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SITTEN
ОглавлениеDas Wort »Ethik« ist gebräuchlich geworden und überall gegenwärtig. Häufig wird es in Bindestrich-Verbindungen mit Medizin, Politik, Wirtschaft, Umwelt, Bio- oder Wissenschaft gebraucht. Es ist von ›Bereichsethiken‹ die Rede, so als hätte jeder der vielen eben genannten Bereiche eine eigene Ethik. Darüber hinaus gibt es noch die Allgemeine Ethik, von der aber unklar ist, in welchem Verhältnis sie zu jenen Bereichen steht, und was das Allgemeine daran ist. In der Allgemeinen Ethik gibt es die großen Alternativen der Tugendethik, der Sollens-Ethik (Deontologie) und des Utilitarismus (Konsequentialismus), die aber selbst wieder einige Varianten haben. Schließlich gibt es noch die Meta-Ethik, in der es darum geht, wovon die Ethik eigentlich handelt. Um es kurz zu machen, die Ethik gibt es nicht, sondern nur die vielen Verbindungen mit diesem Wort und entsprechend viele Bedeutungen, die einander teilweise widersprechen. Es gibt keine gemeinsame Bedeutung, aber das gemeinsame Ziel, dem Handeln der Menschen eine zuverlässige und richtige Orientierung und Begründung zu geben.
In jeder Inflation wird etwas entwertet, was davor mehr wert war. Ist das beim inflationären Gebrauch des Wortes ›Ethik‹ ähnlich? War das, was mit dem Wort gemeint war, einmal mehr wert als heute? War es das Gute, das es nun nicht mehr gibt? Das Wort ›Ethik‹ stammt aus dem Griechischen und ist ein Kunstwort. Es kann von dem griechischen Wort ethos mit Epsilon am Anfang (Sitte, Brauch) abgeleitet werden. Es kann aber auch vom griechischen Wort êthos mit Eta am Anfang (Sitte, Manieren, Charakter) abgeleitet werden. Die Bedeutung des Wortes ist in beiden Fällen das gewöhnliche Verhalten, das, was sich gehört, was üblich ist, was man tut und nicht tut.
Hegel sagt in der Phänomenologie des Geistes, die gesunde Vernunft wisse unmittelbar, »was recht und gut« ist (278). So verstehe auch ich das sittliche Bewusstsein. Es ist dabei zunächst noch unbestimmt, wie vernünftig dieses Bewusstsein ist. Klar ist aber, dass die Menschen in diesem Bewusstsein unmittelbar urteilen. Sie gebrauchen dabei, wie Pirmin Stekeler in seinem Kommentar erklärt, genau die »Kriterien des Rechten und Guten«, die »ihre eigenen sind« (Bd. 1, 1187). Die kulturelle Bindung des sittlichen Bewusstseins ist offensichtlich, weil es kein anderes Bewusstsein als das kulturell geprägte gibt, das uns Menschen unmittelbar für unsere Urteile zur Verfügung steht.
Das häufig gebrauchte Wort ›Moral‹ leitet sich vom lateinischen Wort mores (Sitten) ab. Sitten machen das Verhalten da, wo sie gepflegt werden, zuverlässig und erwartbar. Wenn wir davon sprechen, dass ein Verhalten ›normal‹ ist, meinen wir, es entspricht den Sitten, dem Üblichen. Das Urteil ›Das ist völlig unüblich‹ bedeutet in manchen Kulturen so viel wie ›Es ist schlecht‹. Das Sittliche ist das Normale, das, wozu man erzogen wurde und was sich gehört. Wir lernen es als Kinder und müssen später selten lange nachdenken, was sich gehört. Niemand braucht dafür eine Theorie. Wenn wir Glück haben, lernen wir so, ›gut‹ und ›schlecht‹ zu unterscheiden. Wenn wir dieses Glück nicht haben, hilft uns auch keine Theorie.
Das Selbstverständliche hier oder anderswo ist offensichtlich nicht das, was sich in allen Räumen der Welt so gehört. Das Gute hier ist nicht unbedingt das Gute anderswo, es kann sogar anderswo etwas Schlechtes sein und umgekehrt. Sitten haben ihre Räume. Sie sind regional verschieden, abhängig von Sprachen, Kulturen und Religionen, abhängig davon, zu welcher Gesellschaft man gehört, welche Religion man hat oder hatte, nicht mehr hat oder nie hatte. Wenn man nie etwas hatte, was andere haben, hat man dafür etwas anderes als Ersatz. Der Wert, den Sitten haben, wird regional und von den Eigenen geschätzt, von den Anderen aber eher abgelehnt. Es kommt darauf an, wozu man gehört.
