae fragt, den Mund dicht am Türspalt: „Wer ist denn da?“

„Willst du mich nicht reinlassen?“, fragt der Fremde. „Ursula, mach auf, dann wirst du’s sehen!“

Noch ein kurzer Blick zur Mutter, die ihr zunickt, dann öffnet Ursula, den Feuerhaken hinterm Rücken, entschlossen die Tür. Vor ihr steht ein verdreckter, ein verwahrloster Soldat. Die Mutter hat ihn sofort erkannt. „Bruno!“, schreit sie und lässt die Latte fallen. „Bruno! Bruno!“ Und aufschluchzend hängt sie an seinem Hals. Einmal hält sie ihn ein Stück von sich, um ihn betrachten zu können, dann schlingt sie wieder ihre Arme um ihn. Sie lacht und weint gleichzeitig, und immerzu flüstert sie seinen Namen.

„Ihr steht hinter der Tür wie eine Räuberhorde“, sagt Bruno, der versucht, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. „Der Hitler hätte euch zwei auf den Feind loslassen sollen!“, lacht er. „Ihr zwei seid geradezu verwegen geworden. Vor euch muss man auf der Hut sein!“

Die Mutter zieht den Sohn in die Wohnung, und jetzt erst entdecken sie die beiden Jungen auf der Treppe, die still zugesehen haben. Erst haben sie sich mit der Großmutter gefreut, aber als die zu weinen anfing, schämten sie sich und wollten gehen.

Ihre Mutter mäkelt: „Was seid ihr nur für Wichte, ihr! Steht hinter dem Onkel Bruno und sagt nichts! Konntet ihr euch nicht denken, dass wir Angst bekommen haben, als es an der Tür klopfte? Wenn der Onkel Bruno ein Fremder gewesen wäre, der unsere Sachen wegtragen wollte! Warum habt ihr nicht gerufen?“ Darüber können die Jungen nur kichern. Sie wissen vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollen. Sich gegenseitig stoßend stürmen sie wieder nach draußen.

Mutter und Sohn sitzen am Tisch, und die Mutter hat seine Hände genommen und streichelt sie immerzu, dann hält sie sie fest und sieht ihn an und sagt: „Was du für harte Hände bekommen hast! Hart und rauh. Na, Bruno, jetzt bist du da! Gott sei Dank. Ja, Gott sei Dank!“ Und immer wieder zittert ihr Kinn und füllen sich ihre Augen mit Tränen.

Ursula hat ihm Brote gemacht und Kaffee gekocht, und als Bruno den Malzkaffee riecht, sagt er zur Schwester: „Es ist wie in den Cafés vor dem Krieg. So etwas Feines habe ich schon lange nicht mehr gerochen...“

„Was hast du denn getrunken?“ fragt die Mutter.

„Was wohl? Wasser, egal, wo es sich fand.“

„Ach, du armer Kerl. Einfaches Wasser!“

„Mutter, was wunderst du dich? Hatten wir vielleicht Bohnenkaffee oder Wein?“, fragt die Tochter verständnislos. „Ich habe drüben im Keller wochenlang nichts anderes getrunken als Wasser. Der Muckefuck war für die Kinder. Und gehungert haben wir auch!“

Bruno sieht sie aus den Augenwinkeln an. Die Schwester macht den Eindruck, als trüge sie angestauten Ärger mit sich herum. Sie ist ihm nicht um den Hals gefallen wie die Mutter, sondern hat ihm wie einem Fremden wortlos die Hand gereicht und ist, nachdem sie mit ihren Jungen gezankt hatte, unauffällig verschwunden.

Nachdem sie den Bruder versorgt hat, geht sie mit ihren Strickarbeiten ins Kaninchenzimmer, wo sie ungestört arbeiten kann, wie sie den Bruder wissen lässt, denn der möchte sich wohl zuerst mit der Mutter aussprechen. Für sie beide bliebe noch genügend Zeit, sagt sie, und wenn etwas benötigt würde – sie arbeite nebenan und käme sofort herüber.

Ursula Andreae sitzt untätig am Fenster. Ihre Arbeit liegt im Schoß. Wenn jemand ins Zimmer kommt, dann kann sie sie aufnehmen und Geschäftigkeit vortäuschen.

