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Kapitel 2

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Es ist Sommer geworden, und die strenge Kälte des letzten Winters, die bis ins Frühjahr hinein dauerte, die ist nun vergessen. An die Schuttberge auf den Straßen und an die leeren, zerlöcherten Häuser haben sich die Menschen gewöhnt. Gottlob, wir haben überlebt und uns in dieser ungeordneten Welt und dem ungeordneten Leben eingerichtet, so gut es geht, trösten sie sich und sagen: Wir sind überzeugt, dass es einmal besser werden wird, denn so kann es nicht für alle Zeit bleiben. Wer kann ein ganzes Volk knechten und kurzhalten und als Fußabtreter unter sich dulden? Irgendwann hat alles einmal sein Ende gefunden. Das kannst du in der Bibel nachlesen: Ein Menschenleben lang zog Israel durch die Wüste, dann durfte es wieder in normalen und geordneten Verhältnissen leben, sagt Pastor Mildenberg.

Auf den Trümmerbergen versuchen Frauen, die Kriegsspuren zu beseitigen. Schmale Schienen sind gelegt worden, und in Loren wird der Schutt fortgeschafft. Andere hocken dazwischen und putzen Steine, das Klirren und Knirschen ihrer Beile und Hämmer geht von früh bis in den späten Abend und ist zur Melodie eines neuen Beginns geworden.

Auch Ursula Andreae reinigt Steine. Ihre Hände sind rau und rissig geworden, und wenn sie jemandem die Hand gibt, dann spürt er eine derbe Männerhand. Anfangs ging sie krumm, und sie musste sich aufstützen, wenn sie sich erhob. Jetzt ist sie flink und behände, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht als Steine geputzt. Ab und zu steht der Vater bei ihr und berichtet, was er auf seinen Touren gesehen oder erlebt hat. Ihn scheint der Schwarzmarkt zu locken, der im Stadtviertel einen Aufschwung erlebt, dass mancher an nichts anderes denkt als daran, wie er daraus Nutzen ziehen kann. An diesen Orten bekomme man beinahe alles, wonach einem der Sinn stehe, weiß er zu berichten, aber nur, wenn man etwas dagegen zu bieten habe, das einen entsprechenden, oft einen weitaus höheren Gegenwert habe.

„Willst du da mitmischen?“ fragte die Tochter ihn einmal.

„Ich bin doch nicht verrückt und lass mich auf meine alten Tage einsperren! Wen die schnappen, mit dem gehen sie ganz schön rüde um! Ne, Urschel, ich bleibe bei meinen Touren. Damit geht’s uns doch nicht schlecht, oder?“

Nein, schlecht geht’s ihnen nicht, aber gut... Sicher, mancher lebt elendiger als sie und weiß nicht, wie er den Tag überstehen soll oder ob er das nächste Wochenende noch erleben wird. Da sind sie besser dran! Sie haben nicht nur Kaninchen auf dem Balkon, sondern seit einem Monat auch fünf Legehennen. Der Vater hat mit dem Bruno den Balkon so verkleidet, dass die Verschläge für die Tiere von der Straße aus nicht zu sehen sind. Am Luisenpark haben sie einem alten Mann, der seine Hühner in der dritten Etage eines zerbombten Hauses versteckt hielt, alle Hennen gestohlen. Als er die Tiere füttern wollte, da lagen nur noch deren Köpfe im Stall. Vom Bulgaren Nikolai Wasow, der sich zwei Häuser weiter in einer Parterrewohnung eingerichtet hat, wird erzählt, dass der im Bad in der oberen Wohnung ein Schwein hält! Und Abend für Abend steigt er hinauf, um vor der Tür seines Schweinestalls zu schlafen, damit ihm niemand diese Kostbarkeit klauen kann. Es heißt auch, er habe immer ein langes Fleischermesser bei sich, und seine Frau Mascha schlafe, statt mit ihrem Nikolai, mit einem Beil im Bett.

„Ja, es geht aufwärts“, sagt jetzt auch die Großmutter, wenn jemand sie nach ihrem Ergehen fragt. „Du lieber Himmel, man mag gar nicht daran denken, wie es im Frühjahr noch gewesen ist, als wir im Irrenhaus und später im Keller gehaust haben! Da sieht es heute doch anders aus! Eine trockene und warme Stube, in der es schön ist zu sitzen, fließendes Wasser... Doch das Beste ist, dass es keine Sirenen mehr gibt, die uns in den Bunker scheuchen und auch keine Bomben über dem Kopf, stattdessen Nachtruhe und sicheres Schlafen... Was will man mehr! Ja, und der Sohn ist aus dem Krieg heimgekehrt und hat sich wieder eingelebt. Arbeit hat er noch keine, aber das wird sich auch bald ändern! Wenn man sich nur bescheiden kann und ein wenig Geduld aufbringt!“

In den letzten Tagen, seitdem es heiß geworden ist, ist die Großmutter Emma Straeten auch wieder öfter auf der Straße zu sehen. Sie steht bei der Tochter oder wandert zu den anderen Frauen, um mit ihnen zu plauschen und etwas zu erfahren. Sie fühle sich wohl in dieser Wohnung, und sie werde sie nicht mehr verlassen, sagt sie, obwohl sie sich anfangs mit Händen und Füßen gesträubt habe, in die Nähe dieses verfluchten braunen Hauses zu ziehen. Wenn es Zeit ist, eine Mahlzeit vorzubereiten, dann geht sie in ihr Reich zurück, wie sie zu der Wohnung sagt. Und bei diesem oder jenem fügt sie auch schon einmal hinzu: Ein Großreich haben sie uns genommen, aber ein kleines, friedliches, das haben wir gefunden. Und da bin ich gerne!

Sorgen macht sich die Mutter um Bruno. Der langweilt sich und weiß nichts anzufangen mit der vielen Zeit. Wenn man mich doch wieder arbeiten ließe, klagt er, dann wäre ich zu etwas nütze. Aber so! Der Vater schlug vor, er könne ihn auf seinen Touren begleiten oder das eine oder andere reparieren. Doch vor Arbeiten im Haus drückt er sich, und für Vaters Touren sei er auch nicht zu gebrauchen. Geht mir weg! Für so etwas bin ich nicht geschickt genug, redet er sich heraus. Ich brauche andere Arbeit, richtige Arbeit. Dann träumt er am offenen Fenster den Wolken nach und denkt wohl an die Jahre, die ihm genommen worden sind oder was er im Feld erlebt hat.

Die Ursula bemerkte einmal der Mutter gegenüber: „Was dem Bruno fehlt, ist nicht nur Arbeit, dem fehlt auch eine Frau.“

„Eine Frau? Du bist nicht gescheit! Was du so denkst! Der Junge ist immer noch vom Krieg gezeichnet, so etwas vergisst man nicht von heute auf morgen. Er ist schwach und immer noch so mager... Und da kommst du ihm mit einer Frau!“

„Ich komme nicht mit einer Frau, ich meine nur, dass ihm ein Mensch fehlt, der ihm hilft, die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten.“

„Er hat mich. Was braucht der Bruno eine Frau! Und was heißt schlimme Erlebnisse? Haben wir nicht auch Schlimmes erlebt?“

„Dir hat keiner ein Gewehr an den Kopf gehalten!“

„Haben sie das mit ihm gemacht?“

„Frage ihn. Ob es so war, das weiß ich nicht...“

Die Mutter schabt nachdenklich die Möhren. Ja, der Bruno ist anders geworden. Das ist nicht der Junge, der von ihr weg in den Krieg gezogen ist. Es ist möglich, dass er Schreckliches erlebt hat, über das er nicht reden will. Vielleicht klebt doch Blut an seinen Händen, obwohl er es bestritten hat und er ist deswegen so seltsam geworden und unzufrieden und stiert stundenlang in die Luft. Ein Gewehr trägt keiner wie einen Fingerring mit sich herum; Bruno hat es getragen, um damit auf Menschen zu schießen. War es nicht so, dass derjenige, der viele Feinde ins Jenseits beförderte, geehrt wurde und einen Orden nach Hause trug? Nun, wenn Bruno auf Menschen geschossen hat, dann war es Notwehr, weil der andere ihm das Gewehr an den Kopf gehalten hat. Was blieb ihm da übrig als abzudrücken? Nein, nein, Bruno ist ein grundanständiger Mensch, der handelt nicht leichtfertig und tötet, wer ihm über den Weg läuft! Ich bin seine Mutter, ich weiß es! Vielleicht mache ich mir auch unnütze Gedanken. Würde er nicht gleich aufbrausen, dann würde ich schon einmal danach fragen. Ach, es ist alles so gekommen, wie es kommen musste, und das andere wird auch kommen, wie es kommen muss! In den ersten Nächten konnte er nicht in einem warmen, weichen Bett schlafen, und jetzt ist er nicht herauszukriegen. Er wird auch mit dem fertigwerden, worüber er nicht sprechen mag.

Sie sammelt die Möhrenabschnitte zusammen und trägt sie auf den Balkon zu den Kaninchen. Unten steht Bruno bei Rosi Vederle, dieser leichtsinnigen und liederlichen Person, die sich darauf versteht, den Männern den Kopf zu verdrehen und Geld oder anderes aus ihnen herauszupressen. Wenn er nach oben kommt, dann wird sie ihn vor diesem Weib warnen müssen, denn die Frauen auf den Trümmern erzählen sich unglaubliche Geschichten von der Vederle.

Zum Räumen der Schuttberge sind Besatzungssoldaten mit Bulldozern eingesetzt worden. Seit dem frühen Vormittag rattern und dröhnen sie durch die Straße, und mancher kommt vor die Tür gelaufen, um zu sehen, was sie anstellen. Da stehen sie Spalier und applaudieren: Jetzt wird es allmählich schöner werden in der Stadt und besser, mutmaßen sie, und das Normale und die Ordnung werden wieder die Oberhand gewinnen.

Mehr Aufmerksamkeit als die schweren Bulldozer haben zwei Schwarze, die unter der Aufräumkolonne sind: Wenn sie lachen, und sie lachen gerne, dann zeigen sie so leuchtende Zähne, als würde ein Licht sie anstrahlen! Beim ersten Sehen waren die Frauen ängstlich, jetzt sind sie begeistert, vor allem Rosi Vederle, die den Soldaten zuwinkt, die mit einem Schwarzen scherzt und ihm sogar eine Tasse Kaffee hinaufreicht. Nachdem er vorsichtig davon gekostet hat, hat er sich vor Ekel geschüttelt und ihn in weitem Bogen ausspuckt, und er wirft ihr die Tasse zu, dass sie von oben bis unten bekleckert ist. Solchen Kaffee tränken die Sieger nicht, wird die Rosi belehrt. Da musst du mit Bohnenkaffee kommen oder mit anderem guten Zeug! Doch die Rosi scheint sich über die Flecken zu freuen, zeigt sie jedem, der sie sehen will, als wären ihr Nettigkeiten auf Rock und Bluse geschrieben worden.

Alle Soldaten sind freundlich und höflich zu den Frauen, und nach wenigen Tagen haben die ihre Zurückhaltung den Soldaten gegenüber aufgegeben. Ursula fällt es schwer, in diesen Männern Feinde zu sehen. Endlich beginnen sie etwas Gescheites, nachdem sie vor Monaten noch Bomben herbeigeschafft haben. Solche Bulldozer, wie sie hier eingesetzt werden, die schaffen in einer Stunde mehr als hundert Arme in einer Woche, wundert sie sich. Ehe man sich’s versieht, sind etliche Meter Schutt beiseitegeräumt und die Straße ist sauber; da braucht nur mit dem Reisigbesen nachgegangen zu werden.

Eines Tages kommt Ursula aufgebracht nach oben, nachdem sie vor der eigenen Tür ein wenig Schutt beiseitegeschafft hat. „Geh einmal auf den Balkon, Mutter, und guck dir das an!“

„Na, was gibt’s denn, das ich mir ansehen soll?“

Die Tochter reißt die Balkontür auf und die Mutter lehnt sich vorsichtig über die Verkleidung. „Ich sehe nichts.“

„Nichts? Sieh dir den Bulldozer mit dem Schwarzen an. Da drüben! Der Schwarze hat Hilfe bekommen! Und was für welche!“

Die Großmutter sieht Rosi Vederle ausgelassen neben dem schwarzen Soldaten auf dem Bulldozer sitzen, mit wehenden Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel, sie ist leuchtend geschminkt und sehr darauf bedacht, ringsum wahrgenommen zu werden. Und als sie Emma Straeten auf ihrem Balkon entdeckt, winkt sie ihr fröhlich zu. „Was hast du von der erwartet?“ fragt sie die Tochter. „Dass die wie eine läufige Hündin um die Soldaten scharwenzelt, das habe ich schon lange bemerkt. Ihr hustendes und verrotztes Blag lässt sie in einem Kellerloch zurück, dass es wie ein Nachtschattengewächs aussieht – aber sie macht Schönwetter bei den Soldaten! Raucht und lässt sich wohl Schokolade schenken... Was ich dir sage, Urschel: Sie werden ihr noch etwas anderes schenken! Etwas, für das sie Windeln waschen muss!“ Und damit wendet sie sich ab und kehrt in die Küche zurück. Beim Mittagessen sagt sie zum Vater, sie habe das Gefühl, durch den Krieg sei jegliche Ordnung zerstört worden. Die Häuser lassen sich wieder aufbauen, ob es aber möglich sei, die Ordnung in den Menschen, in ihren Herzen und Köpfen wiederherzustellen, daran habe sie große Zweifel. Es gebe keine Zucht, keine Regeln mehr. Jeder mache, was ihm gerade in den Sinn komme. Schamlosigkeit bleibe Schamlosigkeit, so wie Diebstahl und Mord das bleiben, was sie sind.

Schweigend hat der Vater sie reden lassen. Er sitzt über seinem Teller und blickt nicht auf. Und als sie mit ihren Belehrungen zu Ende ist, starrt er auf seinen Löffel und sagt: „Du hast ja recht, Mutter: Totschlag und Mord, das sind große Sünden. Einem anderen etwas aus den Händen zu reißen und damit wegzulaufen, ist auch eine Sünde für den, der nicht um sein Überleben kämpft. Wer bestraft werden muss, der soll seine Strafe bekommen. Weißt du, Mutter, dann habe ich auch Sünden auf mich geladen und habe Bestrafung verdient: Ich habe, damit wir leben können, Möbel und vieles andere aus fremden Wohnungen weggetragen. Ist das kein Diebstahl?“

Die Großmutter ist verdutzt. Ihr fällt nichts ein, sie weiß nicht, was sie ihm darauf entgegnen soll und legt den Löffel hin. Ja, sie schiebt sogar ihren Teller in die Tischmitte, wie ein Kind, das satt oder trotzig ist. Ein wenig triumphierend verzieht der Vater die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er sagt: „Beruhige dich, Mutter. Zu dem, was heute üblich ist, hat ein katholischer Bischof Verständnis gezeigt und es zugelassen...“

„Ich bin nicht katholisch“, sagt die Mutter.

Der Vater lacht. „Nein, das bist du nicht. Aber wenn die Kirche ein weites Herz zeigt, dann sollten wir auch ein...“

„Für Schamlosigkeit, für Laster wird sie kein weites Herz haben“, unterbricht die Großmutter ihn. „Vater, wenn ein Weibsbild einem Neger auf den Schoß kriecht, und die Kinder stehen dabei und gucken zu – für so etwas kann niemand Verständnis haben, auch kein noch so weitherziger Bischof! Woher sollen die Kinder lernen, was man tut oder lässt, was man sagt oder wann man den Mund hält, wenn nicht von den Eltern! Was sind das für Vorbilder? Geh nur auf den Balkon und sieh es dir an...“

„Lass sie. Sie muss das mit sich selbst abmachen.“

Stumm beenden sie die Mahlzeit. Und als sich einmal die Blicke von Mutter und Tochter treffen, zwinkert die Tochter ihr zu: Da hast du recht, das geht zu weit!

Der Vater ist wieder gegangen, die Frauen stehen beim Abwasch. Die Mutter fragt: „Weißt du, wo die Vederle ihr Kind versteckt?“

„Wo? Ich denke, in ihrer Wohnung.“

„Da hockt das arme Wurm tagelang in diesem Loch, während die Mutter sich vergnügt...“

„Vielleicht ist sie deshalb bei den Amerikanern, weil die ihr Brot zustecken oder Fleisch und Süßigkeiten für ihr Kind.“

Das mag die Mutter nicht glauben. „Die verschenken doch nichts“, weiß sie.