Wenn wir uns das sittliche Verhalten anschauen, erkennen wir seine Verbindung mit bestimmten Räumen, mit Gegenden. Von ›moralischen Räumen‹ zu sprechen, ist nicht metaphorisch. Sitten sind immer irgendwo beheimatet. Solange wir uns diese Verbindung anschauen, sind wir nur Beobachter, gehören wir nicht zu den Orten, die wir beobachten. Wir bewegen uns zwischen den Regionen, und dieses ›Zwischen‹ ist typisch für eine Reise. Die Rede von einer Reise ist deswegen auch nicht metaphorisch, sondern entspricht der Bewegungsart unseres Denkens zwischen dem Einzelnen und Allgemeinen, zwischen Sitten und Sittlichkeit, zwischen Sitten und Ethik. Die Sorge ist eine besondere Art der Bewegung, weil sie uns an Orte führen kann, mit denen wir nicht vertraut sind.
Nur als Reisende unterwegs zwischen den moralischen Räumen erkennen wir den Unterschied, den Menschen regional zwischen den Eigenen und den Anderen, die fremd oder bekannt sind, machen. Dieser Unterschied ist einerseits normal, weil die Menschen ihn gewöhnlich mehr oder weniger bewusst machen. Andererseits ist der Unterschied eine Quelle von Unrecht, Diskriminierung und Ausgrenzung. Es mag, wie manche glauben, ein biologisch geprägter, quasi natürlicher Unterschied sein. Sollte er dies sein, erklärt es seine Existenz, entschuldigt oder begründet diskriminierendes Verhalten aber nicht.
Es gibt auch überregionale Sitten jenseits der eigenen und fremden wie Gastfreundschaft, Fleiß, Hilfsbereitschaft, Ehrerbietung den Eltern und Vorfahren gegenüber, Höflichkeit und Sauberkeit. Diese Sitten werden in vielen, vielleicht nicht in allen Kulturen geschätzt und praktiziert. Die Scham und die Ehre gibt es in allen Kulturen, aber auch Sitten des Essens, des Trinkens, der Kleidung, des Grüßens, des Umgangs zwischen Männern und Frauen. Diese Sitten sind nicht in allen Kulturen gleich. Was die einen für sittlich gut halten, kann für die anderen schlecht sein. Häufig wird die regionale Grenze zwischen sittlich gut und schlecht von Religionen und der Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Ethnie, einer Sprache bestimmt.
Sitten haben keine globale, über ihren Kulturraum hinausreichende universale Bedeutung. Die Ehrerbietung, welche die Menschen z. B. in Japan ihrem Kaiser gegenüber empfinden, wird uns erst bewusst und verständlich, wenn wir etwas darüber lesen, etwa in Karl Löwiths (1897 – 1973) kleinem Buch Der japanische Geist (1943). Der japanische Patriotismus, die Treue zum Kaiser und die Ehrerbietung gegenüber den eigenen Vorfahren ist uns fremd, weil wir diese Art von sittlichem Gefühl nicht (mehr) kennen. Löwith macht dies am Beispiel eines Vergleichs deutlich. Während wir es als eine Pflicht betrachten, die Wahrheit zu sagen, halten dies die Menschen in Japan für eine Unhöflichkeit, weil sie zum Gesichtsverlust und damit zum Verlust der Ehre führen kann. Es mag sein, dass dies in den 1940er Jahren, der Zeit von Löwiths Aufenthalt in Japan, so war und heute nicht mehr so ist.
Offensichtlich gibt es nicht den Wert der Sitte, und was als ›gut‹ gilt, ist nicht überall dasselbe. Es gibt sehr viele Sitten, nicht nur diejenigen, die mit den ursprünglich griechischen Worten gemeint und gut waren. Die sittliche Vielfalt ist in unserer Welt eher ein Problem als ein Wert, weil die einen mit ihren Sitten bei den anderen mit deren Sitten anecken. So entstehen Konflikte, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft erschweren und für einzelne Menschen tödlich sein können. Um sie zu beherrschen, ist nicht nur Toleranz und Respekt vor der Vielfalt der Sitten nötig, sondern auch die Sorge, die Konflikte zu lösen. Die Sitten gehören zu den Menschen und ihrer Herkunft. Schon ein kurzer Blick auf die sittliche Lage zeigt, dass es keinen Sinn hat, von einer Inflation der Sitten oder einer Inflation des sittlich Guten zu sprechen, bloß weil es viele Sitten und viele Bedeutungen des sittlich Guten in den Räumen der Welt gibt.
