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3. KAPITEL

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Das riesige Haus, in dem sich die turbulenten Ereignisse der nächsten Wochen abspielen, liegt im Warthegau. Der Lebensborn e. V. hat dem Bau eine Zentralheizung aufgezwängt, wie er dem deutschen Volke das blonde Element aufpfropfen will.

Bis zur nächsten Kleinstadt sind es acht Kilometer. Ursprünglich war das Heim ein Nervensanatorium. Es ist umgeben von gemähten Feldern. Aus den Bäumen hinter dem Garten rieselt das dürre Laub. Es ist warm. Die sinkende Sonne vergoldet die Dahlienköpfe, die in dicken Rabatten die Kieswege umsäumen. Die hohen Glastüren zur Terrasse sind geöffnet. Die schwebenden Fäden des Altweibersommers tanzen zu flirrendem Mädchenlachen, zu Gesprächsfetzen, zu kehligen Männerstimmen, zu dem Klirren von Porzellan, zu dem Klappern der Bestecke.

Der Speisesaal ist im Erdgeschoß untergebracht. Sturmbannführer Westroff-Meyer sitzt mitten unter seinen Gästen, die Arme lässig auf die Tafel gestützt, so, als ob er sich selbst nur gewaltsam daran hindern könnte, die Hände in Zufriedenheit zu reiben. Sein Gesicht drückt stereotypes Wohlwollen aus. Sein Mund bewegt sich in munter-harmlosem Gespräch. Über seine Schultern werfen die ölgemalten Augen des Führers einen heroischen Blick auf die gewaltige Kaffee-Tafel. In dieser Umgebung wirkt Hitler, als ob er Hunger hätte . . .

Der Heimleiter hat die erste Begegnung seiner Lebensborn-Kandidaten organisiert. Um die Peinlichkeit zu vermeiden, arrangierte er diese Kaffeestunde für etwa 50 Teilnehmer in Blond. Kuchenschlacht heißt der Brauch, den der Nationalsozialismus zu seiner Gesellschaftsform erhob. Vom Pimpfen bis zum Amtswalter, von der NSV bis zur Arbeitsfront ist sie das gängige Mittel, um Kameradschaft und NS-Kultur, Lebensfreude und Freßsucht, Sportgeist und Gemütlichkeit zu pflegen. In diesem Falle soll aus Bergen von Streuselkuchen sogar die staatlich geförderte Liebe sprießen.

Bunte Reihe am hufeisenförmigen Tisch. Die Mädchen zum Teil in Zivil. Die Männer ausnahmslos in Uniform. Das Gros stellt die SS. Und der Lebensborn hat tatsächlich auch hier eine strenge Auswahl getroffen . . . so fehlen eigentlich die Schlägertypen der Totenkopfverbände. An ihre Stelle kommandierte man die Soldaten von der Front als Teilnehmer dieser seltsamen Tagung. Fast sieht es so aus, als ob das EK I das niedrigste Eintrittsgeld sei.

Die Dienstgrade reichen vom Uscha bis zum Hauptsturmführer. Die Schulterstücke rangieren hinter der Schädelform. In einer Ecke sitzen zwei Heeresoffiziere. Drei Stühle sind noch frei, reserviert für geladene Gäste der Luftwaffe. Die schnellste Waffengattung der Wehrmacht hat sich, wie üblich, verspätet.

Doris sitzt in der Mitte. Zuerst wagt sie es kaum, sich umzusehen. Ihre Hände sind feucht und zittern. Der Kaffee schmeckt bitter, der Kuchen nach Sacharin. Ihre weiße RAD-Ausgehbluse trägt sie wie ein Opferhemd.

»Wir beginnen mit dem offiziellen Teil erst, wenn wir vollzählig sind«, sagt Westroff-Meyer. Er sitzt vierschrötig in einem Armstuhl, schon optisch ein allmächtiger Kuchenpräsident.

Der Mann, der rechts von Doris sitzt, trägt die Uniform eines Hauptsturmführers. Sein Selbstbewußtsein ist ein Meter 88 groß. Auf der linken Seite seines Waffenrockes hat er fast alles, was der Krieg an Auszeichnungen bietet. Er heißt Horst Kempe und wirkt im Gespräch fast verlegen. Er fühlt sich zunächst nicht ganz wohl am Platz.