„Dem Wolfgang und dem Achim haben sie auch Schokolade gegeben.“

„Was haben die? Und du hast das zugelassen?“

„Ich war nicht dabei. Die Jungen sagen, die Soldaten haben sie herangewinkt, haben ihnen befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen, den rechten Arm zu heben und ‚Heil Hitler’ zu rufen. Und darüber, sagen sie, hätten die Soldaten sich totgelacht. Und zur Belohnung für diesen Spaß bekam jeder ein Stück Schokolade und Kaugummi.“

Über diese Geschichte vergisst die Großmutter, die Teller abzuwaschen. Beide Hände hat sie im Spülwasser, und den Kopf zur Seite geneigt, betrachtet sie ungläubig die Tochter: „Ach, das sagen die Jungen... Heil Hitler – ich glaube das nicht!“

„Sie waren nicht allein, Mutter. Eine ganze Horde hat antreten müssen.“

„Ob unsere Soldaten das in Russland auch getan haben? Der Bruno?“

„Damals war Krieg, Mutter. Und wie hätten die den Kindern Schokolade geben sollen? Die hatten nicht einmal Brot.“

Den Besatzungssoldaten auf ihren Bulldozern traut die Großmutter so etwas nicht zu, aber sie findet Gefallen an dem Gedanken, dass der Bruno, dass deutsche Soldaten an russische Kinder Lebensmittel verteilt haben. Nach einer geraumen Weile meint sie: „Der Bruno, Urschel, der Bruno hat so etwas ganz bestimmt getan...“ Und es sieht so aus, als wollte ihr Kinn wieder zu zittern anfangen.

In der folgenden Zeit sieht man immer mehr Frauen bei den Besatzungssoldaten auf den Bulldozern, und es ist bald niemand mehr da, der sich noch lauthals darüber empört.

„Mutter, ich glaube, ich habe einen wichtigen Menschen kennengelernt“, verkündet der Vater. Er reibt seine rauen Hände, dass es klingt, als reibe er Schmirgelpapier aneinander. Selbst jetzt trägt er seinen steifen Hut. Was ihn gegen Kälte schütze, hat er der Mutter geantwortet, die ihm riet, diese Angströhre in den Schrank zu legen, das schütze ihn auch gegen Hitze, vor allem gegen eine gnadenlose Sonne, wie sie zur Zeit am Himmel stehe. Und etwas anderes habe er nicht zum Schutz für seinen Kopf.

„So? Und wer ist dieser wichtige Mensch?“

„Alois Grabenthin, ein Werkskalfaktor.“

Die Mutter kichert: „Werkskalfaktor... In welchem Werk ist der Grabenthin Kalfaktor?“

„In der Eisengießerei.

„Kalfaktor? Was hat der denn zu tun? Die arbeiten doch gar nicht mehr, heißt es. Haben die Alliierten nicht alles abgebaut und fortgeschleppt?“

„Für einen Menschen wie Grabenthin gibt es immer was zu tun, und wenn er Tag für Tag irgendeine Halle auskehrt! Ganz still, Mutter, steht der Betrieb nicht, und das wenige, was sie herstellen, das holen sich die Engländer oder Franzosen. Aber Grabenthin sagt, so kann es nicht lange bleiben. Deutschland muss wieder auf die Füße kommen. Das wollen auch die Alliierten. Die Produktion wird wieder angekurbelt, sagt er. Ich glaube, er hat recht, Mutter: Millionen Menschen lassen sich nicht in einen Hungerkäfig sperren! Es wird sich ändern, es muss sich ändern! Sollen sie nur nehmen, sagt Grabenthin, um so gründlicher werden wir nachher aufbauen! Alles besser, alles moderner!“

„Ein Schlaumeier ist er, dein Grabenthin, der Herr Kalfaktor. Hatte wohl früher einen wichtigen Posten, bei dem er viel gelernt hat, was? Wie soll es besser und moderner werden? Geht dein Grabenthin zum Wahrsager und lässt sich aus dem Kaffeesatz lesen...“

„Ja, spotte nur! Ich glaube ihm. Mir leuchtet ein, was er sagt“, meint der Vater und langt nach seinem Hut, um zu gehen. „Wenn es über dich kommt, Mutter, dann gefällt es dir zu zweifeln, zu widersprechen und schwarz zu sehen!“

„So, das bin ich! So siehst du mich! Wäre ich so gutgläubig wie du, dann, dann...“ Sie weiß nicht, was dann wäre und lenkt augenblicklich ein: „Sag einmal, könnte der Grabenthin unserem Bruno nicht Arbeit verschaffen? Du siehst, wie der Junge sich vor Langeweile selbst nicht leiden kann. Ich finde, wenn der etwas zu tun kriegt, dann wird er umgänglicher.“ So ganz nebenbei sagt sie: „Die Urschel meint, ihm fehle eine Frau.“

„Was fehlt dem?“ Der Großvater lacht laut, dann meint er: „Ich werde den Grabenthin fragen. Vielleicht eine Arbeit im Pferdestall... Er erzählte mir, dass er eine Hilfe bei den Pferden gebrauchen könne.“

„Pferde? In der Eisengießerei haben sie Pferde?“

„Mutter, Pferde werden überall gebraucht. Sogar unten in den Kohlegruben.“

Die Großmutter murmelt vor sich hin: „Der Bruno als Pferdeknecht…“ Dann lauter: „Glaubst du, dass das eine Arbeit für den Bruno ist?“ Sie hat Zweifel. „Der Junge hat einmal Tischler gelernt. Aber Stallarbeit...“

„Wenn Grabenthin ihn nehmen will, dann kann man das dem Bruno anbieten. Er selbst mag entscheiden. Ich gehe jetzt.“

Ehe er die Küche verlässt, sagt er: „Wenn du Eier übrig hast, dann könnte ich damit auf den Markt gehen. Eier werden gerne genommen. Der Achim hat bald Geburtstag, sagt die Urschel. Er wünscht sich Obst, Apfelsinen, sagt er.“

„Woher kennt der Junge Apfelsinen?“

„Ich weiß es nicht, aber er würde gerne welche haben. Mutter, denk einmal darüber nach, ob du Eier zum Tauschen übrig hast, ein paar. Eier sind gefragt.“

Als der Achim Ende Juli seinen Geburtstag feiert, liegen zwei Apfelsinen auf dem Frühstückstisch, so groß wie seine Faust, und die Großmutter kann es gerade noch verhindern, dass er hineinbeißt. „Achim, die müssen geschält werden, nicht wie Kartoffeln, sondern so...“ Sie ritzt die Schale ein, löst sie von der Frucht und legt ihm die blutroten Spalten auf einen Teller. „So, nun kannst du sie essen!“

Aus Angst, dass der Wolfgang, der dabeisteht, auch zulangen könnte, zieht Achim sich mit dem Teller in eine Ecke zurück, und als er auf die erste Spalte beißt, brüllt er los und spuckt alles auf den Boden. „Sind die sauer!“, schreit er. „Das sind gar keine Apfelsinen. Die Soldaten, die haben richtige Apfelsinen, die schmecken! Das sind keine!“

„Nun mal sachte!“ Die Großmutter nimmt den Teller und streut ihm Zucker darauf. „Das hier sind auch Apfelsinen. Blutapfelsinen, weil die so rot sind. Die isst man mit Zucker. Sag einmal: Lässt du dir von den Soldaten Apfelsinen schenken? Haben die denn welche?“

„Bessere als deine.“

„So, so. Was musst du denn tun, dass sie dir so etwas schenken?“

„Die wollen meine Lieder hören.“

„Was sind das für Lieder?“

„Lieder vom Krieg. ‚Die Fahne hoch’ und ‚Bomben auf Engelland’, das hören sie am liebsten.“

„Das wollen die hören?“, wundert sie sich. „Solche Lieder darf man nicht mehr singen, Achim.“

„Doch, die Soldaten wollen sie hören, darum bekomme ich Apfelsinen, Schokolade, Bonbons und Kaugummi.“

Vorsichtig und zögernd drückt der Achim die Apfelsinenspalten in den Zucker und leckt ihn ab. Zum nächsten Geburtstag wolle er keine Apfelsinen mehr, sagt er. Da werde er sich etwas anderes ausdenken.

Ursula Andreae geht kaum noch zum Steineputzen auf die Straße, weil sie genug hat vom lasterhaften Gerede einiger Frauenspersonen, und weil sie im Winken, ja schon im Zulächeln der Soldaten auf ihren Bulldozern eine Aufforderung wittert, es wie andere Weiber zu machen und zu ihnen auf den Sitz zu klettern. Seit kurzem sitzt sie wieder öfter bei ihren Kindern, vor allem beim Marlenchen, das von früh bis spät am Schürzenzipfel der Großmutter hängt und ihr schon lange lästig ist. „Das Kind ist mir ständig um die Beine“, klagte sie. „Urschel, das Mädel ist wie ein junger Hund. Die bringt es noch dahin, dass ich stürze.“

Ursula hat sich mit dem Marlenchen vor die offen stehende Balkontür gesetzt und rupft Lappen, aus denen sie für das Kind eine Puppe fertigen will. Müde geworden, stumm und gelangweilt, sieht das Mädchen zu, wie die Mutter Lappen für Lappen auseinanderrupft. „Bist du wieder müde?“, fragt die Mutter, doch das Kind antwortet nicht, es hat die Frage nicht gehört, so dass die Mutter noch einmal nachfragt, worauf das Marlenchen sich nur noch fester an die Mutter schmiegt. Mit dem Mädel stimme etwas nicht, hat die Großmutter gemeint, Ursula solle mit ihr zum Arzt gehen. Urschel, wie kann ein so junger Mensch nur immerzu abgeschlafft und müde sein! Das Kind ist nicht gesund! Ursula brauste auf und meinte, ihre Tochter sei so normal wie die beiden Jungen auch. Was die Großmutter als Krankheit ansehe, das sei nichts weiter als eine Sache des Temperaments.

Sie betrachtet ihr müdes, stilles Kind und will es ein wenig aufmuntern. „Das kommt alles hier herein“, erklärt sie und hebt einen von Stopfflecken übersäten Damenstrumpf hoch. „Siehst du: Das wird der Bauch und das der Kopf.“ Nein, das Marlenchen zeigt kein Interesse, es vergräbt sein Gesicht in der Bluse der Mutter. „Und Arme und Beine, die machen wir auch aus diesem Stoff, Marlenchen.“ Die Mutter wedelt mit dem Stofffetzen. Das Kind schweigt. Müde reibt es seinen Kopf an der Mutter und wartet ab, was das werden wird. Später holt die Mutter eine Zigarrenkiste, in der sie Garn und Nadeln, Knöpfe und Sicherheitsnadeln aufbewahrt. Sie schneidet Balg und Kopf zurecht und vernäht beides, um es mit den gerupften Fäden zu stopfen, als die Großmutter in die Küche kommt und meldet: „Urschel, geh einmal nach draußen, da sitzt ein Soldat, der dich sprechen will!“

Ursula erstarrt. Sie wird abwechselnd bleich und rot und meint, das Herz würde ihr zum Hals herausspringen. Sie ist kaum zu hören, als sie fragt, und der Name will ihr nicht über die Lippen: „Reinhold?“

Die Mutter schüttelt den Kopf. „Geh, Urschel, geh. Er sitzt wohl schon lange vor der Tür.“

Der fremde Soldat sitzt auf dem großen Mauerbrocken, auf den sie sich auch manchmal setzt, und sieht den Bulldozern zu. Erst als ihr Schatten über ihn fällt, bemerkt er sie und steht auf. „Frau Andreae? Ursula Andreae?“ fragt er.

Ursula nickt. „Ja, die bin ich.“

Der Soldat kann seine Augen nicht von dem reißen, was er in der Straße sieht: die lachenden und rufenden Frauen bei den Besatzungssoldaten; einige winken ihm zu, sind übermütig und kreischen. Der Mann ist verdreckt und unrasiert, und das linke Glas seiner Brille ist zersplittert. Er trägt noch immer seinen Militärmantel und Stiefel. Trotz der Hitze ist sein Mantel zugeknöpft. Plötzlich, als würde er aufwachen, lacht er, um Nachsicht bittend, und sagt: „Entschuldigen Sie, Frau Andreae. Sie wissen ja meinen Namen noch nicht: Johann Lewandowski.“ Er reicht ihr die Hand.

Ursula ist so verwirrt, dass sie seine Hand nicht loslässt. Die Hand ist kalt und hart und liegt schlaff zwischen ihren Fingern. Dann fragt sie so leise, dass der Soldat sich zu ihr hinneigen muss: „Sie kommen aus dem Osten?“

„Ja, aus Sachsen, Frau Andreae...“

Ursula kaut auf ihrer Lippe, und wieder verstreicht Zeit, bis sie fragt: „Haben Sie Nachricht von meinem Mann? Reinhold Andreae?“

Der Soldat wendet sich ab und betrachtet wieder die dröhnenden Bulldozer. Und in die Richtung, wo die Fahrzeuge dröhnen, spricht er: „Ja, ich habe Nachricht, Frau Andreae. Keine gute...“

„Reden Sie. Erzählen Sie, was mit meinem Mann ist.“

„Ihr Mann lebt nicht mehr, Frau Andreae...“

„Aber, ich habe doch...“

„Er ist gestorben. In Tschechien war es, Frau Andreae...“

Ursula steht erstarrt und nachdem sie begriffen, was er gesagt hat, beginnt sie ihren Kopf zu schütteln, immerzu, weil es das nicht geben kann, und wieder und wieder murmelt sie: „Aber, ich habe doch...“ Endlich lässt sie seine Hand los und fasst sich ans Herz. „Wie ist es passiert, Herr Lewandowski?“ fragt sie schließlich. Der Soldat mag sie nicht ansehen, sein Blick verfolgt die lauten, fidelen Frauen bei den Besatzungssoldaten. Und als spräche er zu ihnen, sagt er: „Erschossen. Tschechische Partisanen haben ihn erschossen. Ich denke, es ging schnell, Frau Andreae.“

Ursula ist derart erstarrt, dass sie nicht weinen, sich nicht bewegen, nicht einmal ein Wort aussprechen kann, obwohl hundert Wörter in ihr schreien und nach draußen drängen. Dass der Vater dazugekommen ist, das bemerkt sie erst, als er fragt: „Urschel, du hast Besuch bekommen?“

„Ja, Besuch“, antwortet der Soldat. „Ich bin aber kein guter Besucher für die Frau Andreae.“

Der Vater, der bislang nicht zugehört hat, stellt sich vor: „Gottfried Straeten. Ich bin ihr Vater.“ Er reicht dem Soldaten die Hand. Dass die Tochter wie erstarrt, wie tot ist, scheint der alte Mann nicht zu bemerken. Er sagt: „Willst du mit deinem Besuch hier draußen stehen bleiben? Kommen Sie ins Haus, junger Mann. Ein Butterbrot und eine Tasse Kaffee, das können wir Ihnen noch anbieten...“

Als der Soldat in die Küche tritt und die Großmutter erkennt, wen der Vater mitgebracht hat, beginnt wieder ihr Kinn zu zittern und sie schlägt die Hände zusammen, denn sie ahnt, was dieser herabgekommene Mensch zu melden hat. Ursula hat sich in das Zimmer zurückgezogen, wo sie mit ihren Kindern schläft. Nachdem die Großmutter die Botschaft des Fremden gehört hat, nimmt sie die Kinder und geht mit ihnen aus dem Haus, so dass der Vater mit dem Soldaten ungestört reden kann.

Zusammen mit Reinhold Andreae und anderen Kameraden hätte er, nachdem ihre Einheit aufgerieben war, Reißaus in Richtung Heimat genommen, erzählt Lewandowski dem alten Mann. Sie hätten sich ohne Probleme bis nach Schlesien durchgeschlagen. Die Heimat war erreicht, und sie fühlten sich sicher. In den entlegenen westlichen Dörfern habe es ausgesehen, als hätten die den Krieg verschlafen: Alles sei intakt geblieben, so gut wie nichts beschädigt gewesen. Ja, die Heimat hatten sie erreicht, aber sie waren nicht zu Hause. Reinhold Andreae, die Kameraden und er seien weiter ins Gebirge gezogen, ins Grenzgebiet zu Tschechien. Und da seien sie in eine Falle gelaufen, erzählt Lewandowski. Sie wussten, in russische Hände zu geraten, das wäre schlimmer als der Tod. Lieber eine Kugel in den Kopf, als in russische Gefangenschaft. Gegen sowjetische Lager, so sagte man, wäre die ewige Verdammnis das Paradies. Sowjetisches Militär war es nicht, dem sie in die Arme gelaufen sind, wahrscheinlich tschechische oder polnische Partisanen, das haben sie nicht herausfinden können. Deren Hass jedoch auf alles Deutsche, der sei unbeschreiblich gewesen. Sie wurden in einen leeren Kuhstall gesperrt. An Flucht sei nicht zu denken gewesen, denn der Stall wurde streng bewacht. In der Nacht sei ein LKW gekommen und habe sie, angetrieben von schwer bewaffneten Ganoven, in eine größere tschechische Stadt gebracht. Bitterkalt sei es gewesen, dass ihnen der Atem in den Bärten gefror. Während der Fahrt habe starker Schneefall eingesetzt. Auf einem Marktplatz wurden sie zusammengetrieben, da hatten sie viele Stunden in Kälte und Schnee zu stehen und auf das Ergebnis der Beratung ihrer Bewacher zu warten. Nach und nach hätten sich neugierige Bürger an sie herangetraut, die hätten geschimpft, sie bespuckt und mit Steinen nach ihnen geworfen. Einer der Gaffer sei auf den Gedanken gekommen, die Gefangenen mit einem Knüppel zu schlagen, und weil die Wachen ihn nicht hinderten, kamen immer neue Peiniger hinzu, bewaffnet mit allem, was ihnen in die Hände gefallen ist: Harken, Spaten und Mistgabeln, einer brachte sogar eine langstielige Axt mit und habe begonnen, wie ein Irrer um sich zu schlagen. „Es lagen Verletzte da, sogar Tote – doch die Wachen hinderten niemanden und ließen die Misshandlungen zu“, berichtete Lewandowski. „Ja, schließlich kamen die Weiber! Fluchend und kreischend stürmten sie auf uns los und begossen uns mit kochendem Wasser, sie schleppten sogar siedendes Öl heran und schütteten es über uns. Andere versuchten, uns die Kleidung vom Leibe zu reißen...