Jetzt ist der Bruno gekommen, denkt sie, wie lange wird sie noch auf Reinhold warten müssen? Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, dann wird sie den Bruder fragen, was mit den meisten anderen Soldaten passiert ist. Bruno muss etwas über sie wissen, denn er ist selbst Soldat gewesen. Wo sind die Desertierten geblieben? Jene, die nicht in ein Lager geschickt wurden, sondern die man laufen ließ? Und wohin wurden die gebracht, die gefangen genommen wurden? Sind sie noch im Lande? Oder sind sie ins Ausland verschleppt worden? Denn es können nicht Hunderttausende in Gefangenschaft gekommen sein. Leichter ließe sich etwas über Reinhold herausfinden, wenn sie nur wüsste, zu welchen er gehört hat: Zu den Verschleppten, den Desertierten? Wo ist er geblieben? Für die Mutter hat das Warten ein Ende. Aber sie muss weiter die Ungewissheit ertragen. Und das Warten mit dem Bruder an der Seite, ihn hier im Haus, täglich am Tisch zu sehen, das wird schwer für sie sein, das ahnt sie. Ja, sie hat sich gewünscht, dass der Bruder unversehrt heimkehrt, aber an ihn dachte sie anders als an Reinhold. Und wenn sie an Bruno dachte, dann dachte sie in Wahrheit an ihren Mann. Irgendwie kamen in ihrer Vorstellung immer beide gleichzeitig vor: der Bruno für die Mutter, aber Reinhold für sie. Jetzt ist nur der Bruno heimgekehrt.

Der Vater ist gekommen. Sie hört ihn sprechen, leise und unaufgeregt, und ebenso leise antwortet Bruno ihm. Ein wenig lauter fragt er nach ihr: „Wo ist denn die Urschel?“ Die Mutter gibt Antwort. Lange muss sie nicht warten, da steht der Vater bei ihr im Kaninchenzimmer.

„Wird es dir hier nicht schon zu kalt?“, fragt er.

Ursula möchte ihm antworten, aber da ist etwas, das ihr die Kehle zuschnürt, dass sie nicht sprechen kann. Er legt seinen Arm um ihre Schulter, und bei seiner Berührung durchläuft sie ein Zittern, wie beim Schüttelfrost, sie lässt den Kopf nach vorne fallen und weint in ihren Schoß.

Der Vater legt sein Kinn auf ihren Kopf. Sie riecht ihn, er riecht nach Tabak und Kernseife. Früher benutzte er täglich ein Duftwasser, und das hat sie sehr gerne gerochen. Keiner roch wie ihr Vater, der das Vornehme und Edle geradezu ausströmte. Jetzt riecht er wie sie, wie die Kinder und die Mutter und alle anderen – sie riechen nach Kernseife, nach Armut.

„Diese Stunde, Ursula, wird auch für dich kommen“, sagt er. „Bald schon. Die können doch nicht über Jahre die Soldaten festhalten. Das ist viel zu teuer. Ihr Geld ist durch den Krieg aufgebraucht, wie können sie da solche Mäuler füttern?“

Ganz langsam wiegt der Vater sich, und sie muss sich mitwiegen. Lange steht er so bei ihr, bis sein Rücken schmerzt. Er streckt sich und sie hört, wie seine Knochen knacken. Bevor er zu den anderen zurückgeht, tätschelt er ihre Wange und meint: „Urschel, ein wenig Geduld wirst du wohl noch aufbringen müssen. Auch für dich wird es gut werden. Ganz bestimmt. Einer muss ja zuerst kommen. Nun ist es der Bruno...“

Dankbar lächelt Ursula zu ihm auf, ja, das will sie gerne glauben, sie nickt: ja, heute der Bruno, morgen der Reinhold. Nachdem der Vater gegangen ist, bleibt sie noch eine geraume Weile sitzen und beschäftigt sich mit den anzustrickenden Ärmeln. Dann packt sie entschlossen alles zusammen und geht in die Stube, wo die Eltern mit Bruno immer noch um den Tisch sitzen und ihm lauschen, was er vom Kriegsende zu erzählen hat, wie er es erlebte.