Vor drei Tagen führte er noch eine Kompanie Sturmpioniere gegen die Russen. Man holte ihn weg. Er trug es mit dem Fatalismus des Frontoffiziers, dem alles recht ist, außer Zigarettenmangel. Er wäre lieber bei seinen Männern geblieben. Als er erfuhr, warum man ihn abberufen hatte, fluchte er zuerst, und dann grinste er. Er ist ein Typ, der immer vorne steht, an der Front sowohl wie im Wirtshaus, der beim Skat am höchsten reizt und am Schießplatz am kürzesten zielt.

Er beugt sich nach links, betrachtet die Tischkarte, die vor Doris liegt.

»Doris«, sagt er, »hübscher Name.«

Sie zuckt die Schultern.

»Biste schüchtern?« berlinert Kempe.

»Mitunter.«

»Komischer Laden hier, was?« versetzt der Hauptsturmführer grinsend.

Doris nickt. Er betrachtet sie von der Seite. Sie gefällt ihm. Sie gefällt allen. Kempe kämpft gegen seine Empfindungen wie gegen Partisanen. Er möchte etwas Nettes sagen, sucht nach Worten, runzelt die Stirn, zerquetscht den Fluch zwischen den Zähnen, denkt an seine Einheit und stäubt sich Puderzucker von der Uniformjacke.

Er berührt ihre Hand wie aus Versehen.

Doris zuckt zusammen wie unter einem Stromstoß.

»Entschuldigen Sie«, sagt der Hauptsturmführer unbeholfen.

Er wendet sich nach rechts, an Lotte. Sie trägt ihr Feiertagsgesicht. In den letzten zwei Tagen, seit sie weiß, für welchen Zweck sie ausgewählt ist, ging mit der RAD-Jungführerin eine Verwandlung vor. Ihr durchschnittliches Mausgesicht wirkt auf einmal fast hübsch. Die dicken Zöpfe ihrer Gretchenfrisur hat sie in einem Kranz um den Kopf gewunden. Sie trägt ihn wie eine Krone.

»Sie kommen von der Front?« sagt sie zu Kempe.

»Ja«, erwidert der Hauptsturmführer zerstreut.

Sie deutet auf sein EK I.

»Für was haben Sie das bekommen?« fragt sie.

»Weeß nich . . .«, brummt er, »ick war der einzige Offizier des Bataillons, der es noch nich hatte.«

Lotte betrachtet ihn betroffen.

»Aber das muß man sich doch verdienen.«

»Sicher«, antwortet Kempe. Er grinst gutmütig. »Wissen Se«, setzt er hinzu, »da vorn is es janz einfach . . . entweder man krepiert, dann braucht man keenen Orden. Oder man wird verwundet, dann bekommste ihn beim nächstenmal. Oder man lebt noch, dann kriegt man ihn . . . « Er lacht lautlos. »Und daß ick noch lebe, daran zweifeln Se doch wohl nich?«

»Ja . . . aber . . .?« stottert Lotte.

»Keen aber«, erwidert er. » . . . Noch’n Stück Kuchen?«

»Nein, danke. . . . Ein EK I ist doch die Ehrung für eine Tat?«

»Sicher«, versetzt der Hauptsturmführer mit Freude an der Ironie. »Aber Taten vollbringen wir doch alle – oder?«

Sturmbannführer Westroff-Meyer sieht ärgerlich auf seine Armbanduhr. Im gleichen Moment baut sich eine Ordonnanz vor ihm auf, steht stramm und meldet ihm etwas.

»Führen Sie die Herren gleich herein«, schnarrt der Heimleiter.

Niemand achtet auf den Zwischenfall. Nach der zweiten Tasse Kaffee ist die erste Verwirrung etwas aufgetaut. Das Gespräch plätschert jetzt. Ganz alltäglich. Vom Lebensborn wird nicht gesprochen . . .

Doris sieht auf. Ihr abwesender Blick streift die Tür, durch die drei Luftwaffenoffiziere kommen. Luftwaffe auch, denkt sie und betrachtet den Hauptmann, der in den Raum tritt und mit lässiger Ehrenbezeigung stehenbleibt, gefolgt von einem jungen Leutnant, der ungeniert die anwesenden Mädchen mustert, bevor er den auf sie zukommenden Sturmbannführer grüßt. Hinter ihm steht ein Oberleutnant, dessen Gesicht noch halb verdeckt ist und der jetzt fast zögernd näherkommt, dessen junge Augen zu der ledernen Haut nicht passen wollen, der fast mürrisch wirkt.