Ich sah, dass sie sich Reinhold Andreae vorgenommen hatten. Er versuchte nicht sich zu wehren oder sie zu hindern, Reinhold schien vor Angst gelähmt, schien willenlos geworden zu sein, schon halbtot. Ihn zogen sie aus bis auf die Haut, schlugen ihm in die Kniekehlen, dass er zu Boden ging, brachten kaltes Wasser und gossen es, Eimer für Eimer, über ihn... Und der Reinhold saß da, die Arme um die Knie geschlungen und rührte sich nicht. Und als sie von ihm abließen, saß er immer noch da, wie er die ganze Zeit gesessen hatte – Reinhold Andreae war erfroren, er war zu Eis geworden...“

Fast empfindungslos hat der Soldat Lewandowski Ursulas Vater das Ende seines Schwiegersohnes erzählt, so, als hätte er diese Begebenheit viele Male hergesagt. Der Vater hat sich während der ganzen Zeit nicht gerührt, es war, als hätte er nicht einmal geatmet.

Als die Stille für beide nicht mehr zu ertragen ist, fragt er: „Weiß meine Urschel das?“

Der Soldat Lewandowski schüttelt den Kopf: „Ich habe ihr gesagt, sie hätten ihn erschossen. Wir wären auf Partisanen gestoßen, und da wäre es passiert...“

„Danke, Herr Lewandowski. Sie darf es auch nicht erfahren.“

Nachdem sie noch über dieses und jenes gesprochen haben, ist der Vater mit ihm ein Stück des Weges gegangen. Er fragt, wie er denn davongekommen sei.

Das Leben hätten ihm die vielen Toten auf dem Platz jener tschechischen Stadt gerettet, erzählt er. Noch in der Nacht sei ein Wagen gekommen, um die Erschlagenen fortzuschaffen. Und unter den Toten, beschmiert mit dem Blut der anderen, steif und wie tot, lag der Gefreite Johann Lewandowski. Sie seien aus der Stadt gefahren worden, und in einem Waldstück sei es ihm gelungen, vom Wagen zu fallen und sich zu verstecken. – Mit dem Mantel eines Soldaten will er sich durchgeschlagen haben, fragt der Großvater. – Nein, nein, sagt Lewandowski, den habe er einem toten Landser abgenommen. Und das Durchkommen sei für ihn kein großes Problem gewesen: Da er beinahe fließend Englisch spreche, sei er als abgeschossener Engländer durchgekommen. In Sachsen, erzählt er nicht ohne Freude, sei er auf einen abgeschossenen britischen Flieger gestoßen, in dem noch die tote Besatzung steckte. Die Papiere eines Menschen, der in seinem Alter gewesen sein muss, die habe er an sich genommen, und fortan hieß er Tony Smith. Das sei leicht zu merken gewesen. Aber er sei niemandem begegnet, der ihn befragt und auf Herz und Nieren geprüft hätte.

Johann Lewandowski lächelt den Großvater an. „Sie sehen, sogar der Tod kann von Nutzen sein. Ich weiß gar nicht, wie oft Tote mir das Leben gerettet haben. Bis hierher bin ich gekommen, und ich werde weiterkommen, bis ich meine Frau und die Kinder gefunden habe. Leben Sie wohl!“

„Danke, dass Sie das auf sich genommen haben. Leben Sie wohl, Herr Lewandowski. Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg bei Ihrer Suche.“ Sie reichen sich die Hand, dann stolpert Johann Lewandowski in seinem zu großen Soldatenmantel und mit dem zersprungenen Brillenglas davon.

Ursula Andreae hat sich nicht anmerken lassen, dass sie zutiefst erschüttert ist über das, was sie erfahren hat, so dass die Großmutter sich fragt, ob sie überhaupt noch Gefühle im Leibe habe.

Einige Tage vermied es Ursula, mit der Großmutter allein zu sein. Sie spürte den prüfenden, sie belauernden Blick der alten Frau, die auf ihrem Stuhl neben dem Herd saß und schwieg, deren Augen aber unentwegt auf die Tochter gerichtet waren. Vom Vater hatte sie keine Fragen zu befürchten; wenn der in die Stube trat, dann sah er die Tochter flüchtig an oder er übersah sie und ging wieder, weil er andere Dinge im Kopf zu haben schien. Aber die Mutter wartete nur auf eine Gelegenheit, um etwas aus der Tochter herauszukriegen.

Bei jeder Gelegenheit lief Ursula nach draußen, wanderte durch die graue, zerbombte Stadt oder ging bis zum Luisenpark, wo niemand sie stören würde. Hier draußen, wo kein Mensch anzutreffen war, brauchte sie ihr Weinen nicht zu unterdrücken. Und wäre sie gesehen worden, dann hätte keiner sie nach dem Grund ihres Weinens gefragt. Zu weinen gab es in dieser Zeit viel, das war normal. Da saß sie eine Zeit auf einer versteckten Bank, weinte und trauerte und versuchte, sich das Leben einer Witwe vorzustellen und es anzunehmen. In Zukunft würde sie nur noch die Bilder und Erinnerungen an Reinhold haben, für Hoffnung und für Glück würde es keinen Platz mehr geben. Und wieder weinte sie, nicht mehr dieses heftige und aufgeschreckte Weinen, es wurde stiller. Ursula Andreae weinte über sich selbst, weinte über das verkürzte, das amputierte Leben, das sie würde führen müssen... Sie weinte auch darüber, dass die Verantwortung und Erziehung der drei Kinder allein auf ihren noch jungen Schultern lasten würde.

Es gab Tage, da saß Ursula viele Stunden irgendwo in der Einsamkeit, so dass sich die Großmutter Sorgen machte und sie auch schon einmal suchen ging. Langsam begriff die alte Frau, was in der Tochter vor sich ging, und sie ließ sie gewähren, sie fragte nichts, sagte nichts und ließ es bleiben, sie aus den Augenwinkeln zu beobachten. Schließlich ging die Tochter nicht mehr weg und blieb zu Hause, etwas abwesend, stiller als sonst, doch irgendwann war auch das vorüber. Marlenchens Puppe wurde fertig. Die Mutter saß abends wieder am Bett der Kinder und hörte sich an, was sie zu erzählen hatten. Und die Jungen quälten die Großmutter nicht mehr mit Fragen, wohin die Mutter gegangen sei, beide liefen durch die Straßen und trieben Unfug, wie sie es immer getan hatten. Sie wissen nichts von ihrem Vater, für sie gibt es schon seit Jahren keinen Vater mehr, da gibt es keine Unterschiede zu ihren Spielkameraden aus dem Stadtviertel. Allerdings ist die Mutter etwas strenger geworden, so kommt es der Großmutter vor, auch ist sie schneller ungeduldig mit ihnen. Doch auch das wird sich ändern, glaubt die alte Frau. Wenige Tage nach dem Besuch des Soldaten Lewandowski ist Post für Ursula Andreae gekommen, ein knapper Brief von Reinholds älterem Bruder, Manfred Andreae.

„Du hast ihm geschrieben?“, wundert sich die Großmutter.

„Nein, nur seiner Schwester Elsbeth“, sagt Ursula und zieht sich mit dem Brief in ihre Schlafstube zurück, um ungestört lesen zu können, was der Schwager ihr zu schreiben hat. Manfred schreibt, dass er durch seine Schwester von Reinholds Tod erfahren habe, und er würde die Schwägerin gerne besuchen und mit ihr beratschlagen, was künftig zu tun sei.

„Nichts ist zu beraten und zu tun“, brummt Ursula vor sich hin. „Du hast nie nach mir gefragt, denn du mochtest mich nicht und hast versucht, Reinhold und mich auseinanderzubringen. Und unsere Kinder waren dir auch einerlei. Ich brauche dich nicht.“

„Nun, was schreibt er?“, fragt die Mutter.

„Er will mich besuchen.“

„Was will der? Besuchen? Was ist denn plötzlich in den Menschen gefahren? Hat der sich nach eurer Hochzeit überhaupt einmal bei euch blicken lassen?“

„Er will mir raten, mir helfen...“

„Hilfe von diesem Mannsstück? Mein Eindruck war, dass der selbst Hilfe braucht. Na ja, mag er kommen!“

Manfred Andreae ist gekommen. Aufrecht und breitschultrig steht er vor der offenen Balkontür und verdunkelt das Zimmer. Er ist auffallend gekleidet, mit hellen Schuhen, Hemd und Krawatte und hat, was die Großmutter stört, ein aufdringlich duftendes Toilettenwasser benutzt. Ganz ungeniert und mit offenem Missfallen sieht er sich in der Wohnung um und betrachtet lange die Kaninchen und Hühner auf dem Balkon. Die Großmutter stellt ihm einen Blechbecher mit Kaffee hin, dann geht sie mit den Kindern aus der Wohnung.

„Daraus trinkt ihr?“, fragt Manfred die Schwägerin. „Solche Becher habe ich einmal bei den Zigeunern gesehen.“

„Wir sind ausgebombt“, sagt Ursula feindselig, „und somit vielleicht zu Zigeunern geworden. Aber wir sind froh über alles, was wir zusammentragen konnten.“

Der Schwager betrachtet sie belustigt und schlürft seinen Kaffee, und dabei spreizt er den kleinen Finger ab. Abweisend sitzen sie sich gegenüber. „Mir hast du keine Nachricht von Reinholds Tod geschickt“, sagt er. „Bin ich nicht sein Bruder?“

Ursula will ihm darauf keine Antwort geben, trotzig starrt sie auf ihre Hände. Und weil sie stumm bleibt, lacht er kurz auf und sagt: „Für eine so junge Frau ohne Mann, wie du es bist, ist das eine recht schwere Zeit. Wie willst du mit deinen Kindern durchkommen?“

„Bis jetzt bin ich durchgekommen, ganz gut sogar“, sagt sie. „Ich habe noch meine Eltern, und mein Bruder ist auch da. Es wird schon gehen... Unzählige andere Frauen müssen es auch schaffen.“

Wieder liegen seine hellblauen, wässerigen Augen auf ihr und prüfen, ob sie wirklich die Frau für solche Zeiten ist. Sie kann diesen Blick nicht ertragen und dreht ihren Stuhl zur Seite, dass sie ihn nicht ansehen muss. Nach längerem Schweigen beginnt der Schwager aufs Neue: „Du hast drei Kinder, Ursula, die wollen durch diese schwierigen Zeiten gebracht werden. Die brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung, da gibt es anderes, das ebenso wichtig ist. Hast du dir darüber Gedanken gemacht? Du bist nur eine Frau, eine alleinstehende Frau“, fügt er hinzu. „Und die hat es besonders schwer.“

„Ich sage dir noch mal: Millionen anderer Mütter geht es ebenso. Die Zeit wird zeigen, ob wir Frauen nicht auch unsern Mann stehen können! Ich frage dich, Manfred: Haben die Frauen nach dem Ersten Weltkrieg versagt? Waren sie unfähig? Nein! Es waren die Frauen ohne Männer, die nach allen Kriegen, die geführt wurden, das, was Männer zerstört hatten, wieder aufbauten; es waren die Frauen, die die Welt wieder in Ordnung brachten!“

Der Schwager richtet sich auf und stellt seine Blechtasse hart auf den Tisch. „Du hast zwei Jungen, Ursula, die brauchen eine straffe Männerhand, die müssen klare Regeln kennenlernen. Mit solchen Rabauken ist eine alleinstehende Frau überfordert.“

„Ich verstehe dich nicht. Werde doch etwas deutlicher, Manfred.“

„Sie brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wo es langgeht.“

„Traust du mir gar nichts zu?“

„Du bist eine Frau, Ursula. Frauen sind schwach, sie sind weich und nachgiebig.“

„Was mache ich anders als ein Mann?“

„Jungen brauchen Härte, bisweilen brauchen sie eine...“ Er zieht seine Manschette aus dem Jackenärmel und schiebt sie wieder hinein. „Manchmal, Ursula, ist eine Tracht Prügel nicht unangebracht.“

„Manfred!“, ruft Ursula heiser. „Bis jetzt habe ich sie erzogen, wie ich es für richtig halte. Ich werde es auch weiter so machen...“

„Bitte, rege dich nicht auf! Für deine Kinder brauchst du einen Vormund, Ursula. Nicht nur bei der Erziehung von Jungen ist ein Mann geeigneter, er boxt sich auch leichter durch Ämter und Behörden, glaube mir. Und dabei, Ursula, wäre ich bereit, dir zu helfen. Ja, ich sehe darin geradezu eine Verpflichtung gegenüber meinem Bruder...“

„Der Reinhold hätte das niemals zugelassen!“

„Weißt du das? So lange bist du gar nicht mit ihm verheiratet gewesen, dass du weißt, was er für richtig und für falsch hielt. Ursula...“ Er streckt seine Hand nach ihr aus, aber Ursula ist aufgesprungen und läuft aufgebracht von einem Ende der Küche zum anderen. Dann bleibt sie neben ihm stehen und stößt hervor: „Ob Junge oder Mädchen – keines meiner Kinder braucht einen Vormund! Ich habe sie durch den Krieg gebracht, ich werde auch dafür sorgen, dass sie anständige Menschen werden und ein anständiges Leben führen, Manfred! Danke für deine Hilfe, aber diese Hilfe brauche ich nicht!“ Und damit nimmt sie ihm den blechernen Becher weg und trägt ihn an den Spülstein.

Ihre Entschlossenheit hat den Schwager hilflos und unsicher gemacht. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und möchte gehen, weiß aber nicht, wie er es anfangen soll. Plötzlich erhebt er sich rasch und sagt, nun versöhnlich geworden: „Du kannst es dir noch überlegen, Ursula. Ich stehe für jede Art von Hilfe bereit. Du und ich – wir haben die Aufgabe, Reinholds Andenken in Ehren zu halten. Sein Vermächtnis, das sind die Kinder. Aus ihnen soll etwas werden, Ursula.“

Sie reicht ihm die Hand und läuft zur Küchentür, um sie ihm zu öffnen. „Bleiben wir im Gespräch, Ursula?“

Auch darauf bekommt der Schwager keine Antwort. Als er im Flur ist, drückt sie hart die Tür ins Schloss. Vor lauter Wut kann sie nicht leise sein. „So weit kommt’s noch! Bleibe, wo du bist, du Schuft!“ Sie ruft es ihm nicht hinterher, sie ruft es in die Wohnung, aber doch so laut, dass er es im Flur noch hören muss.

Ja, ja, ein Paar kräftige Hände und ein williger Kopf, sagt Alois Grabenthin zum Großvater, die seien immer zu gebrauchen. Junge Männer, weiß Grabenthin, die seien gegenwärtig Mangelware. Der Sohn möge doch einmal ins Werk kommen, dann werden beide Parteien sehen, was sie miteinander anfangen können. Ihn einstellen, das könne er nicht, aber vorschlagen und befürworten, das sei ihm möglich, und die Verantwortlichen würden auf sein Wort hören, sagt Alois Grabenthin.

Der Bruno zeigt wenig Lust, sich einen Pferdestall anzusehen; mit einem Gaul habe er noch nie zu tun gehabt. Im Übrigen seien diese Tiere ihm nicht geheuer, da stecke mehr Kraft drin als in zehn Männerarmen, und niemand wisse, was im Schädel eines solchen Ungetüms vor sich gehe.

„Er scheut sich vor dem zivilen Leben“, sagt Ursula zum Vater. „Im Feld, da war er Befehlsempfänger wie die meisten, da hat er nicht nachdenken müssen, was zu tun war, denn es wurde ihnen gesagt. Dabei war man aus dem Schneider und trug für Fehlschläge keine Verantwortung. Konnten sie Siege verzeichnen, die hefteten sie sich stolz an die Brust und wussten, dass auch die Heimat stolz auf ihre Jungen war. Und für Fehlschläge, für Niederlagen – dafür, Vater, waren andere zuständig. So einfach war Brunos Soldatenleben.“

Die Großmutter fährt auf: „Einfach nennst du das, wenn man jede Minute um sein Leben fürchten muss? Lass den Bruno gehen, erst einmal muss er zu Kräften kommen und den Krieg vergessen können. Das ist für ihn schwer genug. Noch ist nicht genügend Zeit verstrichen! Bei uns, in der Heimat, ist der Bruno noch nicht angekommen!“

„Wie schwer das ist, Mutter, das sehen wir an uns selbst!“

„Seit der fremde Soldat hier war, bist du unleidlich geworden, Urschel“, platzt die Großmutter heraus. „Erst rennst du aus dem Haus und machst die Kinder unsicher. Jetzt kannst du es nicht ertragen, dass der Bruno mit seinen Erlebnissen nicht fertig wird. Du hast an deinem Schicksal zu tragen, er an seinem. Jeder muss es nehmen, wie es gekommen ist. Daran ist nichts zu ändern!“

Die Großmutter ist über sich selbst ärgerlich, dass sie ihren Mund nicht halten konnte, und auch Ursula ist ärgerlich. Sie weiß, dass die Mutter immer sorgsam ihre Hände über Bruno halten wird, egal was er sagt oder macht. Sie kann nicht still sein, wenn die Mutter für seine Marotten Verständnis aufbringt und sie entschuldigt. Bei ihm hat sie immer mehr geduldet als bei ihr selbst und beim gefallenen Bruder Heinz. Ursula nimmt sich vor, künftig den Mund zu halten.