Eine Weile hört sie ihm zu, dann ruft sie die Kinder, scheucht sie ins Badezimmer und ist für die nächste Zeit mit ihnen beschäftigt. Als das getan ist, kommt sie wieder an den Tisch. Sie fragt: „Wo wird der Bruno schlafen?“

„Natürlich in meinem Bett“, sagt der Vater.

„Und wo schläfst du?“

„Mit dem Kopf auf dem Tisch. Darin, das weißt du, habe ich Erfahrung“, meint er augenzwinkernd. „Und morgen früh, da gehe ich gleich nach einem fünften Bett auf Tour.“ Er verbessert sich: „Nach dem fünften und dem sechsten. Ich glaube fest daran, dass die Familie bald wieder vollzählig ist! Ja, es wird noch so weit kommen, dass hier so etwas wie ein Hotelbetrieb entsteht“, lacht er. „Na, da kriegt ihr Frauenspersonen noch allerhand zu tun!“

Nun, da die Schwester dazugekommen ist, ist der Bruder wortkarg geworden. Wenn er den Mund aufmacht, dann gibt er Antwort auf eine Frage, die an ihn gestellt wurde, sonst starrt er nur auf die Flecken im Linoleum der Tischplatte. Er wirkt fremd und störend unter den Eltern und der Schwester. Auch die Mutter ist stiller geworden, sie hat wohl alles aus ihrem Sohn herausgefragt; das und die Wiedersehensfreude haben sie müde gemacht. In der Stube ist es dämmerig geworden, fast ist es dunkel. Der Vater zündet die Karbidlampe an und die Mutter füllt Eimer für Eimer den Waschkessel, damit der Sohn sich baden kann. „Erst wirst du den äußeren Dreck abwaschen, Junge.“ Und als das getan ist, beugt sie sich zu ihm und meint: „Du hast wohl mehr als nur Dreck und Staub abzuwaschen.“ Sie geht wieder an den Ofen, um ordentlich Holz nachzulegen.

Der Bruno sieht an sich herunter. „Das, Mutter, sieht man nicht. Ja, wenn man das andere auch wie Dreck und Staub abwaschen könnte! So einfach geht das nicht, Mutter. Der andere Dreck ist zäh, der sitzt tiefer, der klebt nicht nur an Kopf und Füßen. Der klebt hier drinnen.“ Bruno schlägt seine Faust gegen Schläfe und Brust. „Davon sauber zu werden, das dauert.“

Jetzt meldet sich die Ursula, die nicht hören mag, wie der Bruder zur Mutter von Schuld spricht. „Es ist ganz unmöglich, dass der Vater am Tisch schläft. Wir sind drei Erwachsene. Wenn jeder ein Kind zu sich ins Bett nimmt, dann braucht sich keiner von uns die Nacht am Tisch um die Ohren zu schlagen!“

„Ich kann nicht mit einem Kind schlafen!“ wehrt sich der Vater. „Wenn ich am Tisch schlafe, dann bin ich ausgeruhter, als wenn mir einmal ein Kopf, dann ein Knie in den Bauch gestoßen wird. Nein, nein: ich schlafe hier!“ Er lässt seine flache Hand auf die Tischplatte fallen. „Und morgen, Urschel, hat auch der Bruno sein Bett. Ich weiß, wo ich danach suchen muss! Nicht nur der Bruno bekommt sein eigenes Bett, auch die Jungen. Und eins ist für...“ Er spricht vor der Mutter und dem Bruder nicht aus, wem er das Bett besorgen will. Er sagt: „Wie es mit Matratzen aussieht, das weiß ich nicht. Dann werden wir uns eben mit Strohsäcken behelfen. Als Kind hatte ich auch nur einen Strohsack!“

Ursula hilft der Mutter, Brunos Badewasser in die Wanne zu schütten. Das hat der Bruno tun wollen, aber die Mutter hat es nicht zugelassen. So mager, so schwach, wie er sei, da könne sie nicht zusehen, wie er sich mit dem Wasser abmühe.