Er sieht aus wie Klaus, denkt Doris.

Da schreckt sie zusammen.

Es ist Klaus Steinbach, der Oberleutnant der Jagdflieger.

Vor vier Tagen hatte Klaus seinen letzten Luftkampf bestritten. Er war Staffelkapitän geworden, und zum Ritterkreuz fehlten ihm noch drei Abschüsse. Er hatte, wie es in der Fachsprache hieß, ›Halsschmerzen‹. Aber es war wie verhext: Entweder die Tommies kurvten davon, oder er mußte selbst den Rückzug antreten, oder der Luftraum über der Normandie blieb frei von Feindflugzeugen. So startete der junge Oberleutnant verbissen Tag für Tag; denn am Himmel endete auch sein Horizont.

»Steinbach«, hatte ihn Oberstleutnant Berendsen, der Mann mit dem Nußbaumkinn, begrüßt, »es ist ohnedies nicht viel los bei uns im Moment.«

Klaus sah ihn fragend an.

»Sie sind nämlich abkommandiert . . .«

»Wohin, Herr Oberstleutnant?«

Der Kommodore lachte breit und bullig. Er nahm ein Schriftstück in die Hand.

»Lebensborn«, antwortete er, »Mensch, freuen Sie sich, Sie werden’ne Art Kindergärtner.«

»Wie lange muß ich weg?« fragte der junge Staffelkapitän gepreßt.

»Drei Wochen . . . Sie melden sich in Berlin, von da aus werden Sie weitergeschleust . . . Zigarre? Kognak?«

Der Geschwaderchef paffte kleine, schnelle Wölkchen in die Luft, schenkte das übliche Quantum der üblichen Flüssigkeit in die Gläser, reichte eines seinem Offizier.

»Prost«, sagte er, »ich weiß zwar nicht, ob Ihnen das ganze deutsche Volk Ihren Lebensborn-Einsatz danken wird . . . aber eins kann ich Ihnen sagen: das Geschwader ist Ihnen jedenfalls dankbar, daß Sie es vertreten . . .«

Berendsen wußte nicht, wovon er redete, und Klaus ahnte nicht, was ihm bevorstand. Wenn er nicht gerade flog, dachte er an Doris. Er war nicht mehr ärgerlich, wenn er sich des letzten Urlaubs erinnerte, sondern freute sich auf den nächsten. Er hatte seine Eltern gefragt, was sie von einer Verlobung mit der blonden Nachbarstochter hielten. Und der Vater antwortete ihm beinahe verwundert. Es galt als abgemacht, als selbstverständlich, daß Doris und Klaus zusammengehörten. Denn das war eine dieser klaren Jugendlieben, die durch ein ganzes Leben gehen können.

Zuerst fuhr er nach Paris, hatte einen Tag Aufenthalt und balgte sich in Luftwaffenmanier durch die Nahkampfdielen, die ihm im übrigen nichts abgaben. Er hätte Gelegenheit genug zu Abenteuern aller Art gehabt, aber in seinem schlichten, 24 Jahre alten Leben gab es bislang nur ein Erlebnis: Doris.

Dann fuhr er nach Berlin, meldete sich in der Lebensbornzentrale, mußte eine Stunde warten. Was dann kam, ließ ihn an seinem Verstand, an Gott, am Führer und an seinem Werk zweifeln. Zum ersten Male, seitdem er lebte.

Die Vergatterung der Männer, die für den Sondereinsatz römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, vorgesehen waren, nahm ein Hauptsturmführer vor, der ohne Umwege auf sein Ziel losging. Es waren etwa neun Offiziere verschiedener Waffengattungen im Raum, die sozusagen einen ›repräsentativen Querschnitt‹ der deutschen Wehrmacht bildeten. Sie saßen auf mitgebrachten Stühlen und mißtrauten ihren Ohren.