Der Bruno ist zum Werkskalfaktor Alois Grabenthin gegangen, und obwohl er der Mutter versprochen hat, sofort zurückzukommen und zu berichten, ist er weggeblieben. Die Mutter steht lange Zeit in der offenen Balkontür und guckt sich nach ihm die Augen aus dem Kopf. Der Bruno kommt nicht, nicht einmal zum Essen, so dass sie sich Sorgen macht und sich ausmalt, dass etwas Schlimmes mit ihm passiert sein könnte. Als sie der Ursula sagt, wie sehr sie seinetwegen in Ängsten sei, schweigt die Tochter, als hätte sie nichts gehört. Sie möchte die Tochter bitten, in die Eisengießerei zu gehen und nach Bruno zu fragen, doch die sitzt mit einem solch verschlossenen Gesicht über ihrer Strickarbeit, dass sie sich nicht traut, sie anzusprechen. Wäre der Vater zu Hause, dann müsste der nach dem Jungen fragen gehen. Aber der Vater ist immer noch, obwohl doch alles Nötige im Hause ist, von früh bis spät auf Tour. Sie selbst würde auch gehen, wenn sie wüsste, wohin. So kann sie nur vom Balkon nach links und rechts in die Straße blicken und sich grämen.

Vor der Haustür sieht sie das Marlenchen, es spielt ganz allein mit seiner Stoffpuppe. Aus Steinen hat sie Zimmer abgegrenzt, große und kleine und steinerne Möbel – Tisch, Stühle und Betten – hineingestellt. Urschels drittes Kind ist ein auffallend stilles Kind, denkt die Großmutter, immer etwas müde und lustlos. Von der Urschel hat sie das nicht, die ist immer lebhaft und direkt, ist aufsässig, laut und eigensinnig gewesen und hat sich behauptet. Aber Marlene... Hat sie das vom Reinhold? Und während die Großmutter darüber nachdenkt und bemüht ist, das Bild des toten Schwiegersohnes in der Erinnerung lebendig werden zu lassen, sieht sie den Achim aus der gegenüberliegenden Ruine klettern und wie ein gehetztes Tier ins Haus stürmen. Ihm folgt ein Mann, den die Großmutter nicht kennt, der nicht so behände über die Trümmer springt wie der Junge. Und gleich darauf fliegt die Küchentür auf, und der Achim flüchtet hinter den Tisch, die Augen voller Angst auf die Tür gerichtet.

„Was ist denn mit dir?“, fragt Ursula. Der Junge antwortet nicht, er hat nur die Tür im Auge. „Achim, so rede! Was ist passiert?“

Da steht plötzlich der fremde Mann in der Tür. „Komm her, du Rotzlöffel! Dir werd ich’s zeigen!“ Der Mensch droht mit einer Rute.

Ursula ist aufgesprungen, sie schwingt den Feuerhaken, vor Erschrecken und Wut ist sie ganz bleich geworden und wächst vor dem Fremden in die Höhe. „In meiner Wohnung wollen Sie meinen Sohn schlagen? Wagen Sie es, ihn anzurühren, Sie...!“

„Da sagt doch dieser Rotzlöffel zu mir: Du bist auch ein altes Nazischwein! Muss ich mir das von dem da anhören?“

„Hast du das zu dem Mann gesagt, Achim?“

Der Junge schweigt, aber nach einer Weile nickt er ganz schwach und fängt an zu weinen und wischt mit dem Handrücken seine Nase.

„Also stimmt das. Warum hast du das gesagt?“

Der Junge stiert Hilfe suchend die Großmutter an, die mit verschränkten Armen wie ein Richter auf ihrem Platz vor der Balkontür steht. Sie nickt dem Enkel aufmunternd zu. Mit sanfter Stimme sagt sie: „Erzähl, mein Junge. Was hat denn der Mann zu dir gesagt?“

„Er hat gesagt... gesagt...“ Der Achim schnäuzt sich, dann schreit er es wütend heraus: „Der da hat gesagt, wir seien liederliches Zigeunerpack! Er werde uns Zucht beibringen, hat er gesagt!“

„So, zuchtloses Zigeunerpack sind wir?“, fragt Ursula den Fremden, der sich duckt, als wollte er Schlägen ausweichen oder sie gleich anspringen. „Und warum hat der Mann das gesagt, Wolfgang?“

„Weil ich seinem Mädchen eine geknallt habe. Die hat zu mir gesagt, ich würde aus dem Fenster auf die Leute pinkeln. Stimmt gar nicht, stimmt gar nicht! Und der da hat auch noch gesagt, du würdest mit den Amis poussieren... Und dann habe ich gerufen: Er ist ein altes Nazi...“

„Aha! Ich poussiere mit den Soldaten! Sie sauberer Herr, ich finde, mein Sohn hat nicht Unrecht mit dem, was er Ihnen vorgeworfen hat!“ Dicht vor seinem Gesicht fuchtelt sie mit dem Feuerhaken. „Und jetzt: Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich, aus meiner Wohnung kommen!“

Ohne etwas zu erwidern, verschwindet der Fremde, und die Großmutter läuft an die Tür und lacht so laut hinter ihm her, dass es die Leute auf der Straße hören können. Ja, sie scheut sich nicht, ihn vom Balkon herunter zu verhöhnen.

„Zuchtloses Zigeunerpack!“, wiederholt die Großmutter. „Mit den Amerikanern poussieren... Urschel, der verwechselt dich mit jemandem... Vielleicht ist es sein Weib, das so etwas macht! Eine bodenlose Frechheit, das dem Kind ins Gesicht zu schreien... Ach, der Bruno kommt. Wie war’s, mein Junge?“

Der Bruno wirft seine Jacke auf den Stuhl. Er lässt Wasser in die Hände laufen und trinkt, und die Großmutter steht daneben und wartet, dass er vom Pferdestall der Eisengießerei erzählt.

„Was war hier los? Was wollte der Kerl?“

„Bruno, stell dir vor...“ Ursula erzählt dem Bruder, was vorgefallen ist.

„Und ihr lasst das Miststück gehen? Den hätte ich die Treppe hinuntergeworfen“, sagt Bruno und versprüht etwas vom getrunkenen Wasser. „Soll ich ihm nach?“

„Wie du einen auf die Folter spannen kannst!“, ruft die Großmutter ungeduldig. „Die ganze Zeit denke ich an nichts anderes als an dein Gespräch mit diesem Kalfaktor – und jetzt bist du da und machst darüber deinen Mund nicht auf!“

„Ich habe keine Zeit, Mutter, ich muss sofort wieder weg.“

„Hast du Arbeit bekommen?“

„Das erzähle ich dir später. Ich habe keine Zeit!“ Nachdem er sein Gesicht gewaschen und sich gekämmt hat, wirft er seine Jacke über die Schulter und beeilt sich, aus dem Haus zu kommen. Wieder läuft die Großmutter auf den Balkon, und da sieht sie den Bruno mit einem Mädchen weggehen. Eine Hand hat er auf ihre Hüfte gelegt, mit der anderen schwenkt er übermütig seine Jacke durch die Luft. Lange sieht die Großmutter ihm nach, und als sie in die Küche zurückkommt, schlägt sie die Hände zusammen und seufzt: „Du lieber Himmel, was war das heute für ein Tag! Nichts als Aufregungen, nichts als Aufregungen...“

Ursula hat sich in ihre Schlafstube zurückgezogen. Sie mag sich das Jammern der Großmutter nicht anhören, vor allem reizt sie, wie sie sich um Bruno sorgt, wie sie um ihn herumscharwenzelt. Ihretwegen hat sie nie ein solches Theater gemacht, denkt Ursula.

Der Ärger über den Fremden, der in ihre Wohnung eindrang, um den Achim zu züchtigen, weil sie als Mutter eine zu lasche Hand bei der Kindererziehung zeige, der Ärger darüber ist über Großmutters Gewese um den Bruno verraucht. Jetzt hat sie von diesem fremden Strolch zu hören bekommen, was schon ihr Schwager Manfred Andreae einmal über alleinstehende Frauen äußerte, und was die Großmutter über Tage in Harnisch gebracht hatte. Sie wird es künftig öfter zu hören bekommen und ertragen müssen, dass Männer Witwen mit Kindern so einschätzen: Mit solchen Aufgaben seid ihr Frauen überfordert – nein: Um Kinder, vor allem Jungen, allein großzuziehen, dazu seid ihr unfähig!

„Ich habe mit dir zu reden“, sagt die Mutter zum Wolfgang, der in seinem Essen stochert und darüber nachdenkt, wie er entwischen kann. Denn eingeweichtes Brot mit einem Salat, den die Mutter auf den Wiesen des Luisenparks gesammelt hat, das mag er nicht.

Wenn die Mutter etwas mit diesen Worten beginnt, dann liegt Ungutes in der Luft. Ein Entrinnen ist nicht möglich, denn der strenge Blick der Mutter hält ihn an seinen Platz.

„Ich habe dich in der Schule angemeldet. Ab August geht der Schulbetrieb wieder los.“ Und zur Großmutter hin sagt sie: „Das wird auch Zeit, dann kommt der Bengel endlich von der Straße!“

Bruno lacht schadenfroh: „Jetzt fängt der Ernst des Lebens an, Bursche. Es wird auch Zeit, dass euch Zucht und Ordnung beigebracht wird! Da hat das Spielen und Schreien in den Trümmern ein Ende. “

Was das bedeutet, das weiß der Wolfgang nicht, doch Brunos Bemerkungen machen ihm Angst, dass er blass wird, und kleinlaut wagt er zu fragen: „Und der Achim? Geht der mit?“

Ursula schüttelt verwundert ihren Kopf: „Der kommt später in die Schule. Du weißt doch, dass er einen kaputten Rücken hat, und für die Schule ist er noch nicht kräftig genug.“

„Dann will ich auch nicht. Ich will mit dem Achim gehen.“

Die Mutter legt ihren Löffel auf den Tisch. Beide Ellbogen aufgestützt, betrachtet sie aus starren Augen ihren Ältesten, und plötzlich verfinstert sich ihr Blick und in drohendem, keinen Widerspruch duldenden Ton sagt sie: „Willst du Theater machen? Hier gibt’s kein: Ich will nicht! Du bist acht Jahre alt und müsstest schon in die dritte Klasse kommen! Das Spielen hat einmal ein Ende. Es ist so, wie der Onkel Bruno sagt: Die Spielerei ist vorbei, du bist alt genug, um ernsthaftere Dinge zu tun!“

Die Großeltern sitzen ungerührt dabei. Als die Kinder wieder gegangen sind, meint der Großvater: „Warum bist du so streng mit ihm, Urschel? Wie soll der Junge begreifen, dass die unbeschwerte Zeit vorbei ist? Jahrelang hat er spielen können, wenn wir nicht wegen eines Angriffs im Bunker sitzen mussten! Und plötzlich kündigst du ihm etwas Ernsthaftes an, und das auch noch beim Essen!“ Der Großvater gestikuliert mit seinem Löffel und fügt hinzu: „Dein Ton dem Großen gegenüber hat sich verändert, Urschel. Du bist streng geworden, manchmal sogar hart.“

„Vater, weißt du, was auf mir lastet?“

„Das, was unzählige Kriegsmütter zu tragen haben.“

Ohne es zu wollen, sagt sie: „Jungen brauchen eine straffe Hand, Vater.“ Und als sie das ausgesprochen hat, ärgert sie sich darüber, weil sie das auch von Reinholds Bruder gehört hat.

„Meinst du? Deine Hand, Urschel, sehe ich aber nur beim Großen straff, sehr straff!“

Und die Großmutter meint, und sie unterstreicht ihre Worte durch mehrmaliges Nicken: „Das habe ich schon einmal gehört! Hat dich das, was dein Schwager zum Besten gab, so sehr beeindruckt, dass du deine Ansicht geändert hast?“ Und weil die Tochter schweigt, fügt die Großmutter hinzu: „Der Junge hat Angst vor der Schule. Das hat er mir neulich gesagt, als ich mit ihm darüber gesprochen habe. Er fürchtet sich vor den Lehrern, vor den anderen Kindern...“

„Ich bin immer gerne in die Schule gegangen, Mutter. Mir hat das Freude gemacht!“, unterbricht Ursula sie. „Angst vor der Schule!“, ruft sie höhnisch. „Wie kann er vor etwas Angst haben, das er nicht kennt? Er ist so anders... Von mir hat er das nicht!“

„Urschel, es gab Zeiten, da musste ich auch Druck aufwenden und dich zur Schule zwingen. Hast du das vergessen?“

Ursula lacht schrill auf und schlägt die Hände zusammen. „Ich und Angst vor der Schule? Mit wem verwechselst du mich? Die Schulzeit war meine angenehmste Zeit... Mutter, ich habe zu tun!“ Damit springt Ursula auf und läuft in ihre Schlafstube, wo sie Hemden für die Jungen näht, und lässt die Großmutter mit der Küchenarbeit allein.

„Ja, so ist sie“, murmelt die Großmutter. „Wenn man den Finger bei ihr auf eine Wunde legt, dann läuft sie davon. So war sie schon als Kind. Und sie hat sich bis heute nicht geändert.“

Der Vater hat vorgestern Fallschirmseide nach Hause gebracht, und daraus will sie den Jungen Hemden nähen. Zuerst soll der Wolfgang eines bekommen, so dass er beim ersten Schulgang ordentliche Kleidung trägt, denn einer alleinstehenden Frau wird nicht viel zugetraut. Wie sie ihren Aufgaben und Problemen zu Leibe rückt und sie bewältigt, darauf wird mit Argusaugen geachtet, so ist das. Noch weiß kaum jemand, dass sie Witwe ist, denn das könnte ihre Lage verschärfen und die Maßstäbe anheben. Hat sie nicht auch klare Vorstellungen von Kindererziehung, von Ordnung, von Regeln und Zucht? Fehlt ihr wirklich der Mann an der Seite, um ihre Kinder damit vertraut zu machen? Der Schwager ist davon überzeugt, und jener fremde Eindringling deutete es ebenfalls an.

Ursula Andreae ist entschlossen, den anderen und auch sich selbst zu beweisen, dass sie ihren Mann im Leben stehen kann!

An Wolfgangs erstem Schultag geht es turbulent zu. Der Junge hat das Deckbett über den Kopf gezogen und weigert sich, aufzustehen. Er wolle erst in die Schule gehen, wenn auch der Achim gehe, sagt er wieder und wieder. Dass er Angst vor der Schule hat, das verschweigt er vor der Mutter.

„Zum Kuckuck! Junge, du raubst mir die Nerven!“, fährt die Mutter ihn an. „Ich habe keine Zeit, dir die ganze Geschichte noch einmal zu erklären. Jeder Mensch muss in die Schule, daran kommst auch du nicht vorbei. Schule! Was bin ich doch gerne in die Schule gegangen!“, ruft sie und verdreht vor Seligkeit die Augen. „ Die Schulzeit war die schönste Zeit in meinem Leben. Schule...“ Und plötzlich schlägt ihre Stimme vor Ungeduld um, und wieder herrscht sie den Jungen an: „Steh endlich auf und zieh dich an! Du kannst nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen!“ Und damit zieht sie ihm das Deckbett weg, wirft es über einen Stuhl und eilt aus dem Zimmer, ohne die Tür zu schließen.

An ihrer Hand ist Wolfgang zur Schule gegangen. Sie umklammerte sein Handgelenk, dass es schmerzte, und manchmal, wenn er nicht mit ihr Schritt halten konnte, zerrte sie ihn wie ein Tier hinter sich her. Viele Kinder, die vor dem Eingang standen, fürchteten sich wie er und weinten. Andere musterten frech, wer da stand oder kam, und sie hatten wohl schon irgendwelche Pläne. Wolfgang bekam noch ein paar Ermahnungen zu hören, dann wandte sich die Mutter ab und ging zur Straße zurück, wo sie abwartend stehen blieb, bis eine Lehrperson auf der Treppe auftauchte und die Kinder hieß, sich nach ihrem Alter aufzustellen. Und erst als Wolfgangs Klasse im Gebäude verschwunden war, ging sie nach Hause zurück.