Der inflationäre Gebrauch des Wortes ›Ethik‹ entwertet offensichtlich nichts, was vorher und früher ein sittlicher Wert war. Die Inflation der Wortverbindungen mit ›Ethik‹ spiegelt die Vielfalt der Wertvorstellungen weltweit. Ähnliches gilt für die Vielfalt der Sitten, der keine einheitlichen Wertvorstellungen zugrunde liegen. Sitten wie die Hilfsbereitschaft oder der Fleiß leiten aber das alltägliche Denken und Handeln der Menschen mehr oder weniger bewusst. ›Leiten‹ bedeutet ›zu etwas bewegen‹, wofür man keine Gründe braucht. Ob die Leitung gut oder schlecht ist, hängt auch vom Charakter des Einzelnen ab. Ein Egoist lässt sich anders leiten als ein Altruist. Sitten bewegen zu etwas selbstverständlich Erscheinendem. Gründe sind dazu nicht nötig. Deswegen ist die Leitung des Verhaltens durch Sitten moralisch unzuverlässig.
Wir erkennen jetzt den Unterschied zwischen Sitte und Ethik: Jede Ethik entwickelt Begriffe des guten Handelns, des Sollens und der Pflichten und integriert sie in eine Theorie. Da die Begriffe des guten Handelns und des Sollens nichts Selbstverständliches sind, müssen sie begründet werden. Dagegen sind die Sitten etwas Selbstverständliches, was nicht begründbar ist. Sitten sind Anschauungen des Verhaltens, für die es Namen gibt, aber keine Begriffe. Jede Ethik entwickelt dagegen Kriterien guten Handelns und erklärt, warum es gut ist, sich daran zu orientieren. Sitten sind praktische Anleitungen des Verhaltens, begründen es aber nicht. Wer sich nicht an die üblichen Sitten hält, kann ausgegrenzt, diskriminiert und verachtet werden. Wer sich nicht an einer bestimmten Ethik orientiert, hat dergleichen nicht zu befürchten. Er kann sich je nach seiner Wertschätzung gegenüber theoretischen Begründungen und seinen Einstellungen entsprechend auch an einer anderen Ethik oder an keiner orientieren.
Es gibt überall gute und schlechte Sitten. Diese Unterscheidung ist noch eine sittliche, keine ethische. Den Unterschied macht die Sittlichkeit. Sie ist die Summe der guten Sitten, die es verdienen, allgemein anerkannt zu werden. Sie können die Grundlage von ethischen Normen sein. Sitten gelten immer in regionalen Räumen. Die Sittlichkeit gilt überregional. Mit ihr bezeichnen wir den Bestand an Maximen, die den guten Sitten einer kulturell und zivilisatorisch ähnlich gebildeten Lebenswelt entsprechen. Aus vielen Maximen der Sittlichkeit wie z. B. ›Versprechen sind zu halten‹ können ethische Begriffe gewonnen werden. Die Sittlichkeit ist wie die Sitten mit Gefühlen verbunden. Wir empfinden Verstöße gegen das normale Verhalten, bevor wir wissen, ob sie begründet oder willkürlich sind. Das normale, selbstverständliche Verhalten selbst empfinden wir als wohltuend. Die Gefühle des Sittlichen sind im menschlichen Gewissen lebendig. Das Gewissen ist nicht zuverlässiger als die sittlichen Gefühle. Deswegen ist es keine taugliche Grundlage der Ethik.
In der Einleitung nannte ich die Sorge eine Lebensstimmung, die der Sympathie und dem Wohlwollen anderen gegenüber, aber auch der Lebensangst zugrunde liegen kann, wenn sie uns wie ein böser Dämon ergreift. Sie hat eine helle und eine dunkle Seite. Die helle ist für die Sittlichkeit bedeutsam, als Grundmotiv, sich verantwortungsvoll um das eigene Leben und das Leben der Anderen, aber auch um die Natur und die Umwelt zu kümmern. Dabei geht es zunächst um die Menschen in der Nähe, um die eigene Familie, die Verwandten, die Freunde. Die Sorge ist wie die Sitten in regionalen Räumen zu Hause. Als Grundlage der Sittlichkeit geht sie aber weit über die nahen moralischen Räume hinaus. Deswegen ist die Sorge in Gestalt von Sympathie und Wohlwollen eine Kraft, Konflikte zwischen Sitten zu lösen.
