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SITTLICHKEIT
ОглавлениеZur Freiheit des Erzählens gehört es, bereits Bekanntes anders zu erzählen. Diese Freiheit nehme ich mir. Was eine Ethik und was Sitten sind, ist ja nicht unbekannt. Auch der Zusammenhang zwischen beidem ist bekannt. Ich erzähle ihn anders, als er bisher verstanden wird. Der Zusammenhang ist schon in der griechischen Antike lebendig, in einer Zeit, in der es das Wort ›Ethik‹ noch nicht gibt und der hinter ihr stehende Theorieanspruch umstritten ist. Es gibt – zumindest seit Platon – das, was wir heute ›Tugendethik‹ nennen. Er untersucht die Tugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Klugheit und der Tapferkeit in vielen Dialogen und vergleicht sie mit weniger guten oder schlechten Sitten. Die Tugenden sind nichts anderes als die guten Sitten, das, was ›Sittlichkeit‹ bedeutet. Andere Sitten wie das Recht des Stärkeren sind aber für viele nicht weniger attraktiv als die guten Sitten, für die Sokrates wirbt.
Zu den Sitten, die Sokrates kritisiert, gehören das Recht des Stärkeren und die damit zusammenhängenden Anmaßungen, etwa die, lieber Unrecht zu tun als Unrecht zu leiden. Etwas pauschal und ungerecht können wir auch die spartanischen Sitten im Umgang mit männlichen Nachkommen und ihrer Erziehung zu Kriegern zu den Sitten zählen, die nicht gut sind. In Sparta waren diese Sitten freilich hoch angesehen, weil sie den Bestand der Polis garantierten. Auch in Athen fanden nicht nur die Sitten, die Platon in seinen Dialogen schätzt, Beifall, sondern auch einige schlechte. Es kommt darauf an zu verstehen, dass die guten Sitten eine kleine Auswahl aus der großen Menge an Sitten sind, von denen viele einen zweifelhaften Ruf haben. Was ›gut‹ an den guten Sitten ist und warum sie besser als die anderen sind, ist nicht selbstverständlich, sondern setzt Einsicht und Verständnis voraus. Platons Lehrer Sokrates vermittelt die Einsicht durch anschauliche Beispiele.
Über die Verbindung zwischen Sitte und Ethik und die Bedeutung der Sittlichkeit will ich noch mehr erzählen. Um sie zu verstehen, sollten wir eine konkrete Anschauung von dem haben, was wir ›gute Sitten‹ und ›Sittlichkeit‹ nennen. Wir können Sitten auch, angelehnt an Kant, ›Maximen des Handelns‹ nennen. Denn einige, aber nicht alle dieser Maximen können Kategorische Imperative werden. Dies ist ein weithin akzeptierter Katalog von Maximen: Übervorteile niemanden; nehme nichts auf Kosten anderer in Anspruch (fahre nicht schwarz); halte deine Versprechen und mache keine falschen Versprechen (sei ehrlich); schikaniere, täusche, nötige, unterdrücke und quäle niemanden; töte niemanden, es sei denn in Notwehr; füge niemandem Schaden zu; manipuliere und zwinge niemanden; sei nicht heuchlerisch, nicht überheblich, nicht selbstgerecht und nicht anmaßend; sei wahrhaftig, ehrlich und aufrichtig, sei aufmerksam und hilfsbereit, den Eigenen und den Fremden gegenüber; sei großzügig, verständnisvoll, nachsichtig und nicht engstirnig! Dies sind zweifellos gute Sitten. Einige zählen zu den Zehn Geboten (nicht morden, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis geben). Viele werden in den Kulturen und Religionen der Welt anerkannt. Sie geben eine Vorstellung menschlicher Sittlichkeit und machen anschaulich, was mit ›Menschlichkeit‹ gemeint ist.
Wenn ein Kind zu Hause oder in der Schule nicht weiß, was diese Maximen der Menschlichkeit bedeuten, hat es keinen Sinn, ihm Begriffe des Schwarzfahrens, der Ehrlichkeit oder der Wahrhaftigkeit etc. zu nennen. Es kommt darauf an, dem Kind anschauliche Beispiele dieser Verhaltensweisen und am besten auch ihres jeweiligen Gegenteils zu erzählen. Wenn es beides verstanden hat, versteht es auch die dazu passenden Begriffe. Das Kind hat dann eine Vorstellung von den Begriffen, die es ohne die Beispiele nicht hätte. Der Erwachsene, der dem Kind Beispiele vor Augen führt, kann anhand seiner Beispiele prüfen, ob er selbst die Begriffe verstanden hat.