Baldur Kiesel, ein Kriegsversehrter, ein einarmiger Mensch, wurde Wolfgangs Klassenlehrer. Als Kiesel sich der Klasse vorstellte, warnte er: Auch wenn ihm der linke Arm fehle, in dem, der ihm geblieben sei, stecke noch so viel Kraft, dass er ohne Mühe jemanden zu Brei schlagen könne. Und das, sagte er, habe er öfter getan, als die Schüler vermuteten. Er werde aus diesem verwilderten, unordentlichen Haufen eine Klasse schmieden, die sich sehen lassen könne! Und sofort begann Kiesel damit, dass er die Schüler aufstehen und sich setzen hieß. Alles müsse gleichzeitig geschehen, weil sich das für deutsche Schüler gehöre, die einmal ordentliche Menschen werden wollen, brüllte er. Die Vermittlung von Buchstaben ging bei Kiesel folgendermaßen vor sich: Er malte ein „m“ an die Tafel und sagte, das sei wie ein Bär, weil der Buchstabe brumme wie ein Bär. Ein „H“ sei wie eine Teppichstange. In Wirklichkeit aber sei es ein „H“! Kiesel riss seinen Mund auf und staunte in die Klasse: „Haaaa!“ Er rief Wolfgang an die Tafel und drückte ihm den Zeigestock, wie Kiesel den meterlangen Stock mit der gedrechselten Kugel am unteren Ende nannte, in die Hand und befahl: „Den Stock unter den Buchstaben, dann laut lesen!“ Der Wolfgang las: „Bär, Turnstange...“ Kiesel geriet außer sich. Er lief rot an und fuchtelte ungehalten mit dem einen, dem kraftstrotzenden Arm in der Luft herum. „Bär, Turnstange!“, äffte er Wolfgang nach. Er sei ein Esel, weil er die beiden Buchstaben nicht lesen könne! Habe er nicht immer wieder und ausdrücklich betont, dies seien ein „m“ und ein großes „H“? „Mach, dass du auf deinen Platz kommst!“, schrie Kiesel unter dem Gelächter einiger Schüler und trat Wolfgang so heftig in den Hintern, dass er weit durch den Mittelgang bis an die rückwärtige Wand stolperte. Seitdem hatte der Junge für die nächste Zeit seinen Spitznamen: „Turnstangenesel“ riefen sie, wenn er auf dem Schulhof auftauchte.

Es war die Großmutter, der Wolfgangs Bedrücktsein, seine Stille und sein Verkriechen auffiel. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich so, dass er nicht flüchten konnte und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wolfgang, was ist mit dir?“ Der Junge schluckte, aber er schwieg. „Wir sind allein“, sagte die Großmutter. „Es hört uns keiner, und ich sage es niemandem weiter, was du mir erzählst. Das verspreche ich. Ich schweige wie ein Grab...“

Nach längerem Schweigen begann der Junge zögernd und stockend zu erzählen, und je mehr er der Großmutter anvertraute, umso schlechter gelang es ihm, die Tränen zurückzuhalten. Weinend, mit gesenktem Kopf, schilderte er, wie es im Unterricht zugegangen war. Am Ende meinte er, dass er lieber tot sein würde, als in die Schule zu gehen. Er bedeckte sein Gesicht und schluchzte: „Ja, ich möchte tot sein, dann würde mich niemand hänseln und ärgern, und Lehrer Kiesel könnte mich nicht mehr anbrüllen und treten...“

Die Großmutter, deren Augen sich mit Tränen gefüllt hatten, legte ihre Hand auf seinen Kopf und schwieg. Dann, als der Junge ruhiger geworden war, sagte sie zu ihm: „Wolfgang, ich glaube, das kann ich doch nicht für mich behalten... Ich muss es der Mutter sagen. Die muss zu diesem Kieselstein gehen und mit ihm sprechen. Treten –

das darf der Lehrer nicht!“

„Nein, nicht der Mutter sagen...“

„Doch. Du hast ja Angst vor der Schule. Und wenn du Angst hast, dann kannst du nichts lernen.“

Wann die Großmutter mit der Mutter gesprochen hat, das wusste der Wolfgang nicht, er hat nichts gehört und nichts bemerkt. Aber am Abend, als er in seinem Bett liegt und nicht einschlafen kann, kommt die Mutter in die Schlafstube geschlichen und setzt sich auf die Bettkante. „Du hast Ärger in der Schule gehabt?“

„Ja.“

„Was ist passiert?“

Der Junge erzählt alles noch einmal und die Mutter hört zu, dabei sieht sie ihn unverwandt mit starren Augen an, dass er bereut, ihr davon erzählt zu haben.

„Ein Lehrer tut nichts Unrechtes“, sagt sie. „Wenn er mit dir unzufrieden gewesen ist, dann hast du ihm dafür einen Grund geliefert. Wie kannst du auch zu einem „m“ Bär sagen? Pass in der Schule besser auf, dann kriegst du auch keinen Ärger. Ich habe genug andere Dinge im Kopf, Wolfgang, ich will deinetwegen keinen Ärger haben! Als ich noch zur Schule ging...“ Sie erhebt sich. „Gute Nacht! Versprichst du mir, dass du morgen aufmerksamer im Unterricht bist?“

„Ja.“

Der Junge liegt lange wach. Manchmal weint er still unter dem Deckbett, um den Bruder nicht zu wecken, dann denkt er darüber nach, wie er vor der Schule fliehen kann. Er hört die Mutter in die Schlafstube kommen und sich entkleiden, und als sie sich, nachdem sie beim Achim gewesen ist, auch über ihn beugt, stellt er sich schlafend. Irgendwann ist der Wolfgang dann doch eingeschlafen.

Am folgenden Tag ist es wieder die Großmutter, die ihn am Frühstückstisch forschend ansieht. Die Mutter beschäftigt sich mit seinem Schulbrot und beachtet ihn nicht. Und in einem günstigen Augenblick legt die Großmutter ihm noch einmal die Hand auf den Kopf, wie sie es gestern getan hat. Der Wolfgang begreift, dass niemand ihm dieses Leid ersparen kann und geht gehorsam zur Schule.

Eines Tages ist Lärm auf dem Schulhof, die Kinder sind abgelenkt und recken die Hälse, so dass Baldur Kiesel befiehlt, die Fenster zu schließen. Ein Trupp Arbeiter ist dabei, etliche der Platanen zu fällen, die auf der Grenze des Schulhofes zum Feld in enger Reihe stehen. Die Männer werfen starke Seile in die Kronen und schlingen sie um einen Ast, dann beginnen zwei von ihnen mit dem Absägen des Stammes. Vermittels des Seiles stürzt der gefällte Baum dahin, wohin er fallen soll. In der Pause umstehen in großem Halbkreis die Schüler die zu fällenden Bäume und sehen zu, und Lehrer sind damit beschäftigt, sie aus der Gefahrenzone zu halten. Einer der Arbeiter führt vor, wie genau sich der Punkt abschätzen lässt, wo die Baumkrone auf die Erde schlägt: In langen Schritten misst er ab, wo die Spitze der Krone landen wird; und als der Baum sich senkt, bleibt er ungerührt an seinem Platz und applaudiert dem vor seinen Füßen liegenden Baum. Der Abstand zwischen Krone und seinen Beinen beträgt etwa zwei Meter. Jetzt brechen die Schüler in Begeisterungsrufe aus, sie applaudieren ebenfalls und würden es am liebsten selbst ausprobieren.

Hinter den anderen, in der letzten Reihe, sieht Wolfgang zu. Mit ernstem und aufmerksamem Gesicht steht er für sich allein. Hinter ihm liegt die Schule mit dem Furchteinflößenden Baldur Kiesel, der mit dem einen Arm, der ihm geblieben ist, Menschen zu Brei schlagen kann. Vor ihm fallen ganz einfach und ohne viel Aufhebens die Bäume zu Boden und wirbeln nicht mehr als ein wenig Staub auf. Ein solcher Baum, denkt Wolfgang, der könnte mich dahin mitnehmen, wo es niemand auf mich abgesehen hat, wo ich nichts falsch mache, nicht gehänselt und ausgelacht werde. Wie der Arbeiter die Baumlänge bis zur ungefährlichen Stelle abschätzte, so schätzt Wolfgang die Strecke von seinem Platz zu der Stelle ab, wo der dicke Stamm der nächsten Platane sich in die Erde drücken wird. Dann ist er tot, dann hat alles, was ihm Angst macht, ein Ende; das sind die Gedanken des Jungen.

Wie absichtslos schlendert er um den Haufen der gaffenden Schüler, und plötzlich kommt er von der Seite gerannt, geradeswegs auf den stürzenden Baum zu. Aber einer der Männer, der ein Seil zu halten hat, bekommt den Wolfgang an der Schulter zu fassen und wirbelt ihn hinter sich, dass er zu Boden stürzt.

„Du Idiot!“, schreit der Mann und gibt ihm eine Ohrfeige. „Willst du dich und andere unglücklich machen?“

Jetzt kommt Lehrer Baldur Kiesel gelaufen; er schwingt seinen Arm wie eine verletzte Gans ihren Flügel. „Natürlich der Andreae!“, brüllt er. „Lesen kann er nicht. Sich aber so etwas Hirnverbranntes ausdenken – ja, das kann nur der Andreae!“ Und unter dem Grölen und Feixen der anderen Schüler schleift Baldur Kiesel seinen sich sträubenden Sorgenschüler Wolfgang Andreae mit seinem baumstarken Arm ins Lehrmittelzimmer, wo er sich über eine Bank legen muss.

„So macht man das mit solchen widerborstigen Kreaturen wie du eine bist, Andreae. Merke dir das! Und morgen bin ich bei deiner Mutter...“ Immer wilder werdend drischt Lehrer Kiesel los, weil er von seinem Schüler keinen Laut hört.

Baldur Kiesel ist nicht zur Mutter gegangen.

Eines Tages um den Totensonntag herum heißt es: Lehrer Kiesel ist krank geworden. Sein Fehlen schürt wilde Vermutungen. Er sei strafversetzt worden, erzählen die einen, weil er so leicht aus der Haut fahre und die Schüler mit allem geschlagen hätte, was ihm in die Hände fiel. Andere wissen, man habe den Kiesel gefeuert, er wäre kein Lehrer, sondern Ausbilder beim Militär gewesen. Es geht auch dieses Gerücht: Kiesel heiße gar nicht Kiesel; diesen Namen hätte er angenommen, um seine Vergangenheit als Ortsgruppenleiter zu vertuschen, und die, das weiß man, werden überall gesucht, verurteilt und eingesperrt. Weiter wird von ihm erzählt, dass er nicht nur Menschen verraten und ans Messer geliefert habe – nein, an Kiesels eigenen Fingern würde Blut kleben! Eigenhändig hätte er in einem südlichen Land Männer erschossen, weil er die für Partisanen und Kollaborateure gehalten habe, obwohl sie es gar nicht gewesen seien. Ja, der Kiesel hätte es faustdick hinter den Ohren gehabt! Jetzt fehlt er in der Schule und darüber sind die meisten Schüler froh.

An einem Wintermorgen haben Wolfgang Andreae und ein anderer Schüler nach sieben Uhr in der Schule zu sein und den unförmigen Kanonenofen, der fast bis an die Klassendecke reicht, vorzuheizen. Beide haben Papier und Holz mitgebracht und es entzündet, aber der Ofen zieht nicht, der Klassenraum ist voller Qualm. Während beide davor kniend in das schwelende Flämmchen pusten, kommt eine Frau als Nachfolgerin für Lehrer Kiesel in den Raum.

„Damit werdet ihr wohl kein Glück haben“, sagt sie hinter den Jungen. „Wir haben Nebel, der drückt in den Kamin.“ Sie reißt zwei Fenster auf. „Lieber ein bisschen frieren als entzündete Augen bekommen und angekratzte Stimmbänder“, erklärt sie. Sie ist eine große, gebückte Person mit starken O-Beinen und einem flächigen Gesicht, aus dem die Nase wie der Schnabel einer Eule hervorspringt. Vom Fenster aus sieht sie den beiden Jungen zu. „Macht ihr das jeden Morgen?“

„Nein, wir sind heute dran.“

„Ach, wenn wir doch ein bisschen Petroleum hätten oder Benzin...“, denkt die Lehrerin laut nach, dann dreht sie sich um und schaut aus dem Fenster.

Die beiden Jungen bleiben vor dem Ofen hocken, sie trauen sich nicht, das Klassenzimmer zu verlassen. Wolfgang schielt verstohlen zur neuen Lehrerin: Wird sie auch schreien und Gegenstände nach den Schülern werfen, die etwas nicht begriffen haben? Wird sie die Klasse anbrüllen, dass sie diesem Sauhaufen noch Zucht und Ordnung einprügeln werde? Oder zuschlagen wie Kiesel, dass der Stock zersplittert? So vertrauensvoll wie Mascha Wasowa sieht sie nicht aus, denkt Wolfgang, sie ähnelt mehr der Mutter, der Frau Gresshage und vielen anderen Frauen. Durch das Treppenhaus eilt ein Lehrer mit der Glocke, dann steht er auf dem Schulhof und läutet. Der Lärm draußen ebbt ab, wenig später ist es still. Die Tür zum Klassenzimmer fliegt auf, und die Schüler drängen herein und jammern, weil es kalt und rauchig ist. Sie sehen die Frau am Fenster stehen und wagen es nicht, sich zu setzen. Langsam wendet sich die neue Lehrerin der Klasse zu: „Guten Morgen!“

„Guten Morgen, Fräulein...“ antwortet ihr ein unsicherer Chor.

„Setzt euch.“ Sie schreibt ihren Namen an die Tafel. „Das ist mein Name. So heiße ich.“

Jemand in der ersten Bankreihe buchstabiert ihn laut: „A-n-t-o-n-i-n-i...“

„Richtig!“ Frau Antonini wiederholt ihren Namen. Wenn sie über die Klasse hinsieht, dann könnte in jedem das Gefühl aufkommen, dass sie nur ihn ansehe. Frau Antonini erklärt: „Antonini – das ist ein italienischer Name, aber ich bin keine Italienerin, ich bin eine Deutsche.“ Sie macht eine Pause und blickt wieder über die Köpfe, und man könnte meinen, dass ihre Nase gleich zuhacken wird. „Ich werde mich bemühen, gerecht zu sein und jeden von euch ernst zu nehmen. Wer etwas nicht verstanden hat, der soll zu mir kommen, ich bin dazu da, es ihm zu erklären“, sagt sie. „Von euch erwarte ich, dass ihr untereinander kameradschaftlich bleibt, niemanden anschwärzt, wenn er Unerlaubtes getan hat. Das sind ganz schlechte Manieren! Macht euch nicht über den Mitschüler lustig, der eine Aufgabe nicht sofort begreift. Keiner von uns hat es gerne, wenn er ausgelacht und gehänselt wird. Ich auch nicht!“ Sie zeigt noch einmal auf ihren Namen an der Tafel. „Ich heiße: Antonini! Die drei letzten Buchstaben gehören auch zu meinem Namen!“ Sie wandert ein Stück weit in den Mittelgang. „Herr Kiesel wird nicht mehr an diese Schule zurückkommen“, erklärt sie. „Für die nächste Zeit bin ich eure Klassenlehrerin. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen...“ Einige Schüler stoßen ihre Banknachbarn an und freuen sich, solche Worte aus dem Mund eines Lehrers zu hören. Vor Frau Antonini braucht niemand Angst zu haben; mit ihr wird eine bessere Zeit anbrechen.

An diesem Morgen will es im Klassenzimmer nicht richtig hell werden, und die Kinder in den hinteren Reihen haben Mühe, Frau Antoninis Namen an der Tafel zu lesen, darum lässt sie singen. Sie sammelt Vorschläge, was sie gerne singen würden, und schreibt die Lieder an die Tafel.

Singen – Kiesel hat nie singen lassen. Und es gibt auch niemanden in der Klasse, der sich Kiesel singend vorstellen kann. Ja, die Schüler atmen bei Frau Antonini auf, vor allem jene, die die kurze Zeit unter Kiesel zu leiden hatten.

Das Jahr geht in wenigen Wochen zu Ende. Beinahe jeden Morgen hängt Nebel zwischen den Trümmern und zieht durch die leeren Ruinenfenster und die kahlen Baumkronen, die ebenso von Bomben und Granaten gezeichnet sind wie alles andere ringsum. Durch den Nebel sind die gespenstischen Straßen noch geisterhafter, so dass auch mancher Mann sich schon am späten Nachmittag nur ungern ins Freie wagt. Die Frauen hinter den Fenstern gruselt es, und sie wundern sich über das, was sie gelegentlich zu sehen bekommen. Denn mit zunehmender Dunkelheit kommt lichtscheues Gesindel, kommen Diebe und Schrottsucher aus ihrem Versteck und streunen durch die Trümmer. Die Großmutter sagt, in jeder Gestalt, die um diese Zeit durch die Straße strolcht, sehe sie einen Halunken. Und noch mehr wundert sie sich darüber, dass vereinzelt Frauenspersonen unterwegs sind, vor allem aufgedonnerte und aufdringliche, die die Nähe der Männer suchen, sie ansprechen, sie am Ärmel festhalten und in ein Versteck zu zerren versuchen. „Der ehrbare Mensch, ja, der wird überfallen und ausgeraubt“, schimpft sie. „Aber diese Weibsstücke kommen ungeschoren davon. Weiß der Himmel, wann es wieder so zugehen wird, wie es zuzugehen hat!“

Hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sieht sie Männergestalten huschen. Jetzt reißen sie auch da Rohre und Kabel aus den Wänden und schleppen sie fort. Einmal stand jemand vor ihrem Haus und betrachtete es so eingehend, dass sie alle auf die Straße liefen, und jeder von ihnen trug eine Waffe in der Hand, worauf der Fremde sich gemächlich davonmachte. Der Bruno, der in den letzten Wochen selten zu Hause war, wird gebeten, nicht einfach ins Haus zu kommen, sondern auf der Straße zu pfeifen und zu rufen. Dann tritt der Vater auf den Balkon und ruft ihm zu, er werde aufschließen. Damit wird dem herumlungernden und spionierenden Gesindel gezeigt: Seht euch vor, hier sind Männer im Haus, sogar ein junger und kräftiger! Denn bei den vernagelten Fenstern ist nicht gleich zu sehen, dass das Haus bewohnt ist.