Die Versuche, sittliche Konflikte rechtlich oder ethisch-theoretisch zu lösen, bewegen die Menschen kaum. Dünkel, Verachtung und Hass sind schlechte, verwerfliche, dumpfe Gefühle, die unempfänglich für Argumente und Theorien sind. Gute Gefühle der Sorge wie Sympathie und Wohlwollen können schlechte Gefühle mit ihrer Wärme und Zuwendung entkräften und Menschen für Umkehr und Versöhnung öffnen. Die Sorge kann alle moralischen Räume erfüllen und auch die Fernen und Fremden erreichen. Dagegen ist der Radius der Sitten begrenzt.
Sitten bestimmen den Alltag. In der alltäglichen Sorge zeigt sich auch die Sittlichkeit. Wenn das eigene Kind, der Partner oder die Partnerin oder der Nachbar krank sind und Hilfe brauchen, müssen wir uns nicht erst fragen, ob wir ihnen helfen sollen. Wir sorgen uns selbstverständlich um sie. Wir müssen nicht nachdenken, ob wir hilfsbereit sein sollen, weil es selbstverständlich ist. Die Hilfsbereitschaft ist zunächst etwas Selbstverständliches. Wenn jemand, den wir nicht kennen, Hilfe benötigt, werden wir erst nachdenken, ob wir ihm oder ihr helfen und uns um sie sorgen sollen. Dies ist ein erster, von der Sorge bewegter Schritt von der Sitte zur Sittlichkeit, von engeren regionalen Räumen zum weiteren moralischen Raum. Die Sittlichkeit ist ein grundlegender Maßstab ethischer Urteile. Die Ethik kann mit Hilfe von Prinzipien wie der Würde und der Gleichheit der Menschen begründen, warum es geboten ist, Fremden zu helfen. Eine Ethik kann die Frage beantworten, warum wir das, was uns im einen Fall selbstverständlich erscheint, in jeder ähnlichen Lage immer und überall genauso tun sollten oder nicht.
Diese Frage ist noch einfach zu beantworten, weil sie sich auf die Sittlichkeit als selbstverständlich geltenden Maßstab beziehen kann. Die für die Sitten und die Sittlichkeit grundlegende Sorge für sich und die Anderen kann aber ein Problem werden, wenn es darum geht, ob wir etwas sollen, was gegen eine Sitte verstößt. Wenn es in einer Gesellschaft z. B. Sitte ist, dass Frauen schlechter als Männer behandelt werden, und eine Frau oder ein Mann dem ethischen Prinzip folgen will, dass Frauen und Männer gleiche Achtung und gleich respektvolle Behandlung verdienen, wollen sie etwas, was gegen eine geltende Sitte verstößt. Diesem Konflikt liegt die ethische Norm der Gleichheit der Geschlechter zugrunde, und diese Norm leitet sich vom Prinzip der Gleichheit aller Menschen ab.
Der Schritt von den Sitten, die z. B. zwischen den Geschlechtern herrschen, und der Norm der Gleichheit der Geschlechter ist groß. Es ist ein Schritt von etwas Konkretem zu etwas Abstraktem, von einer Anschauung zu einem Begriff. Der Schritt ist nur möglich, wenn die Sitten sich kulturell verändert und weiterentwickelt haben und den Ansprüchen eines erweiterten moralischen Raums genügen. Die Gründe dafür können wir nur nachträglich mit Hilfe der Historiographie und Ideengeschichte verstehen. Nur die Sitten, die zur Sittlichkeit geworden sind, können zu einer Ethik werden.