›Menschlichkeit‹ verhält sich zu ›menschlich‹ wie ›Sittlichkeit‹ zu ›sittlich‹. Wir nennen auch das weniger gute, das fehlerhafte, unaufmerksame, törichte, irrtümliche, egoistische und engstirnige Verhalten ›menschlich‹, weil Menschen nicht perfekt sind. Über harmlose Beispiele dieses Verhaltens können wir lachen, weil wir uns selbst darin erkennen. Wenn dieses Verhalten keine schlimmen Folgen hat, neigen wir dazu, es für verzeihlich zu halten und nachsichtig zu sein. Ähnlich nennen wir Verhaltensweisen ›sittlich‹ geprägt, die abhängig von Kulturen und Religionen sind und bei Menschen anderer Kulturen und Religionen auf Ablehnung stoßen. ›Menschlichkeit‹ und ›Sittlichkeit‹ sind Namen für die bestmöglichen Verhaltensweisen von Menschen, unabhängig davon, zu welcher Kultur oder Religion sie gehören.
Hegels Konzept der Sittlichkeit schließt, wie erwähnt, kulturelle Differenzen und Konflikte nicht ein, aber auch nicht aus. Er versteht ›Sittlichkeit‹ als Wirksamkeit des kulturell geprägten Bewusstseins von Menschen, aber nicht dynamisch. Dabei sollte dieses Bewusstsein immer wieder neue Gestalten annehmen können. Dies ist aber in Hegels hierarchischem System von Recht, Moralität und Sittlichkeit kaum möglich. Warum dies nicht möglich ist, wird in Hegels Überlegungen zum menschlichen Handeln erkennbar. Unter der Überschrift »Der wahre Geist. Die Sittlichkeit« (291) erklärt er in der Phänomenologie des Geistes, was er unter ›Handeln‹ versteht. Pirmin Stekeler nimmt in seinem Kommentar zu diesem Kapitel das wieder auf, was er bereits zum ›Geist‹ sagt. Der Geist, der sich im Handeln zeigt, sei »das Bewusstsein … im Unterscheiden, Urteilen, Schließen und Handeln« (Bd. 2, 140). Dieser Anspruch an die Sittlichkeit setzt einen idealen Maßstab voraus, der in den moralischen und kulturellen Räumen unserer gegenwärtigen Welt nicht erfüllt ist. Wie hoch dieser Anspruch ist, wird erkennbar, wenn Pirmin Stekeler vom »kontrollierenden Mitwissen« im Urteilen spricht.
Die kulturell, aber auch rechtlich und religiös geprägten Formen der Sittlichkeit unserer Lebenswelten erfüllen diesen kognitiven Anspruch kaum. Menschen folgen in ihrem Verhalten häufig blind und adaptiv dem, was üblich ist, aber auch dem, wozu sie durch geltende Regeln und Normen verpflichtet sind. Menschen zu bestimmtem Verhalten zu verpflichten oder gar zu zwingen kann unausweichlich sein, wenn sie uneinsichtig sind und andere durch ihr Verhalten gefährden würden. Die Straßenverkehrsordnung, aber auch der Schutz vor Seuchen sind Beispiele für begründeten Zwang. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zum Schutz vor Seuchen und die Regelung der Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit gelten unabhängig von der Zustimmung und Einsicht der Menschen.
Es ist leicht erkennbar, dass viele kulturell geprägten Formen der Sittlichkeit ungeeignet für Kategorische Imperative sind. Die moralische Selbstbestimmung Kants kennt nur den Selbstzwang im Anschluss an die Prüfung von Maximen auf ihre Eignung als kategorisch geltende Imperative. Selbst das, was wir ›gute Sitten‹ nennen und der Sittlichkeit zurechnen, eignet sich nicht ohne weiteres als Imperativ dieser Art. Nehmen wir als Beispiel die Hilfsbereitschaft und die Großzügigkeit. Diese guten Sitten können nicht ohne anspruchsvolle Voraussetzungen zu Pflichten werden. Wer hilfsbereit und großzügig sein will, benötigt dafür einige Mittel. Arme und Hilfsbedürftige können anderen nicht helfen. Sie können vielleicht das Wenige, das sie haben, teilen und sich als großherzig erweisen. Wirklich großzügig können nur Menschen sein, die anderen etwas von dem abgeben wollen und können, was sie über den eigenen Bedarf hinaus besitzen und worauf sie verzichten. Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit können Kategorische Imperative werden, wenn sie die Bedingungen enthalten, unter denen sie sich verallgemeinern lassen. Jeder kann Opfer mangelnder Hilfsbereitschaft werden. Jeder kann alles verlieren, was ihm erlaubte, großzügig zu sein. Die menschliche Sittlichkeit kann kaum durch Kategorische Imperative geprägt werden.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel der von Aristoteles hoch geschätzten Tugend der Freundschaft. Die Befähigung zur Freundschaft schließt Hilfsbereitschaft, Zuneigung, Verständnis, Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Aufrichtigkeit ein. Freunde kann es nur wenige geben, und es gibt sie in moralischen Räumen nur in der Nähe. Es ist sogar so, dass die Nähe durch die Freundschaft bestimmt wird und nicht umgekehrt die Freundschaft durch die Nähe. Deswegen können wir weit entfernt lebenden Freunden nahe sein. Die Tugend der Freundschaft könnten wir nur dann als Kategorischen Imperativ formulieren, wenn wir alle eben genannten Merkmale als Bedingungen in die Forderungen des Imperativs integrieren könnten. Das entscheidende Merkmal der Zuneigung können wir aber mit keinem Imperativ verbindlich machen. Zuneigung kann ähnlich wie die Liebe niemandem zur Pflicht gemacht werden. Das zum Dekalog gehörende und von Jesus wiederholte Gebot ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ würde dem widersprechen, wenn das ›wie dich selbst‹ nicht der Vergleichsmaßstab wäre. Der Vergleichsmaßstab macht das Liebesgebot nicht zu einer absolut geltenden Liebespflicht, sondern zum Appell, zu versuchen, den anderen wie sich selbst zu lieben. Dies gelingt nicht immer. Dass das christliche Liebesgebot auch Feinde einschließt, macht aus dem Appell eine Zumutung.