„Für euch und für mich ist es einfacher, wenn ihr euch einen Hund anschafft“, schlug der Bruno vor. „Einen großen und scharfen Wachhund. Mit ihm lebt ihr sicherer!“

„So, und wovon soll das Tier leben?“ fragte die Großmutter und schüttelte über so viel Unverstand den Kopf. „Es ist nicht einmal für uns genug da! Für das, was ein Hund frisst, könnten wir es wie der Nikolai Wasow machen und uns ein Schwein halten!“ Plötzlich schlägt sie die Hände zusammen. „Einen Hund!“, ruft sie aus. „Unsere Wohnung ist sauber, Bruno. Wir haben keine Wanzen und Flöhe in den Betten, und keiner von uns hat Läuse. Und da werden wir uns einen verlausten Köter ins Haus holen, der uns dazu noch in die Ecken schiffen wird? So weit kommt das noch!“

Darauf entgegnete der Bruno nichts, obwohl er eine freche Antwort sehr gerne losgeworden wäre. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung, der Gedanke an einen Hund hat sich bei der Großmutter festgesetzt; so ein Tier würde rechtzeitig warnen und ungebetene Besucher in die Flucht schlagen. Und später brachte sie wie unabsichtlich das Gespräch darauf, indem sie von einer Frau erzählte, die in ihrer Behausung schon mehrmals überfallen wurde und jetzt einen Hund bei sich habe, kein großes Tier, sondern einen kleinen, der sofort anschlage und Höllenlärm mache und ganz bestimmt schon den einen oder anderen Ganoven davongejagt habe. „Die Frau sagte zu mir: Ach, wissen Sie, Frau Straeten, es schläft sich viel ruhiger. Mein Hund, der ist aber auch wachsam! Und sauber und gehorsam ist er auch. Und der Bruno, Vater, der sagt, dass er nicht nur anschlage, wenn sich jemand ans Haus schleiche, sondern dass er auch seine Familie verteidige!“

So erzählt sie beim Bügeln, und ohne hinzuhören sitzt der Großvater am Ofen und näht eine neue Zunge an Achims Schuh. Erst als sie diese Sache schon wieder vergessen hat, meint der Großvater: „So unrecht hat der Bruno gar nicht... Bei unseren Hühnern und Kaninchen wäre ein Hund nicht übel, was denkst du, Mutter? Der Grabenthin hielt seine Karnickel in der Badewanne, die nicht mehr zu gebrauchen war. Stell dir das vor: Dem haben sie die Viecher aus der Wohnung geholt! Die Banditen sind durchs Fenster gestiegen, ohne die Scheibe zu zerschlagen!“

„Aus der Wohnung?“, ruft sie und stellt das Bügeleisen ab, und patscht vor Schreck auf die Tischplatte über so viel Dreistigkeit. „Da kommt das Pack bis in die Wohnung! Was sind das nur für Zeiten, wenn man schon im eigenen Haus nicht mehr sicher ist! Würde ich hier in der Wohnung auf einen Strolch treffen – Vater, das wäre mein Tod! Ich würde einen Herzschlag kriegen... Aber ein Hund hier in der Stube... Du weißt, dass ich dafür nicht viel übrig habe! Ein Hund gehört in den Hof, an die Kette. Womit soll der gefüttert werden? Wir haben doch selbst nicht genug...“

„So schlimm ist unser Mangel nicht, Mutter, wir haben Reste für die Kaninchen und für die Hühner, und für den Hund wird sich ebenfalls etwas finden.“

Sie bricht in lautes Lachen aus und prüft mit befeuchtetem Finger die Hitze des Bügeleisens. „Grünzeug und Kartoffel-oder Möhrenschalen für einen Hund! Willst du ihn damit füttern?“

Schweigend, mit einem schrägen Blick zu ihr hin, näht der Großvater an Achims Schuh. Damit scheint dieses Thema beendet zu sein.

Unausgesprochen ist man sich einig geworden – ja, wenn es Sicherheit für alle in der Wohnung und für die Tiere auf dem Balkon geben soll, dann könnte sie nur ein scharfer und Furcht einflößender Hund geben, trotz aller Vorbehalte und Bedenken, ihn in der Wohnung um sich zu haben.

Doch noch bevor ein Hund ins Haus kommt, werden die Hühner und Kaninchen vom Balkon gestohlen. Als die Großmutter eines Morgens die Tiere füttern will, tritt sie auf die abgeschnittenen Hühnerköpfe. Die Kaninchen haben sie wohl lebendig mitgenommen. Sie ist darüber so erschrocken, dass sie laut aufkreischt, ihre Schuhe auf den Hühnerköpfen stehen lässt und barfuß in die Wohnung rennt.

„Allen Hühnern haben die Drecksäcke den Kopf abgeschnitten, Vater, und alle Kaninchen geklaut! Alle!“, weint sie in ihre Schürze. „Dafür haben wir die Tiere nicht gefüttert, dass sich solche Halunken daran satt fressen!“ Und als der Bruno, der inzwischen tagelang bei seinem Mädchen bleibt, wieder einmal nach Hause kommt, wird ihm gesagt, er möge sofort einen scharfen Hund besorgen.

„Wenn ich mir vorstelle, dass die bis auf unseren Balkon geklettert sind... Und ich liege im Bett und schlafe!“, jammert die Großmutter und schüttelt sich immer noch vor Angst und Grauen.

Es dauert nicht lange, und der Bruno bringt den Hund, einen mittelgroßen, wild aussehenden, grauen Mischling mit schrägen Wolfsaugen, der sich auf den Boden presst, eng an Brunos Schuhe und jedem, der ihn anspricht oder sich zu ihm beugt, die Zähne zeigt, so dass die Großmutter meint, er solle nicht ihnen, sondern dem Gesindel Angst einjagen. Das Tier stecke noch voller Unsicherheit, sagt der Bruno, denn es sei gerade ein Jahr alt, aber damit aus seinem Flegelalter heraus. Vor seinen Zähnen brauche sich keiner von ihnen zu fürchten, die fletsche der Hund nur deshalb, weil er nicht wisse, was man von ihm wolle. „Das gibt sich“, beruhigt der Bruno die Großmutter.

„Ein guter Hund zeigt sich seiner Familie nicht böse. Was soll das werden, wenn er niemanden in seine Nähe lässt! Hätte der wirklich Manschetten vor uns, wie du sagst, dann würde er uns sofort die Stube einseichen. Das machen sie alle, habe ich gehört. Na, Bruno, mit dem da hast du uns einen schönen Wachhund ins Haus gebracht!“

„Wart’s ab Mutter. Gib ihm ein wenig Zeit!“, entgegnet der Bruno. „Was du willst, ist ein Hund, der in deine Vorstellung passt, aber der ist nicht so ohne weiteres zu bekommen! Früher gab es einmal weißen Zucker – heute ist nur brauner, klebriger zu kriegen. Da ist der Hund – nun macht mal etwas daraus!“

„Wie heißt er?“, fragt Ursula, die beide Arme hinter ihrem Rücken versteckt, als hätte sie Angst, gebissen zu werden.

„Der hört auf jeden Namen“, sagt der Bruno. „Probiert es aus, worauf er am ehesten reagiert!“

„Keinen Namen hat er, keinen Anstand, keine Rasse, ein Hund wie geschaffen für diese Zeit“, amüsiert sich Ursula. „Na, dann lasst euch mal einen treffenden Namen einfallen! Die Kinder müsst ihr fragen, die haben Fantasie, denen wird ein passender Name für den schon einfallen.“

Weder Nieselregen noch Kälte können die unentwegt fleißigen Frauen davon abhalten, Schutt wegzuräumen, Steine zu putzen und aufzuschichten; und wenn sie etwas Brauchbares dazwischen finden, legen sie es beiseite oder verstecken es unter ihrer Kleidung. Gegen die Kälte hat die eine oder andere sich Handsäcke genäht, das sind abgeschnittene alte Strümpfe oder Beine von Unterhosen, die sie mehrfach übereinander über die Hände streifen. Käthe Gresshage, die Kriegswitwe mit den fünf Kindern, ist auch dabei. Ursula, die mit zwei anderen eine randvolle Lore zum Abladeplatz schiebt, sah sie zuvor die Straße heraufkommen und rief sie zu sich. Jetzt arbeiten beide Frauen Seite an Seite, um sich unterhalten zu können. Käthe Gresshage erzählt, dass sie es in ihrer zugigen Wohnung kaum aushalte, dass die kleinen Kinder seit dem Spätsommer erkältet seien und dass vor allem die kleine Edith, ihre Jüngste, des Nachts so stark huste, dass sie kein Auge zumachen könne. Heute sei sie für ein paar Stunden aus dem Haus gegangen, um einmal anderes zu hören als Kindergeplärre, als Husten, Schniefen und Japsen. Friedhelm, der Älteste, sei verständig genug, um auf die jüngeren Geschwister ein Auge zu haben. Im nächsten Jahr, erzählt sie, wenn das Wetter besser sei, werde sie mit allen Kindern in den Osten fahren und nach dem Grab ihres Mannes forschen. Von einer entfernten Verwandten habe sie erfahren, dass in den Soldatensärgen wohl nicht immer der läge, der darin liegen sollte, sondern dass man auch schon einmal ein Stück Baumstamm oder Steine hineingepackt hätte.

„Ja, werden die denn im Sarg beerdigt?“ fragt Ursula.

„Nicht alle. Aber einige, ja...“ Sie brauche Gewissheit, sagt Käthe Gresshage. Ursula, die sich fragt, warum man für ein Stück Baumstamm einen Sarg verschwendet, schweigt dazu. Aber sie fragt sich insgeheim, wie das gehen soll! Etwas sonderbar ist ihr diese Frau gleich vorgekommen, dass sie aber auf solche wunderlichen Ideen verfallen kann! Wahrscheinlich hat das Leid ihr auch schon zugesetzt...

Ein Jeep fährt suchend durch die Straße, und Frau Gresshage schiebt ihr Kopftuch zurück und reckt sich in die Höhe, und als der Soldat sie erkennt, winkt er heftig und ruft ihren Namen. Verschämt, beinahe widerstrebend, winkt Frau Gresshage zurück, dann stemmt sie sich mit aller Kraft gegen die Lore, um sie wegzufahren. Merkwürdig, wundern sich Ursula und auch die anderen Frauen, wie rot die Frau Gresshage geworden ist.

Am Nachmittag, als sie ihre Arbeit beendet haben, sagt Frau Gresshage: „Kommen Sie mich doch einmal besuchen. Ich habe ja niemanden, der zu mir kommt.“ Sie beugt sich dicht an Ursulas Ohr: „Bei mir bekommen Sie auch eine Tasse echten Bohnenkaffee. Kommen Sie!“

Bohnenkaffee? Wie kann diese Frau denn heutzutage Bohnenkaffee, einen solchen Luxus, anbieten? Ja, Ursula verspricht, am nächsten Tag einen Besuch bei ihr zu machen.

Frau Gresshage wohnt mit ihren Kindern in einem Loch, findet Ursula. Schlimmer war es auch nicht bei mir im Keller zwischen den Bergen von Dreck und Schutt! In beiden Räumen, die sie bewohnt, zieht es, und an einer Stelle tropft Wasser durch die Decke. In den Wänden zur Nachbarwohnung klaffen Risse, in die sie Lappen gestopft hat. Weil der Abfluss ihres Spülsteins fehlt, hat Frau Gresshage einen Eimer darunter gestellt, den sie einfach aus dem Fenster gießt, wenn er vollgelaufen ist. Dass sie noch alle Kinder bei sich hat, das ist ein Wunder, findet Ursula. In diesem nassen und stinkenden Behelf müssen die Kinder krank werden und die Mutter auch.

„Erschrecken Sie nicht“, warnt Frau Gresshage. „Hier gibt es viele Mäuse. Sie sind dreist geworden und flüchten kaum, wenn sich jemand rührt.“ Sie schiebt Ursula einen Stuhl hin, den sie mit ihrem Ärmel abwischt. „Es gibt Tage, da können die Kinder sie einfach tottreten.“

Auf dem Herd summt der Wasserkessel. Frau Gresshage nimmt den Deckel von der Herdplatte und rückt den Kessel in die Flamme. Sehr vorsichtig schüttet sie aus einer Blechdose, die sie im oberen Schrank verwahrt, Kaffeebohnen in ihre Handfläche und lässt sie in die Kaffeemühle gleiten. Und während sie die Körner mahlt, sagt sie: „Nach der Zeit mit Zichorie und gebranntem Roggen – jetzt kann ich richtigen Kaffee trinken. Der schmeckt besser als Zichorie und das andere Zeug.“ Nach einer Pause wendet sie sich Ursula direkt zu: „Sagen Sie selbst: Sind wir nicht eine amputierte Generation? Und unsere Kinder sind es auch. Eine Hälfte hat man uns genommen, jetzt müssen wir mit dem fertig werden, das uns geblieben ist. Keiner hat mich gefragt, ob ich dieses Leben führen will, keiner! Andere haben es so bestimmt. Und jetzt kann ich zusehen, wie ich zurechtkomme!“ Sie unterbricht das Mahlen und sieht Ursula Andreae streng an. „Bei allem fehlt der Mann, fehlt der Vater. Wen haben meine Jungen zum Vorbild? Mich, die Mutter, eine Frau! Der, nach dem sie sich ausrichten sollten, der fehlt!“

Frau Gresshage macht eine Pause, auch im Drehen der Kaffeemühle, und als sie weiterspricht, schlägt sie ihre Augen nieder wie jemand, der nur ungern preisgibt, was ihn bewegt. „Bei mir liegt so vieles im Argen... Sie, Frau Andreae, haben Ihren Vater und den Bruder, die Ihnen zur Seite stehen...“ Frau Gresshage spricht in Stößen, und in der gleichen Weise dreht sie ihre Kaffeemühle. Ihr bleiches Gesicht streckt sich etwas vor, und sie fragt: „Was ist daran verwerflich, wenn eine Frau sich einen Mann ins Haus holt? Wir haben außer Hausarbeit nichts gelernt. Und jetzt sollen wir uns als Ungelernte mit unseren Kindern durchs Leben schlagen, sollen sie ins Leben führen und Mann und Vater ersetzen.“ Sie schlägt mit der Hand gegen das Mahlwerk. „Ich sag’ es frei heraus: Mir hilft manchmal einer von den Besatzungssoldaten. Nun, er darf sich nicht erwischen lassen, Sie wissen ja, dass das verboten ist. Aber er kommt und hilft mir heimlich. Was glauben Sie, woher ich den Bohnenkaffee und meine Kinder manchmal ihren Riegel Schokolade, die Kekse und den Kakao haben? Ich kann in den Besatzungssoldaten, in den Amerikanern oder Engländern keinen Feind sehen. Meine Feinde, das sind...“ Ihr bleiches und hohlwangiges Gesicht senkt sich über die Schublade mit dem gemahlenen Kaffee, dessen Geruch sie genießerisch einatmet, bevor sie ihn in die Kanne schüttet. „Meine Feinde, Frau Andreae, das sind die braunen Hunde, die uns ins Elend gestürzt und sich dann davongemacht haben! Käme mir einer davon unter die Finger, glauben Sie mir, ich könnte ihn eigenhändig mit einem Ziegelstein erschlagen... Es wird über mich geredet, dass der Soldat zu mir kommt. Na, und? Ich habe nicht nur für mich zu sorgen – ich habe auch noch meine Kinder. Und selbst wenn ich mich auf etwas einlasse, was die anderen unanständig finden – es geht allein um meine Kinder, Frau Andreae.“

Alles, was Frau Gresshage sagt, wird wie unter großem Druck herausgepresst. Ihre Art zu sprechen erinnert Ursula an das Bellen ihres Hundes. Sie rührt sich nicht auf ihrem Stuhl. Vom Duft des Kaffees wird ihr schwindelig, und sie fürchtet, dass sie ihn nicht vertragen wird. Die ganze Zeit hat sie still zugehört, was Frau Greeshage zu erzählen hat; jetzt betrachtet sie deren Kinder, die wie aufgereiht an der Wand hocken und sie aus großen Augen anblicken und sich vielleicht fragen, warum die Mutter der fremden Frau von ihrem kostbaren Kaffee zu trinken gibt.