»Wir sind unter uns, unter Männern«, sagte der Funktionär des Lebensborns e. V., »wir brauchen nicht lange herumzureden . . . Der Nachwuchs unseres Volkes muß sichergestellt werden. Wir haben für euch die geeigneten Partnerinnen ausgesucht und werden euch im Rahmen eines Lehrgangs mit ihnen zusammenbringen. Und das übrige besorgt ihr selbst . . . ich darf mir wohl eine Gebrauchsanweisung ersparen . . .« Er grinste hämisch und dreckig.

Ein baumlanger Oberleutnant der Infanterie, zwischen dessen Kragenecken an einem zu langen Band das Ritterkreuz schaukelte, stand mit rotem Kopf auf.

»Was heißt das?« fragte er hart.

»Sie tun Ihre Pflicht, Herr Oberleutnant . . .«

»Welche Pflicht?«

»Die Pflicht zum Kind.«

»Was soli der Unfug? Wollen Sie Frauen bei einem Pflichtappell in dieser Weise degradieren? Und was sind das für Mädchen, die sich dazu hergeben? Und welche Kinder sollen das werden?«

»Das überlassen Sie gefälligst uns . . . wir haben die Aktion nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten eingeleitet . . . Ich bin nur hier, um Sie zu ermahnen, diese . . . diese Maßnahme so würdig wie möglich durchzuführen . . .«

»Dann bin ich wohl fehl am Platz«, entgegnete der Ritterkreuzträger.

Er stand auf, ging auf den Hauptsturmführer zu. Es sah aus, als ob er ihm die Verachtung in das Gesicht spucken wollte. Dann verließ er den Raum, knallte die Tür ins Schloß, daß der Mörtel aus dem Rahmen bröckelte.

»Wir werden mit ihm abrechnen . . .«, knirschte der Beauftragte. Er sah sich um. Er sah an der Reihe der anderen Offiziere entlang.

»Noch ein Verräter?« fragte er barsch.

Klaus zuckte zusammen. Nein, ein Verräter war er nicht. Er wollte mit der Sache nichts zu tun haben, gewiß nicht. Er wollte überhaupt nichts. Am liebsten wäre er zurückgefahren. Sofort. Aber man ließ ihn nicht aus. Man traktierte ihn mit Einzelheiten, vor denen ihm schwindlig wurde. Man improvisierte in aller Eile einen Kurs lediger Väter, die ihr eigen Fleisch und Blut liegenlassen sollten wie verschmutzte Handschuhe. Nach dem Willen des Staates, für den Klaus zu kämpfen und zu sterben jederzeit bereit war . . . bisher wenigstens . . .

Da war etwas, was nach seinem Weltbild griff, das die lodernden Flammen am Waldrand, zwischen denen der HJ-Gefolgschaftsführer Klaus Steinbach stand, auslöschen wollte. Den jugendheißen Schwur, den Hunger nach Bewährung, das bodenlose Vertrauen in die Zeit . . .

Der Abglanz des Feuers zog über ein junges, klares Mädchengesicht. Doris . . ., dachte Klaus. Ich war dumm . . . wie schön, daß ich dumm war. Wir gehören zusammen, Doris! Das wußten wir immer, nicht? Das ist nicht an einen Urlaub gebunden, das kommt von selbst auf uns zu. Das ist ganz anders wie bei den anderen. Das ist so hell und so heiß und so lockend wie die Flammen am Waldrand . . .

Dann saß der junge Staffelkapitän im Kübelwagen mit zwei weiteren Luftwaffenoffizieren. Die anderen Teilnehmer der biologischen Wachtparade hatte man in andere Heime kommandiert. Denn jetzt eben startete der Lebensborn seinen ersten ›Großeinsatz‹.

Er sah nach draußen. Die Bäume flogen vorbei, Passanten, Fuhrwerke . . . Aber eines blieb immer: Doris. An sie dachte er, als er auf das frühere Nervensanatorium zuging. Nur an sie. Er sah nicht links und nicht rechts. Er ging wie im Nebel.