Der Bruno lässt sich Zeit im Bad, so dass die Großmutter fürchtet, er sei in der Wanne eingeschlafen. Einige Male hat sie an der Tür gehorcht, aber sie getraute sich nicht, zu klopfen oder zu fragen. Wartend ist sie auf ihren Platz neben dem Ofen zurückgegangen, und wenn der Großvater sie ansieht, dann blickt sie etwas verschämt weg. Ursula ist ins Bett gegangen. Der Vater sitzt am Tisch und kämpft gegen den Schlaf an. Er möchte nicht vom Sohn mit Armen und Kopf auf der Tischplatte gesehen werden. Die stinkende Karbidlampe mit ihrem kalten Licht hat er weit von sich geschoben, so dass sein Gesicht im Dunkel liegt. Er wartet wie die Mutter darauf, dass der Bruno endlich aus dem Bad kommt. Als drinnen etwas umgestoßen wird, erhebt sich die Großmutter, um dem Bruno das Bett aufzudecken. „Na endlich“, murmelt sie.

Da steht der Bruno auch schon in der Tür, das Handtuch hat er um die Lenden geschlungen. „Das Bad hat dir gefallen, Bruno, du hast dir viel Zeit gelassen. Das Wasser ist wohl kalt geworden“, sagt die Mutter und streckt die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn zu seinem Bett führen. Der Bruno bemerkt das nicht, er bleibt zwischen Küche und Flur stehen, weil er nichts sehen kann. „Wo seid ihr? Ihr habt es sehr dunkel.“

Die Mutter fasst nach seinem Arm. „Hier bin ich, Junge. Du musst ins Bett, wenn du dich nicht erkälten willst.“

„Nach dem, was ich hinter mir habe, Mutter, werde ich mich hier in der Wohnung nicht erkälten. Im Wasser war es so gemütlich, dass ich gleich eingeschlafen bin.“

Ja, das versteht die Mutter. Leise öffnet sie die Stube, in der ihr Bett steht und schüttelt noch einmal das Oberbett auf. Sie legt ihm ein Flanellhemd hin, das der Großvater an kühleren Tagen trägt. „Zieh das an, Bruno. Das ist wärmer als dein Soldatenhemd. Ein Nachthemd für dich habe ich nicht. Brauchst du noch eine Decke dazu? Es ist nicht warm hier.“

„Mutter, ich bin es schon lange nicht mehr gewohnt, in einem Bett zu schlafen. Ein Deckbett hatten wir nicht – uns hat der Himmel zugedeckt...“

„Mein armer Junge! Jetzt hat das Elend ein Ende, und alles wird besser.“ Wie gut, dass es dunkel ist und der Bruno nicht sehen kann, dass sie wieder weint. Ihr ist danach, ihn in die Arme zu nehmen, aber das würde er nicht verstehen. Um etwas zu sagen, brabbelt sie vor sich hin: „In dieser Ecke schlafe ich... Hier zieht’s nicht durchs vernagelte Fenster... Da drüben schläft der Vater... Du erinnerst dich? Der Vater braucht immer frische Luft, auch heute noch... Gute Nacht, mein Junge.“

„Gute Nacht, Mutter.“

Die Mutter ist noch einmal zu ihm gegangen und hat nachgesehen, ob er gut zugedeckt ist, dann hat sie sich ausgezogen. Wie gut sie sich in der Dunkelheit zurechtfindet, wundert sich der Bruno. Sie läuft sicher durch den Raum, ohne irgendwo anzustoßen. Bruno hört, wie sie vor dem Bett auf die Knie geht. An diesem Abend betet sie lange, und manchmal seufzt sie. Alt ist sie geworden, denkt er. Und ihr Bemuttern hat sie noch immer nicht abgelegt! Ob sie es mit der Ursula ebenso macht? Die war den ganzen Abend über einsilbig, geradezu abweisend und hat ihn nicht nach Reinhold gefragt, wie sie es sonst machte, wenn er auf Heimaturlaub kam.

Bruno hört, wie die Mutter ihre Gebete murmelt, wie sie sich mühsam erhebt und ins Bett legt. Und wieder seufzt und stöhnt sie, als hätte sie Schmerzen. Unter ihr knarrt die Bettstelle, aber was ist das schon! Er liegt warm und sicher und braucht sich nicht vor irgendwelchen Überraschungen oder gar Bedrohungen zu fürchten.