Ursula Andreae fragt: „Sie sprachen davon, nach dem Grab Ihres Mannes zu suchen. Wie wollen Sie in die Sowjetunion kommen und nach ihrem Mann forschen?“

„Sowjetunion? Nicht da, er ist bei Breslau umgekommen.“ Frau Gresshage hat zwei Tassen auf den Tisch gestellt, sie selbst trinkt aus der, die keinen Henkel mehr hat. „Ja, da gehört Sahne zu und Zucker! Beides gibt’s für uns nicht mehr. Und auf dem Schwarzmarkt – wer kann das bezahlen? Die Friedchen Klosseck nimmt für ein Pfund Kaffee weit über fünfhundert Mark. Und ob der von dieser Qualität ist... Trinken Sie, trinken Sie! Der Ted wird schon für Nachschub sorgen! Er ist ein freundlicher Mensch, der Ted, und etwas Deutsch spricht er auch, ein ulkiges Deutsch! Im nächsten Frühjahr, sagt er, will er sich nach einer besseren Wohnung für mich und die Kinder umsehen. Vielleicht in der Nähe seiner Unterkunft, da ist es leichter für ihn, kurz zu uns herüberzuhuschen.“

Wenn Frau Gresshage von ihrem Ted erzählt, dann glüht es in ihren Augen, wie Ursula es nie bei ihr vermutet hätte. Hin und wieder vergisst sie, dass sie Besuch hat: Ihre Gedanken wandern weit weg, und auf ihrem sonst harten Mund zeigt sich ein glückliches Lächeln. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie nicht allein ist, und sofort verschließt sich ihr Gesicht. Müde bläst sie in ihre Tasse; Frau Gresshage ist ein aufgebrauchter und verhärmter Mensch, der vom Leben nichts mehr erwartet, sondern nur noch dafür auf der Welt ist, den fünf Kindern ein paar Annehmlichkeiten zu schaffen und sie großzuziehen. Wenn sie einmal auflebt und Gefühle zulässt, dann in den Armen von Ted. So wie manchmal ein Sonnenfleck über ihren Fußboden huscht, so huscht ab und an ein dünnes Lächeln über Frau Gresshages Gesicht. „Sie wissen, dass es für die Besatzungssoldaten verboten ist, mit deutschen Frauen anzubandeln. Der Ted schert sich nicht darum! Wenn er mit einem unsicheren Kantonisten Patrouille fährt und nicht will, dass ich ihm zuwinke oder an seinen Jeep laufe, dann klemmt er sich eine Zigarette hinters Ohr! Stellen Sie sich das vor: Eine Zigarette im Mundwinkel, die andere klebt wie ein Bleistift hinter seinem Ohr!“

Frau Gresshage findet das so komisch, dass sie laut darüber lachen kann. „Da heißt es für mich: aufpassen, ob die Luft rein ist! Vielleicht haben sie auch schon die Bestimmungen gelockert – ich weiß es nicht. Trinken Sie noch...“

„Ich bin keinen Bohnenkaffee mehr gewohnt, Frau Gresshage, mir wird schwindelig. Ich muss wohl an die Luft gehen. Ihr Kaffee riecht nicht nur gut, er schmeckt auch so, aber mein Kopf streikt oder mein Magen...“ Ursula Andreae drängt nach draußen. In der Tür sagt sie, dass sie sich öfter besuchen sollten. Sie werde wiederkommen, ganz bestimmt!

„Es tut gut, sich jemandem anvertrauen zu können!“, ruft Käthe Gresshage hinter ihr her. „Danke für Ihren Besuch!“

„Weihnachten gehen wir alle in die Kirche!“, bestimmt die Großmutter und klatscht ihren Teig auf den Tisch, dass es im Fußboden dröhnt. „Wenn die Kleinen mitgehen, Bruno, dann gehst auch du einmal mit!“

Der Bruno sitzt vor der kleinen Fensterscheibe. Seit Tagen ist es neblig, und dieses Wetter drückt aufs Gemüt, findet er, es macht müde und reizbar. Und obwohl er einmal sagte, er werde nie mehr das Verlangen nach Schnee verspüren – jetzt wünscht er sich eine kalte und klare, eine freundliche weiße Welt. Hinter seinem Rücken walkt und knetet die Mutter den zähen dunklen Teig, aus dem sie Weihnachtsgebäck herstellen will. Bis jetzt hat er geschwiegen, aber er mag sich ihr Gerede nicht mehr anhören. Wäre das Wetter besser, dann wäre er schon lange nach draußen gelaufen. Wenn sie wieder anfängt, dann wird er gehen. Er möchte es ihr sagen, aber schweigt.

„Wir haben endlich Frieden“, hört der Bruno sie murmeln. „Wir haben überlebt und sind heil geblieben – sollten wir da nicht in die Kirche gehen? Ja, ich bin selbst sehr nachlässig darin geworden. Früher hat keiner von der braunen Horde mich vom Kirchgang abhalten können, ich bin immer gegangen! Gütiger Himmel, was habe ich für Umwege gemacht! Und jetzt kann ich alle Tage gehen, und ich gehe nicht! Möge Gott mir verzeihen... Dass wir unser Leben behalten haben, dass uns kein Arm oder Bein weggeschossen wurde, das ist nicht unser Verdienst, nein...“ Wieder klatscht sie den Teig auf den Tisch, dass der Bruno den Verdacht hat, sie lasse ihren Ärger, der ihn treffen sollte, an diesem Klumpen aus. „Ja, ja, auch wenn wir Not leiden – aber wir haben doch endlich Frieden. Seit gut einem halben Jahr Frieden! In die Kirche wird gegangen, da gibt es kein Wenn und Aber! Haben wir nicht alle gelobt: Wenn wir überleben, dann werden wir uns ändern, werden uns an den erinnern, der uns bewahrt hat.

Die einen saßen im Bunker oder im Luftschutzkeller und hatten die Bomben über sich, die anderen lagen im Schützengraben und über ihren Köpfen dröhnten die Geschütze – hat denn keiner so etwas versprochen?“ Durch ihr Erzählen ist manche schlimme Begebenheit wieder lebendig geworden, so dass ihr Kinn zu zittern beginnt; die Hände im Teig, sieht sie zu ihrem Sohn hin: „Bruno, könntest du mir diesen Gefallen tun?“

„Was hast du davon?“, knurrt er. „Ob ich nun da sitze oder hier in der warmen Stube... Was hast du davon? Nichts! Du willst nur wieder einmal deinen Willen durchsetzen!“ Er dreht sich jäh zu ihr um. „Du weißt, dass ich nie dahin gegangen bin. Mir reichte ein für alle Mal der Konfirmandenunterricht mit den Gottesdienstbesuchen! Das reicht bis ans Ende meiner Tage! Und was du da eben von einem Versprechen gesagt hast: Ich, Mutter, habe nie so etwas versprochen. Niemandem. Auch nicht dem da oben!“ Er deutet gegen die Zimmerdecke.

„Bruno, du bist hart!“, ruft sie. „Ja, hart bist du, undankbar und kaltherzig! Du erträgst es nicht mehr, bei uns zu sein. Wochenlang bekommt man dich nicht zu Gesicht. Wenn ich doch wüsste, was in dich gefahren ist, Bruno!“

Der Bruno ist wütend aufgesprungen und hat den Stuhl umgestoßen. „Mutter, wenn du nicht willst, dass ich davonlaufe, dann sei still, bitte. Ich habe auch meine Schwierigkeiten: Arbeit ist nicht zu bekommen, und dann...“

Die Mutter kommt an seine Seite und hebt den Stuhl auf. „Was ist: und dann, Bruno?“

Bockig wendet er sich ab und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und schweigt. Die Mutter will ihm ins Gesicht sehen, und wieder fragt sie: „Bruno, was heißt: und dann?“

„Ihr Frauensleute könnt einem ganz schön auf die Nerven gehen.“

„Frauensleute?“, fragt die Mutter. Über ihr Gesicht huscht ein verstehendes Lächeln; das ist es also, sie weiß Bescheid. „Weißt du, Junge: Auch wenn es einmal nicht so kommt, wie wir es uns wünschen – davon, Bruno, stürzt nicht gleich der Himmel ein!“

Beinahe fluchtartig rennt er aus dem Zimmer. „Mutter, du immer mit deinen Sprüchen!“, hört sie ihn schimpfen. Im Flur springt er mehrere Stufen gleichzeitig hinunter; vom Balkon sieht sie, dass er immer noch rennend die Joppe überzieht und in Richtung Luisenpark läuft.

Zu seinem Ärger mit der Arbeit hat der Junge auch noch Kummer mit seinem Mädchen, denkt die Großmutter. Er sollte sie einmal mitbringen und uns vorstellen, das festigt die Beziehung. Beim Vater und mir war es nicht anders. Ja, ich werde sie einladen, vielleicht an einem Weihnachtstag. Huhn oder Kaninchen können wir nicht mehr bieten, die wurden von anderen gefressen. Aber es wird mir schon etwas einfallen! Obwohl Teig an ihren Händen klebt, hat die Mutter wegen der Kälte beide Arme um ihren Körper geschlungen. Sie sieht dem Bruno nach, bis er hinter den Ruinen verschwunden ist; erst jetzt geht sie in die Stube und an ihre Arbeit zurück. Neben dem Herd hat der Vater einen Arm voll Holz abgelegt, damit sie ordentlich feuern kann. Ein Blech wird sie mit Brezeln backen, ein zweites mit Fladen, die sie mit einer Tasse aus dem ausgerollten Teig stechen wird. Im Herbst hat sie Kürbiskerne gesammelt, damit wird sie das zweite Blech mit den kreisrunden Fladen verzieren, dass es aussieht, als wäre es Mandelgebäck. Und als der Vater durch den Türspalt späht, meint sie, dass zu Weihnachten Tannenduft gehöre, zumal zu diesem ersten nach dem Kriege, das sie in Friedenszeit feiern können.

„Vater, sieh dich einmal im Luisenpark um“, schlägt sie vor. „Du kennst dich überall gut aus. Über einen Tannenstrauß werden Ursulas Kinder sich freuen, und wir freuen uns auch!“, fügt sie hinzu. Der Vater lacht und schließt leise wieder die Tür und steigt nach unten. Diesmal geht sie nicht auf den Balkon, um ihm nachzusehen.

Gegen Mittag setzt am Heiligabend Regen ein. Vorsorglich hat der Großvater wieder reichlich Holz neben dem Herd aufgestapelt, und die Großmutter legt ordentlich nach, dass die Platten glühen. „Wenn wir uns sonst auch einschränken – heute muss es gemütlich sein“, hat sie gesagt. „Denn wir feiern Weihnachten, Weihnachten ohne Sirenengeheul, ohne Flugzeuggedröhn und zusammenkrachende Häuser. Eben Friedensweihnacht!“

Als es zu dunkeln anfängt, haben Mutter und Großmutter die Zinkwanne auf zwei Stühle gestellt, haben sie mit Wasser gefüllt und ein Kind nach dem anderen gebadet. Danach wurden sie von der Mutter ins Bett gebracht, weil sich das vor dem Heiligen Abend so gehöre, hat sie ihnen auf ihr erstauntes Fragen geantwortet. Nachdem die Kinder gebadet waren, haben die Erwachsenen die Wanne auf den Boden gestellt und sich nacheinander darüber gewaschen. Von ihnen kann keiner hineinsteigen, weil sie zu klein ist. In der Stube ist es derart heiß, dass Ursula, die vor der Wanne kniet, die Balkontür einen Spalt geöffnet hat, und da entdeckt sie einen kleinen, etwas schiefen Tannenbaum, den der Großvater vor ihr und den Kindern versteckt hat. Da kniet sie über ihrem Badewasser und weint laut in ihre Hände, dass die Großmutter besorgt an die Tür klopft und fragt, was denn wäre.

„Nichts! Es ist nichts, ich habe Wasser in die Nase bekommen!“, antwortet sie. Einen Moment lauscht sie, ob die Mutter noch hinter der Tür horcht, dann überlässt sie sich wieder ihrem Gefühl, verloren und – wie Käthe Gresshage es gesagt hat – amputiert worden zu sein. Bis vor kurzem hatte sie die Hoffnung, im nächsten oder übernächsten Jahr mit Reinhold Weihnachten feiern zu können. Jetzt weiß sie, was ihm widerfahren ist und dass sie künftig allein mit den Kindern sein wird, mit Reinholds Kindern. In den beiden Jungen und dem Mädchen wird er ihr nahe sein, in den Gesten, in der Art, die er den Kindern vererbt hat. In den vergangenen Monaten hat sie nicht in der Weise um ihn trauern und ihn beweinen können wie an diesem Abend, an dem sie vor ihrer Zinkwanne kniet und sich für das bevorstehende Fest reinigt. Diese Reinigung dauert lange, und als sie endlich fertig ist, fühlt sie sich ganz leer, wie ausgeschabt. Ursula Andreae hat sich nicht nur äußerlich gereinigt, sie hat mit dieser Reinigung wohl auch in ihrem Innern etwas Drückendes und Schweres abgewaschen. Hastig gießt sie das Badewasser Eimer für Eimer in den Ausguss, dann huscht sie an der Mutter vorbei in ihre Schlafstube und legt sich ins Bett. „Lass mir eine halbe Stunde Zeit“, sagt sie. „Ich habe das Verlangen, mich aufzuwärmen.“

Gegen Abend, es ist schon lange dunkel, gehen alle in die Kirche, nur Bruno fehlt, und die Großmutter hofft, dass er vorausgegangen ist. Aber in der übervollen, in der dämmerigen Kirche kann sie ihren Sohn nicht sehen. Heute ist der ganze Kirchenraum für die Gottesdienste hergerichtet. Pastor Mildenberg hatte mit dem Auftauchen der Flüchtlinge einen Teil abtrennen und mit Stroh füllen lassen, um ihnen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. An diesem Tag ist die Kirche wieder Kirche, vollgestellt mit Bänken, mit Kerzen auf dem Altar; seitlich davon steht eine fast bis an die Decke reichende Tanne mit einigen Strohsternen. Zwischen den Bänken und in den Ecken sind noch Reste vom Stroh zu sehen, aber wo die Flüchtlinge geblieben sind, das weiß keiner. Es geht das Gerücht, dass der Pastor sie alle in sein Pfarrhaus geholt habe, das vom Keller bis zum Dachboden mit Menschen vollgestopft sei. Pastor Mildenberg sieht alt aus, und er ist mager geworden, aber seine Stimme kommt der Gemeinde wie eine Posaune vor, die von der Kanzel herunter lautstark die Botschaft vom Frieden, von Versöhnung und Gottes-und Menschenliebe bis in den hintersten Winkel verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Diese Worte ruft er immer wieder, so dass einige in der Gemeinde sie leise mitsprechen.

Was für eine kräftige Stimme noch in diesem kläglich gewordenen Menschen steckt! Andächtig lauschen sie, die einen wischen ihre Augen, andere schnäuzen sich immerzu, wieder andere sitzen bewegt und nickend und versuchen Ordnung in ihren Kopf zu bekommen, der voller Gedanken und Erinnerungen ist.

Während des Gottesdienstes laufen die Tränen über die Wangen der Großmutter, und die Mutter hält die ganze Zeit ihr Taschentuch an den Mund gepresst; nur der Großvater sitzt da, vornüber gebeugt, die Hände im Schoß, als halte er einen Schuh, der frisch besohlt werden müsse. Die Kinder langweilen sich und würden gerne etwas fragen, aber das sonderbare Verhalten von Großmutter und Mutter macht sie scheu und lässt es nicht zu. So schweigen sie und betrachten den riesenhaften Tannenbaum mit den sich drehenden und schaukelnden Strohsternen.

Die Wohnung ist dunkel und immer noch sehr heiß, als sie nach Hause kommen, und vom Bruno ist auch hier nichts zu sehen. Sie essen ihr Weihnachtsessen, Stampfkartoffeln und eine süßsäuerliche Tunke, in der Reste einer Handvoll zerfaserter Backpflaumen schwimmen. Während der Abendmahlzeit sagt die Großmutter, dass alle, außer dem Großvater, sich zurückziehen sollten, weil das Christkind kommen werde. Als Ursula mit den drei Kindern in ihrer Schlafstube wartet, entsteht Unruhe und auch Lärm in der Stube nebenan, in der die Großmutter zu hören ist. Es ist der Bruno, der am Arm seines Mädchens gekommen ist.