Er hört das Lachen, das Geplätscher des Gesprächs. Er bleibt einen Augenblick wie geblendet in der Tür stehen, wagt nicht, sich umzusehen, geht dann mit tauben Beinen auf seinen reservierten Stuhl zu, hebt zögernd den Kopf, betrachtet Sturmbannführer Westroff-Meyer, hört seihe strahlenden Worte:

»Ich eröffne den Lehrgang. Wir sind jetzt vollzählig. Wir sind zu einem ernsten Zweck hier . . . wir dienen dem Volk! Herrschaften, getrunken wird hier nichts und am besten auch nicht geraucht. Ich bitte mir aus, daß hier Disziplin herrscht. Sonst könnt ihr euch jederzeit an mich wenden . . . betrachtet mich als euren Pflegevater.«

Nein, denkt Klaus, das ist kein Freudenhaus, das ist ein Irrenhaus. Und die Mädchen? Nur Verrückte können zu so etwas bereit sein. Nur Verkommene! Nur Verlorene . . .

Auf einmal ist ihm alles gleichgültig. Er hebt den Kopf und sieht sich frei um, nimmt die Parade ab, betrachtet Erika, die ihn wohlgefällig mustert, sieht Irene, die mit einem Oberscharführer flirtet, verzieht die Lippen, als er die Zopfkrone Lottes bemerkt.

Und dann trifft ihn ein Schlag wie damals über Reims.

Nein, denkt er! Doris! Doris hier! Meine Doris . . .! Er zweifelt an seinen Augen. Das kann doch nicht sein! Das gibt es nicht! Doris!

Das Mädchen versucht schwach, ihn anzulächeln.

Da stirbt jeder Ausdruck in seinem Gesicht und verkrampft sich zu etwas . . . zu Verachtung, zu Ekel . . .

Am liebsten hätten sie noch Stunden auf ihrem zähen Streuselkuchen herumgekaut. Sie fürchteten sich vor dem Augenblick, da die starre Tischordnung aufgelöst wurde. Was sie dachten, sprachen sie nicht aus, und was sie aussprachen, dachten sie nicht. Die Augen gingen ihre eigenen Wege, wie von Magneten abgelenkt. Ein unheimlicher Gast, der nicht auf der Verpflegungsliste stand, hatte sich eingefunden: die Scham.

Die Mädchen und Männer schwiegen oder sprachen zu schnell. Die Befangenheit legte sich auf das Lachen. Die Unsicherheit marschierte in jeder Geste mit. Junge Menschen, die längst gewohnt waren, ungezwungen miteinander umzugehen, benahmen sich steif und töricht wie in der ersten Tanzstunde. Sie lachten mit fremden Stimmen. Sie horchten mit anderen Ohren. Sie benutzten Augen, die ihnen nicht mehr gehörten.

Gegen 18 Uhr hob SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer, Kuppler für Großdeutschland, die Tafel auf. Zunächst machte niemand davon Gebrauch. Wenn sich diese Gesellschaft von 50 Menschen irgendwo sonst begegnet wäre, hätten sich bereits erste Freundschaften gebildet, künftige Pärchen abgezeichnet und Gruppen zusammengefunden. Jetzt aber sagten sich alle nur ja und nein oder höchstens vielleicht.

Es ging auf den Abend zu. Auf den ersten. Und einer dieser Abende, die ihnen bevorstanden, sollte, konnte, mußte furchtbar werden. Die Ungeheuerlichkeit, die man in der Theorie ihnen noch mit dem Holzhammer der Zeit beibringen konnte, verlor in der Praxis Vernunft, Figur, Überzeugung. Irgendwie verspürten sie alle, daß wenigstens die Natur sich nicht vom Nationalsozialismus kommandieren ließ.

Immer wieder betrachtete Doris den ihr schräg gegenübersitzenden Klaus, der systematisch an ihr vorbeisah. Sie las in seinem Gesicht. Sie ärgerte sich. Dann begriff sie ihn. Und zuletzt wurde sie traurig. Ich gehe zu ihm hin, sagte sie sich, und erkläre ihm alles. Er liebt mich. Er muß doch Vertrauen zu mir haben . . .

Dann wurde auf einmal kaltes Wasser über ihren Rücken gegossen. Wie kommt Klaus hierher, fragte sie sich, was hat er hier zu suchen? Wie kann er sich auf einen so pervertierten Frevel einlassen? Sie wollte aufstehen, ihm auf die Schulter klopfen und schlicht sagen:

»Komm, Klaus, wir gehen nach draußen . . .«

Jetzt hätte sie Gelegenheit dazu. Aber sie verlängerte die Frist immer wieder um fünf Minuten, bis sie auf eine halbe Stunde angelaufen war.