In der Nacht schrecken alle auf, weil der Bruno sich die Seele aus dem Leib schreit. Der Vater und die Ursula laufen in die Schlafstube, der Vater leuchtet mit einem seiner Pfeifenspäne – vor dem Bett liegt der Bruno auf dem Boden und sieht entgeistert um sich. Neben ihm kniet die Mutter, die ihn umklammert und zu beruhigen versucht.

„Er hat schlecht geträumt“, sagt sie, seinen Kopf streichelnd, den sie in ihrem Schoß liegen hat. „Ist das ein Wunder? Nach allem, was der Junge durchgemacht hat! Legt euch wieder hin, es ist nichts, nur ein schlechter Traum...“

„Du kannst einen aber auch erschrecken“, sagt Ursula. „So zu schreien, nur weil du schlecht geträumt hast! Ich dachte, dich hätte jemand überfallen.“

„Es ist das Bett“, meint Bruno. „In einem Bett kann ich nicht schlafen, so weich, so warm...“

„Ja, wo kannst du denn schlafen, Junge?“ Die Großmutter wirft ihren Zopf nach hinten, der dem Bruno ins Gesicht zu fallen droht.

„Auf dem Boden. Mutter, Vater, lasst mich auf dem Fußboden schlafen.“

Die Mutter beugt sich tief über ihn und meint: „Ja, bist du denn ein Hund? Auf dem Fußboden...“

Für jemanden, der Jahre auf dem blanken Boden gelegen habe, sogar auf gefrorenem Boden, für den sei ein Bett so ungewohnt wie für die Katze der zugefrorene Dorfteich, sagt der Vater. „Mutter, lass Bruno auf dem Boden schlafen. Es wird nicht lange dauern, und er wird von allein ins Bett steigen! Hier hast du das Kopfkissen, das Oberbett... Leg dich auf eine Decke, der Boden ist kalt. Und jetzt: Gute Nacht!“

„Gebt mir Zeit, ich muss es wieder lernen, normal zu leben. – Vater, mir wäre wohler, wenn du in deinem Bett…“

„Lass mal, Bruno. Da wo ich geschlafen habe, drüben am Tisch, da habe ich nicht so fürchterliches Zeug geträumt, wie du. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Vater.“

Der nächste Tag beginnt mit Dunst, als hätte es des Nachts geregnet. In der Frühe ist der Vater auf Tour gegangen, um nach Betten zu sehen. Er ist auch fündig geworden, und mit Brunos und Ursulas Hilfe kommen noch drei Bettstellen ins Haus, dazu eine Matratze.

„Wozu denn drei Betten?“ fragt die Großmutter. „Willst du ein Hotel aufmachen?“

„Na, weißt du, wer noch alles kommen kann?“

Die Großmutter wendet sich ab und lässt ergeben ihre Hand gegen die Hüfte klatschen. „Du hast immer zusammengehamstert, was zu hamstern war, du eigensinniger Dickschädel, du!“

„Oft hat sie zu nörgeln über das, was ich heranschaffe“, sagt der Vater zum Bruno. „Hinterher ist sie mir dankbar dafür. Aber glaube nicht, dass sie mir das auch nur ein Mal sagt!“ – und zur Großmutter gewandt: „Brunos Bett wird in unserer Schlafstube aufgestellt, die beiden anderen lagern wir erst einmal im Kaninchenzimmer.“

„Zu den beiden Betten fehlt noch etwas“, versucht die Großmutter abzulenken.

„Ja, ja, die Strohsäcke. Mutter, die kommen, wenn es so weit ist.“

Am späten Vormittag ist der Dunst verschwunden, und es sieht so aus, als würde es schwül, so dass die Großmutter in allen Räumen die Fenster geöffnet hat, um ein wenig Durchzug zu haben. Die Kinder sind auf der Straße, auch das Marlenchen, das beim Spielen wenig Ausdauer zeigt und meistens müde herumsitzt. Den Jungen hat die Großmutter verboten, in die Trümmer zu klettern. Das sei gefährlich, weil etwas einstürzen könnte. Um zu sehen, ob sie gehorchen, läuft sie hin und wieder auf den Balkon und sieht nach. Nein, sie beschäftigen sich vor der Tür und stapeln Steine auf.