Die Sittlichkeit ist der Schritt von der Sitte zur Ethik. Sitten sind nur anschaulich präsent und über regionale Grenzen sittlicher Räume hinweg oft unverträglich. Deswegen sind sie als Grundlagen einer allgemein geltenden Ethik nicht geeignet. Die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Sitten und Ethik können wir aber nicht ignorieren, weil nur Sitten die Kraft haben, das Verhalten bewusst und unbewusst zu leiten. Keine Ethik hat diese Kraft. Eine Ethik kann gute Gründe für Motive liefern, die moralisches Verhalten bewegen sollten. Eine Ethik kann auch nachträglich Handlungen und Handlungsweisen begründen, rechtfertigen oder kritisieren. Sie kann moralisches Handeln aber nur indirekt motivieren. Die Sittlichkeit nimmt dagegen die bewegende Kraft der Sitten auf, verstärkt oder schwächt sie und lenkt sie in einer Richtung, die moralisch anspruchsvoll ist. Die Sittlichkeit muss ihrerseits zur Sitte werden, damit sie als Ethik wirksam werden kann.
Den Mangel an motivierender Kraft ethischer Theorien können wir indirekt daran erkennen, dass keine dieser Theorien eine überzeugende, nicht-tautologische Antwort auf die Frage geben kann, warum wir moralisch handeln sollen. Die Forderung, dass wir moralisch handeln sollen, weil es geboten ist, moralisch zu handeln, weil wir es sollen und weil es eine Pflicht ist, kann nicht befriedigen. Sie ist nicht nur tautologisch, sondern verweist auf die Begriffe des Sollens und der Pflicht. Begriffe können aber nicht motivieren. Würden wir uns darauf verlassen, dass eine Ethik eine Antwort auf jene Frage geben kann, müssten wir moralisch resignieren. Wenn wir dagegen auf die Frage, warum wir z. B. aufrichtig sein und unsere Versprechen halten sollen, die Antwort geben, weil es sich so gehört, verweisen wir auf keinen Begriff, sondern auf eine Praxis. Sie macht anschaulich, was sich gehört. Wir verstehen, was gemeint ist, weil wir es erleben können. Jede Praxis liefert Beispiele und Vorbilder, die exemplarisch zeigen, wie etwas gemacht wird und was sich gehört. Auf diesem Weg wird dann auch begrifflich erkennbar, was geboten ist. Wir bilden ethische Begriffe auf praktischen Grundlagen.
Kant entgeht das Problem der moralischen Motivation nicht. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gesteht er ein, dass das Moralgesetz, das »objektiv« (4, 400) gilt, selbst kein Motiv ist, ihm zu folgen. Er versucht dieses Manko in einer längeren Fußnote (401) mit dem »Gefühl« der »Achtung« vor dem Moralgesetz wettzumachen. Es sei ein von der Vernunft und nicht von außen kommendes, ein »selbstgewirktes Gefühl«. Kant glaubt zu Recht, dass wir nur durch Gefühle und nicht durch abstrakte Begriffe zum Handeln bewegt werden. Selbstverständlich können Gefühle durch Nachdenken und Einsicht verstärkt und vertieft werden. Wenn ich erkenne, wie sehr mir mein Freund behilflich war, ohne dass ich es bemerkte, werde ich ihm noch dankbarer für seine Freundschaft sein. Meine Fähigkeit, Dankbarkeit zu empfinden, entsteht aber nicht durch meine Einsicht in die Hilfe meines Freundes. Ich muss die Fähigkeit schon haben, damit ich sie durch Einsicht vertiefen kann.
Es läge nahe, dass Kant die motivierende Kraft der Maximen in seine Kategorischen Imperative überführt. Genau dies kann er aber nicht, weil sein Theorieprogramm vorsieht, dass das Moralgesetz und nicht die Maximen das bestimmen sollen, was wir wollen. Wir sollen »aus reiner Pflicht« handeln, nur das habe einen »moralischen Werth« (4, 406). Der »Zweite Abschnitt« der Grundlegung folgt diesem Gedanken, um die Bedeutung des Kategorischen Imperativs zu erklären. Dies sind die beiden wichtigsten Formulierungen des Kategorischen Imperativs: »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (421) und »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (429). Ich komme auf den zweiten dieser Imperative später zurück, wenn es um die Bedeutung der menschlichen Würde geht. Ich werde dann mit Kants Imperativ den dazu gehörenden moralischen Raum erkunden. Für ihn gibt es nur einen moralischen Raum, weil in ihm alle sittlich bestimmten moralischen Räume aufgehoben sind. Zunächst müssen wir aber erkennen, dass Kant mit dem Gefühl der Achtung keine Antwort auf die Frage gibt, was uns zum moralischen Handeln motiviert. Obwohl sein Theorieprogramm das Motivationsproblem nicht löst, bietet seine Moralphilosophie eine gute theoretische Orientierung.