Die Maximen der Sittlichkeit gelten, ohne dass sie ethisch theoretisch begründet werden könnten. Sie sind selbst unbegründete Grundlagen der Moral, unabhängig davon, ob sie sich für Kategorische Imperative eignen. Selbst wenn sie sich dafür eignen, wird ihre Geltung lediglich durch ihre Allgemeingültigkeit bestätigt. Sie werden aber nicht begründet. Für die guten Sitten gibt es keine Begründungen. Sie sind wünschenswert und verdienen Anerkennung unabhängig von Begründungen. Es kommt darauf an, sich von ihnen überzeugen zu lassen. Noch mehr kommt es darauf an, ihnen folgen zu wollen.
Die Sitten, die wir der Sittlichkeit zurechnen, gibt es in den kulturellen Räumen mit ihrer jeweiligen Geschichte. Sie gelten nicht raum- und zeitlos, sondern wandeln sich mit den Mentalitäten. Sitten wie Redlichkeit, Rechtschaffenheit und Vaterlandsliebe sind in den Augen vieler verstaubt. Die Vaterlandsliebe ist von ihrem Missbrauch und ihrer Manipulierbarkeit in unserer jüngeren Geschichte belastet und kann nicht ohne Erinnerung daran zu unserer Sittlichkeit gehören. Der abstrakte und emotional blasse Verfassungspatriotismus mag an ihre Stelle treten. Redlichkeit und Rechtschaffenheit haben als Ehrlichkeit, Gradlinigkeit und Zuverlässigkeit noch immer die Bedeutung, die sie hatten. Ob sie noch über das frömmelnde Bekenntnis zu ihnen hinaus ernst genommen werden, ist unklar.
Unsere sittlichen Gefühle können von Verhaltensweisen bestätigt, gefördert oder verletzt und in Frage gestellt werden. Ein Forum dieser Gefühle ist das Gewissen. Es regt sich, wenn wir selbst etwas tun, was fragwürdig oder schlecht ist. Ein gutes Gewissen gibt es nur im Volksmund, aber nicht wirklich. Heidegger hat wohl recht: Es gibt nur das schlechte Gewissen, das Alarm schlägt. Er spricht vom Ruf des Gewissens als Aufruf zum Schuldigsein (Sein und Zeit, 269). Wir sind oft unsicher, ob das, was wir getan haben, gut oder schlecht ist, und diese Unsicherheit äußert sich als Gewissen. Eine Klärung unserer Unsicherheit kann das Gewissen nicht leisten. Da unsere sittlichen Gefühle wandelbar sind, ist auch unser Gewissen wandelbar. Das Gewissen und die sittlichen Gefühle werden in der Erziehung entwickelt. In Räumen mit schlechten Sitten können sich das Gewissen und gute sittliche Gefühle aber kaum entwickeln. Sie werden eher unterdrückt und pervertiert. Deswegen sind das Gewissen und die sittlichen Gefühle nicht nur wandelbar, sondern auch nicht zuverlässig. Wenn sich das Gewissen nicht regt, ist dies noch kein Nachweis dafür, dass alles gut ist. Wir Menschen können uns durch Anpassung leicht angewöhnen, Schlechtes und Verwerfliches gewissenhaft und zuverlässig zu tun. Deswegen dürfen wir unserem Gewissen und unseren sittlichen Gefühlen nicht blind vertrauen.
Da ich Kant als ethischen Ratgeber nannte, wäre es unaufrichtig, wenn ich nicht darauf hinweisen würde, dass er dem Gewissen als »innerer Stimme« ohne Wenn und Aber vertraut. Dabei fällt ihm dies nicht leicht, weil das Gewissen im Rahmen der moralischen Autonomie zwar Richter und Angeklagte sein sollte, dies aber nicht gleichzeitig sein kann. Thomas Oehl zeigt, dass Kant der Aporie entgehen kann, wenn der Mensch nach der Tat auf unterscheidbare Weise im Gewissen dem eigenen, autonomen Urteil und getrennt davon dem externen göttlichen Urteil gerecht wird (»Gott als Richter?«). Der Erfolg dieser Rettung des Gewissens hängt davon ab, wie Kant ›Gott‹ versteht. Die moraltheologische Rettung des Gewissens kann theoretisch gelingen, schützt das Gewissen in einer amoralischen Praxis aber nicht vor Irrtum und Verfall.