Die Erwachsenen sitzen um den Tisch und trinken Kaffee, zu dem die Großmutter etwas Zucker spendiert. Sie hat nur Augen für Bruno, auch würde sie gerne ihre Hand auf seinen Arm legen, aber das wagt sie nicht, weil der Sohn sie deswegen aufziehen könnte.

Der Vater fragt: „Dann bist du gar nicht in Gefangenschaft gewesen, Bruno?“

Doch, doch, er sei in amerikanische Gefangenschaft gekommen, erzählt Bruno. Aber seine Geschichte habe, ganz anders als bei den Kameraden, eine gute Wendung genommen:

„Mein letzter Einsatz ist in Berlin gewesen. Wir sollten die Reichshauptstadt mit dem Führer vor der roten Flut aus dem Osten schützen. Alte Männer und junge Burschen, die besser den Konfirmandenanzug als die Uniform angezogen hätten, standen hilf-und ratlos unter Beschuss und rannten in die Trümmer und haben sich vor Angst die Hosen vollgeschissen, bis es schließlich hieß: Der Russe ist weit in Berlin vorgedrungen und kämpft sich zum Führerhauptquartier durch. Das bedeutete: Häuserkampf! Und alles, was noch laufen konnte, hat das einzig Vernünftige getan: Reißaus genommen! Nach Westen, nach Westen, das hatte sich in die Köpfe gebrannt! Jeder wollte sichergehen und ungefährlich aussehen, und das hieß, zuallererst Hitlers Siegerdrillich loszuwerden. Also wurden die Wohnungen nach Männerkleidung durchsucht. Und wer etwas fand, der zog es auf der Stelle an und gab Fersengeld. Nach Westen, so hämmerte es in unseren Köpfen.“ –

„Ja, wir kamen nach Westen“ erzählt Bruno weiter, „wir kamen auch über die Elbe und liefen dem glücklich in die Arme, von dem wir in die Arme genommen werden wollten: dem Amerikaner. Ja, der schien sich über die Sympathien zu freuen, die wir ihm entgegenbrachten. Er sammelte uns ein, schrieb auf, was wir ihm erzählten, sortierte, wer ihm verdächtig vorkam und sperrte uns wie eine Schafherde in ein Lager, so unvorstellbar groß, dass wir meinten, er würde uns über die ganze Erde verteilen wollen, um sie neu zu bevölkern. Wollte der Amerikaner die aufgegriffenen Soldaten loswerden? Gab es bei ihm Versorgungsprobleme? Oder hatte er ein Abkommen mit Stalin? Wer weiß es. Eines Tages hieß es dann: Marsch auf die LKWs, es geht weiter! Und wohin ging’s? Geradeswegs in die Arme des Iwan, vor dem wir davongelaufen waren. Im Lager ging das Gerücht, dass deutsche Soldaten, die vom Osten herübergekommen sind, an den Russen zurückgegeben werden. Ja, und so war es auch! Wagen für Wagen, vollgeladen mit deutschen Landsern, fuhr an die Elbe zurück. Der Traum von unserer Sicherheit war ausgeträumt.

Mich wollten sie in aller Herrgottsfrühe wegfahren. Es war ein kalter und dunkler Tag, mit tiefhängenden Wolken und leichtem Nieselregen. Wir fuhren nordwärts, und je näher wir der Elbe kamen, umso dunstiger und nebliger wurde es. Der Wagen holperte von einer Anhöhe, die voll Ginstergestrüpp war, das auch noch die ganze Ebene füllte. Da wagte ich es. Ich saß hinten auf dem Wagen an der offenen Klappe. Einmal sprang der Wagen, dass er umzukippen drohte und alle durcheinanderfielen. Und diesen Moment nutzte ich, um mich herausfallen zu lassen. Jemand schrie, ein Ami sprang vom Wagen und kam gelaufen, aber die Kolonne fuhr weiter. Und so sprang er auf den nächsten Wagen auf und fuhr davon. Eine Weile lag ich still und wartete, und als nichts geschah und ich mich sicher glaubte, rollte ich mich ins Ginstergestrüpp. Ich war gerettet. Ich habe die Elbe nicht noch einmal überqueren müssen. Sich von hier nach Westen durchzuschlagen, das war nicht leicht, ich musste ständig auf der Hut sein und mir den Gedanken zueigen machen: du oder ich! Und ihr seht, ich habe durchgehalten und gewonnen!“