„Dass du in einem solchen Zustand kommst, das habe ich nicht von dir erwartet! Nein, Bruno, das habe ich dir nicht zugetraut!“, schimpft die Großmutter. Der Bruno gibt ihr eine merkwürdig klingende Antwort, worauf die Großmutter ihn anfährt: „Dass du dich an diesem Abend besäufst, Bruno! Schande über dich! Und Sie, Sie bringen ihn mir auch noch ins Haus! Hätten Sie ihn doch gelassen, wo er das gefunden hat, wonach er suchte! Unsere erste Friedensweihnacht, die habe ich mir anders vorgestellt!“ Eine fremde, weibliche Stimme versucht, etwas zu erklären. Die Großmutter ist still, der Großvater antwortet der Fremden so ruhig und bedächtig, dass niemand wagt, den Mund aufzutun und etwas dagegen zu sagen. Für längere Zeit kann Ursula nichts mehr hören, dann wird die Wohnungstür krachend zugezogen, und sie bekommt mit, wie die Eltern sich leise besprechen. Es dauert lange, bis die Großmutter die Tür zur Schlafstube öffnet und seltsam verärgert sagt: „Nun kommt einmal herüber. Ihr seid beschert worden.“

Der Tochter flüstert sie zu: „Es war der Bruno, der gekommen ist. Jetzt ist er wieder fort.“

In der Zimmerecke neben der Balkontür steht ein kleiner Tannenbaum auf einem Stuhl, ein Tannenbaum mit einigen Lichtern und Flitterschmuck aus buntem, glänzendem Papier. Die Kinder drücken sich fassungslos an die Mutter und starren dieses Wunder an, und die Großmutter lehnt sich mit feuchten Augen an den Türrahmen und wischt ihr Gesicht. Auch die Mutter weint. Sie weint ohne einen Laut, nur ihre Schultern werden wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt. Schließlich sagt der Großvater, der sich an den Tisch gesetzt hat: „So weint doch nicht. Das hier ist keine Beerdigung, es ist Weihnachten. Danach habt ihr euch doch gesehnt, Mutter, Urschel! Uns wird kein Alarm, kein Flieger stören...“

„Nein, die nicht, die nicht, aber...“, antwortet die Großmutter bitter. „Da gibt es anderes...!“

Sie schluckt ein paar Mal und seufzt, dann scheint sie sich gefasst zu haben, denn sie schlägt vor, ein Weihnachtslied zu singen. Die Mutter sträubt sich, ihr sei nicht nach Singen zumute.

„Willst du wie alle anderen Abende am Tisch sitzen? Es ist Weihnachten, und zu Weihnachten, Urschel, wird gesungen!“, entscheidet sie. „Wir singen: ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her’. Das ist ein Lied, das auch die Kinder verstehen. Wir haben es heute Abend schon in der Kirche gesungen...“ Mit ihrer brüchigen Stimme beginnt sie zu singen, und nach und nach fallen die Mutter und der Großvater ein, und sogar der Wolfgang erinnert sich an die eine oder andere Liedzeile.

Nach der dritten oder vierten Strophe ist ihnen der Text entfallen, da nimmt die Großmutter das Marlenchen an die Hand und führt es an den Tannenbaum. „Das ist für dich, mein Kind.“ Sie zeigt auf eines der drei Häuflein, die mit einem Handtuch zugedeckt sind. Darunter sitzt Marlenchens Stoffpuppe! Die vermisste und unauffindbare Stoffpuppe ist wieder da! Jetzt sitzt sie in neuen Kleidern zwischen einem Schal und ein Paar Handschuhen auf einer Milchsatte mit dunkelbraunen Keksen und schwarzen, splitterigen Bonbons, als säße sie auf dem Töpfchen. Dann holt die Großmutter Achim, zuletzt den Wolfgang. Der Achim hat einen bunten Blechpapagei bekommen, der auf einem Gestell sitzt und bei der leisesten Berührung zu schaukeln anfängt.

„Du bist groß, bist ein Schulkind“, sagt die Großmutter und zieht das Handtuch von Wolfgangs Häufchen: „Für dich ist etwas Kostbares abgegeben worden. Sieh einmal!“ Es ist ein Buch, das über seine Satte gelegt worden ist, halb Bilderbuch, halb Lesebuch, mit kurzen, zweizeiligen Versen. „Das kannst du lesen, das kannst du auch auswendig lernen...“

Jedes Kind hat seine Satte mit den abgezählten Süßigkeiten, die auch alle gleich groß sind. Als Überraschung liegt bei beiden Jungen der Pullover, dessen Ärmel von der Mutter neu angestrickt wurden, sowie ein Paar lange Strümpfe und neue Leibchen. Die Mutter besteht darauf, sie sogleich anzuziehen. „Es ist Weihnachten“, sagt sie. „Da dürft ihr ruhig adrett aussehen. Ihr bleibt ja in der Stube und geht nicht nach draußen – also werden die feinen Sachen auch nicht schmutzig gemacht.“

Sie kann es kaum erwarten, die Jungen in den ausgebesserten Pullovern zu sehen und hilft ihnen beim Umziehen. Dann tritt sie ein paar Schritte zurück, um sie zu begutachten. „Es passt, und gut seht ihr darin aus!“, ruft sie und schiebt beide vor die Großmutter, dass auch sie sie betrachten kann.

„Wie das kratzt“, jammert Achim und er fährt mit beiden Händen in die Strümpfe.

„Was kratzt?“

„Die Strümpfe.“

„Quatsch! Die kratzen nicht. Du bist es nur nicht gewohnt, solche Strümpfe zu tragen. In ein paar Stunden hast du dich daran gewöhnt“, sagt die Mutter und wendet sich dem Wolfgang zu. „Gefallen sie dir, Wolfgang?“

„Es stimmt, was der Achim sagt: Die Strümpfe kratzen.“

„Jetzt fang du auch damit an!“, ruft die Mutter gereizt. „In diesen Zeiten muss man nehmen, was man kriegt! Da kann niemand wählerisch sein! Wir sind es auch nicht!“ Mit ihrem Kinn deutet sie zu den Großeltern. „Ja, wisst ihr denn, was wir aushalten? Großmutter, Großvater und ich?“

Die Jungen verlieren kein Wort mehr über diese Angelegenheit, sie sitzen mit ihren Geschenken in der Ecke, aber sie spielen nicht. Als die Großmutter nach ihnen sieht, da bemerkt sie, dass sie still vor sich hin weinen.

„Warum weint ihr?“, fragt sie so leise, dass die Mutter nichts hören kann.

„Weil die Strümpfe kratzen.“

„Lass mich einmal sehen!“ Sie schiebt eine Hand in Achims Strumpf, und als sie sie herauszieht, ist sie blutverschmiert. „Was ist das? Achim? Du blutest ja!“

Beide Jungen haben sich die Oberschenkel blutig gekratzt. Wütend stapft die Großmutter auf die Tochter zu. „Ursula, willst du den Jungen das Weihnachtsfest verderben?“, fährt sie sie an. „Sieh einmal!“ Sie streckt ihr die blutverschmierte Hand hin. „Die kratzen sich die Haut vom Fleisch. In diesen Strümpfen können sie nicht herumlaufen, das ist Dreck: Die fassen sich wie ein alter Sack an.“ Sie geht wieder zu den Jungen. „Hört zu: Ihr zieht das sofort aus!“

„Soll ich die vergeblich herbeigeschafft haben?“, fragt die Mutter. „Was habe ich dafür hergegeben!

Auch wenn sie ein wenig hart sind – sie werden sich daran gewöhnen...“

Nein, Ursulas Protest hilft nichts; in diesem Haus oder in dieser Stunde hat die Großmutter das Sagen, und beide Jungen dürfen sich von diesem kratzigen Zeug befreien. Endlich ist es für sie noch Heiligabend geworden.

Der Heilige Abend ist vergangen, Mitternacht ist vorüber; die Kinder schlafen seit zwei Stunden, und auch die Erwachsenen sind müde und wollen ins Bett, als der Bruno zurückkommt. Wie es aussieht, ist er mittlerweile nüchtern geworden. Wieder hängt er am Arm von Regina Stieglitz, seinem Mädchen, und beide sind verlegen und grinsen die Großmutter an, nachdem sie sie hinter der Karbidlampe im Dunkeln entdeckt haben. Kleinlaut gehen sie zuerst zu ihr und reichen ihr die Hand und wünschen frohe Weihnachten, dann zum Großvater, zuletzt zur Ursula. Die ist verärgert darüber, dass der Bruder diese fremde Person mitten in der Nacht ins Haus bringt. Dadurch, dass die Großmutter für alles Verständnis zeigt, was er sagt und tut und alles entschuldigt, denkt der Bruno nicht über sein Verhalten nach und macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, findet Ursula. Vor allem das ärgert sie: dass die Großmutter sich sofort versöhnlich zeigt. Mit ihr, der Tochter, wäre sie anders umgegangen. Und so nimmt sie sich vor, ihren Unmut nicht zu verbergen. Einer muss den beiden zeigen, was er von diesem rücksichtslosen Überfall hält.

„Unseren Festbraten haben wir aufgegessen“, scherzt die Großmutter versöhnlich. „Brot mit Hagebuttenmarmelade, das kann ich euch noch geben.“

Regina lehnt dankend ab, nein, nein, sie seien gekommen, um sich für den unpassenden Überfall vorhin zu entschuldigen. Der Bruno habe nach Hause gewollt, um mit der Familie in die Kirche zu gehen, sagt sie, und das sei die volle Wahrheit. Aber dann habe er doch ein oder zwei Glas Schnaps zu viel getrunken, und er sei plötzlich umgekippt und habe nicht mehr gehen können.

„Bruno, wie bist du denn an den Schnaps gekommen?“, will die Großmutter wissen.

Das Mädchen wird rot. „Mein Vater hat welchen gebrannt“, gesteht sie und sieht sich um, als könnte sie von jemandem gehört werden, der das nicht wissen darf. „Obwohl das verboten ist – er hat Schnaps gebrannt, damit wir was zum Tauschen haben.“

„Wir verraten nichts!“, beruhigt die Großmutter sie. „Aber lassen Sie es nicht zu, dass der Bruno wieder so eine Dummheit begeht und trinkt. Dadurch könnte auch Ihr Vater auffallen.“

Ursula tritt aus dem Schatten, im Licht der Karbidlampe ist sie nur undeutlich zu sehen. Sie stellt sich neben den Bruno. „Ist sie seine Frau? Warum soll sie ihn vom Trinken abhalten, Mutter? Der Bruno ist alt genug und macht sowieso, was er will. Einen Schnaps zu trinken, das ist kein Verbrechen. Lass ihn doch trinken, wenn er trinken kann! Und wenn er hinterher einen schweren Kopf hat, dann muss er allein damit fertig werden. Ich kann versuchen, meine Kinder von Dämlichkeiten abzuhalten, nicht einen erwachsenen Menschen.“

„Was meinst du damit?“, fragt die Großmutter verwundert. „Heißt du es gut, dass er sich betrinkt und dann vergisst, was er sich vorgenommen hat?“

„Ich sage: Der Bruno ist kein Kind mehr, Mutter. Für alles, was er macht und sich in den Kopf setzt, ist er allein verantwortlich. Er braucht niemanden, der auf ihn aufpasst. Dich nicht mehr und seine Freundin auch nicht. Wenn sie seine Frau ist, wird sie ihm sagen, was er lassen soll. Aber ob er sich das sagen lässt...“

„Urschel, wie du redest! Warum greifst du mich an?“ Die Großmutter sieht verwundert von der Tochter zum Sohn, der nur Augen für seine Regina hat. Und weil der Großvater beruhigend nach ihrer Hand greift, sagt sie: „Ach, du bringst mich durcheinander... Über Jahre habe ich mich seinetwegen gegrämt, wie soll ich es plötzlich lassen können?“

Der Bruno hat alles ruhig mit angehört. Plötzlich geht er zur Großmutter und legt einen Arm um sie und küsst sie auf die Wange. „Mutter, du bist nicht mehr böse auf mich?“, fragt er.

Sie sieht ihn, noch verwirrter, von der Seite an. Dann lächelt sie ein wenig und meint: „Richtig böse, Bruno, bin ich nicht gewesen, nur enttäuscht.

Du bist auch gleich so heftig geworden, so aufsässig...“

„Sie kann auf jeden von uns böse werden, nur nicht auf dich“, knurrt Ursula im Dunklen, aber der Bruno verhindert eine neue Verstimmung, indem er erklärt: „Als ich nach Hause gekommen bin, da konnte ich die ersten Nächte nicht in einem Bett schlafen, Mutter. Wie soll ich mich jetzt in einem Leben zurechtfinden, das mich nicht braucht? Ich kann nicht tagelang auf einem Stuhl sitzen und den Himmel ansehen. Ich kann auch nicht Tag für Tag Steine putzen. Ich will das nicht! Ich möchte, dass mich jemand braucht. Dass ich sagen kann: Hier ist meine Aufgabe!“

Seine Hüfte umschlingend drückt die Großmutter ihn an sich. „Bruno, warum sagst du mir das nicht? Wie soll ich dich verstehen? Gott im Himmel, was sind das für Zeiten, dass wir uns nicht mehr verständigen können! Alles ist aus den Fugen geraten, alles!“

Ursula ist verdrießlich geworden, dennoch hat sie Kaffeewasser aufgesetzt, und der Großvater langt nach hinten und stellt Tassen auf den Tisch. „Na, dann ist wohl manches geklärt“, sagt er. „Siehst du, Mutter, nun fängt der Heilige Abend für dich noch einmal von vorne an!“

Und dann reden alle gleichzeitig und so laut, dass Ursula fürchtet, ihre Kinder könnten aufgeweckt werden. An der Schmalseite des Tisches schneidet die Großmutter Brot und bestreicht es mit Hagebuttenmarmelade. „Ihr beide seid durchgefroren“, sagt sie. „Und Hunger habt ihr auch. Junge Leute müssen essen...“

Ja, der Bruno langt tüchtig zu. Regina, sein Mädchen, isst nur, weil der Bruno sie nötigt. Als sie ihr Brot aufgegessen hat, blickt sie alle der Reihe nach an, dann geht ihr Blick nach oben und sie sagt so leise, dass die Großeltern eine Hand ans Ohr legen müssen: „Der Bruno und ich – wir haben uns heute verlobt... Und zum nächsten Weihnachtsfest – nicht wahr, Bruno? – zum nächsten Weihnachtsfest wollen wir dann heiraten...“

„Verlobt?“, fragt die Großmutter sprachlos, die es nicht fassen kann, was die Regina Stieglitz verkündet. Sie schaut zum Großvater hin, als bräuchte sie von ihm Bestätigung.

Das Mädchen nickt. „Ja, verlobt... Der Bruno und ich...“

„Hat er deshalb Schnaps getrunken und den Gottesdienst vergessen?“

„Nein, nein. Er hat vom Schnaps probieren sollen, ob der gut ist.“

Über diese Nachricht schüttelt die Großmutter immerzu ungläubig den Kopf und seufzt wieder, und sie weiß nicht, was sie anfangen soll. Der Großvater schiebt die Karbidlampe einige Male auf dem Tisch hin und her, dann meint er: „Ihr habt euch also verlobt, gut und schön. Und heiraten wollt ihr auch bald. Auch das ist zu verstehen.“ Er wendet sich an den Bruno. „Wie willst du eine Familie ernähren, Bruno, wenn du keine Arbeit, kein Einkommen hast? Glaubst du, dass die Zeiten in einem Jahr besser geworden sind?“

„Sie können nicht bleiben, wie sie sind, und schlechter können sie auch nicht mehr werden, Vater. Ich glaube fest daran, dass es auch für mich aufwärtsgehen wird!“

„Na!“ Der Großvater zieht die Karbidlampe zu sich heran, weil die Regina sich die Nase zuhält und den Kopf wegdreht. Ursula nimmt einen Span und zündet die Kerzenstummel wieder an. „Dann wollen wir es zur Feier dieses ungewöhnlichen Tages noch einmal festlich machen“, sagt sie. „Dieses Weihnachten mit einer Verlobung, das nächste dann mit einer Hochzeit. Wenn alles gut geht!“

Sie haben sich so gesetzt, dass sie in das flackernde Licht sehen können. Ursula hat zusätzlich noch die Ofentür geöffnet und etwas Holz nachgelegt. Manchmal flammt das Feuer hell auf und beleuchtet die Gesichter. Der Großvater meint, und es klingt, als spräche er mit sich selbst: „Ach, so ein Schnäpschen, das wäre jetzt nicht verkehrt...“

„So, so, du möchtest auch ein Schnäpschen auf unser Wohl trinken, Vater? Und ihr?“, fragt Bruno die Großmutter und die Schwester.

Er lacht verschmitzt und geht behutsam, um Ursulas Kinder nicht zu wecken, in sein Zimmer, wo er eine kleine Flasche versteckt hat, die er mit den Zähnen entkorkt und neben die Karbidlampe stellt.

„Von meinem zukünftigen Schwiegervater“, sagt er. „Damit wir das Fest begießen können.“

„Weihnachten braucht nicht begossen zu werden!“, ruft die Großmutter, die Gläser auf den Tisch stellt. „Ja, das ist ein fröhliches Fest, aber zugleich auch ein ernstes!“

„Nicht auf Weihnachten, Mutter!“, antwortet der Bruno. „Trinkt auf unser Wohl, auf das, was wir uns vorgenommen haben!“ Er legt seinen Arm um Reginas Schulter, drückt sein Gesicht in ihr Haar und flüstert mit ihr, worüber sie rot wird.

Der Großvater hebt die Flasche, die kein Etikett hat, dicht an sein Gesicht, um den Schnaps besehen zu können.

Der Bruno gießt ein und hebt sein Glas gegen die Runde. „Na, dann prosit!“

Nachdem er getrunken hat, vertraut er seinen Eltern an, dass er bald mit der Regina eine Wohnung nehmen werde. „Wir wollen uns besser kennenlernen“, erklärt er.

Die Bärin  Roman

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