„Du oder ich – das klingt nach: Wer seinen Finger zuerst am Abzug hat...“ Ursula wendet kein Auge vom Bruder. Es sieht aus, als suche sie etwas an ihm.

„Es klingt nur so, Schwester, denn ich besaß keine Waffe mehr. Und auch was davor geschehen ist: Meine Hände sind sauber geblieben.“ Er streckt ihr die Hände entgegen, dass sie sehen kann: Es klebt kein Blut daran.

Die Mutter richtet ihren Blick gegen die Stubendecke und flüstert, und dabei verhakt sie ihre Finger ineinander: „Gott sei Dank!“

„Ja, und jetzt bin ich bei euch und habe Angst, mich in ein Bett zu legen“, lacht Bruno. „So verrückt geht es auf der Welt zu. Was so ein Krieg alles anrichten kann! Ist er vorüber, dann zählen sie die Toten. Aber wer zählt die, die verletzt und verstümmelt weiterzuleben haben? Keiner. Ganz zu schweigen von den inneren Verletzungen, die kein Mensch sieht! Die Davongekommenen dürfen sich freuen und dankbar sein, dass sie ihr Leben retten konnten!“

Ursula fragt: „Ob Reinhold eine ähnliche Chance hat? Ihn haben sie auch an die Ostfront geschickt... Vielleicht hat er das machen können, was dir eingefallen ist, Bruno.“

Bruno bezweifelt das, aber er sagt: „Der Reinhold ist gewitzt. Ich bin überzeugt: Der wird die erstbeste Gelegenheit nutzen, um zu türmen, Urschel. Darauf sind die Schlaumeier ja alle aus!“

Ja, Ursula will das glauben und sie lächelt, um zu zeigen, dass sie voller Zuversicht ist. Der Vater, der die ganze Zeit geschwiegen hat, meint: „Wir sollten das Kaninchenzimmer für dich herrichten, Bruno. Du brauchst einen eigenen Platz. Den Karnickeln werde ich eine Bleibe auf dem Balkon bauen. Dann stinkt es auch nicht mehr in der Wohnung.“

„Auf dem Balkon?“ ruft die Großmutter. „Auch im Winter sollen die armen Tiere draußen in der Kälte bleiben? Wir haben manche Nacht noch leichten Frost!“

„Und wie ist das mit den wilden Kaninchen?“ fragt die Tochter.

„Ach, das sind eben wilde“, antwortet die Großmutter. „Die kennen es nicht besser.“

Der Vater hat mit dem Herrichten des Zimmers für Bruno nicht lange gewartet. Aus einem der halbzerstörten Häuser hat er Fußbodenbretter herausgerissen und den Boden des Kaninchenzimmers ausgebessert. Der lange Riss, der in der Wand dieses Zimmers klaffte, wurde vorerst mit Lappen zugestopft. Er werde ihn zuschmieren, wenn er dafür Material bekomme, sagte er. Als Unterlage für Brunos Bett haben die beiden Frauen Säcke zusammengenäht und mit Stroh gefüllt, das der Vater aus dem Pferdestall des Kohlenhändlers geholt hat.

„Geholt, Vater?“ fragt die Tochter belustigt.

„Ja, geholt! Die beiden Pferde haben nichts dagegen einzuwenden gehabt. Ich habe ihnen gesagt, dass es für den Bruno ist!“

In den nächsten Tagen hat sich der Bruno, wie es verlangt wird, bei den Behörden zurückgemeldet, und die schickten ihn umgehend zum Gesundheitsamt, dass er untersucht, entlaust und von der Krätze befreit würde, wenn er welche hätte.

Die Bärin  Roman

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