Er stand auf und trat an das Fenster. Die Uniform scheuerte so unruhig auf seinem Körper, als ob er sie auf der nackten Haut trüge. Er kehrte der Gesellschaft, mit der er nichts zu tun haben wollte, den Rücken. Er fuhr abrupt herum, betrachtete aus kleinen, verkniffenen Augen den Heimleiter. Ich schlag’ ihn zusammen, dachte er, ganz bestimmt tue ich das.

In diesem Moment ging SS-Hauptsturmführer Kempe auf ihn zu.

»Wat macht ihr Scheiche von der Luftwaffe?« fragte er.

Klaus zuckte mit den Schultern.

»Ick wollte auch immer Schlipssoldat werden«, fuhr Kempe fort, »na ja, dann hat mich eben die SS geschnappt.«

»Jawohl, Herr Hauptsturmführer«, versetzte Klaus mechanisch.

»Quatsch«, erwiderte er, »laß den Otto . . .« Er streckte ihm die Hand hin. »Ick heeße Horst . . . und Wenn du mir folgst, dann heben wir jetzt einen.«

Der Staffelkapitän reagierte nicht.

»He«, sagte Kempe, »dich hab’ ick gemeint . . . wie heeßte denn eijentlich?«

»Klaus.«

»Na ja, versteh’ ja schon . . . peinlich, dieser Laden hier . . .« Er grinste. »Ick meine . . . vorläufig . . . bis dahin verkrümeln wir uns . . .«

Der Fliegeroffizier folgte, ohne Vorsatz, ohne Willen, ohne Überzeugung. Er lief hinter dem längen Hauptsturmführer her. Gerade, als Doris sich ein Herz gefaßt hatte und auf ihn zuging.

»Klaus . . .«, sagte sie und lächelte zaghaft.

Da lief er an ihr vorbei . . .

Sie betranken sich lautlos.

»Alter Frontsoldat hat immer seine Marschverpflegung dabei«, feixte Kempe. »Komm . . . sauf! Dann wird dir gleich besser . . .«

Das erste Glas schmeckte nach Galle, das zweite nach Spiritus, und vom dritten ab verwandelte sich der Schnaps in Wodka.

»Haste . . . Ärger gehabt?«

»Nicht besonders.«

»Also, Mann, mach doch die Klappe auf . . . was ist denn?«

»Meine . . . Braut . . . meine frühere Braut«, verbesserte sich Klaus abrupt, »ist da . . .«

Der Hauptsturmführer begriff schneller, als man es erwarten konnte.

»Schöne Scheiße!« sagte er lakonisch.

Von da ab verstanden sie sich schweigend. Sie hörten Stimmen im Gang und kümmerten sich nicht darum. Von Befangenheit spürten sie nichts mehr. Sie umarmten die älteste Geliebte des Soldaten: den Alkohol. Sie tranken ihn in sich hinein, bis er sie verschlang.

Als es Klaus hundeelend war, verließ er das Zimmer und ging in den Garten.

Kempe erinnerte sich flüchtig an den Zweck, der ihn hierher gebracht hatte. Und da er immer in vorderster Stellung zu sein pflegte, wollte er auch hier den Anfang machen. Er ging in den Unterhaltungsraum, rülpste dezent und war wieder der alte. Er stand wieder auf seinen eigenen Beinen, so wie er seine Stimme und seine Augen wieder gebrauchen konnte.

Er sah sich mit sicherem Instinkt um. Nun hatten sich doch die ersten Grüppchen gebildet. Etwas abseits von ihnen hatte Lotte auf einem handgeschnitzten Stuhl Platz genommen. Sie hörte weg und wirkte dabei seltsam konzentriert.

»Na«, begrüßte sie Kempe, »so allein?«

»Sie?« erwiderte sie weder erfreut noch verärgert.

»Darf ick Platz nehmen?«

»Bitte.«

»Wie fühlste dich denn hier?« fragte er grinsend.

Lotte sah geradeaus.

»Na, hör mal, Mädchen, ick hab’ dir wat jefragt.« Immer, wenn er betrunken war, berlinerte er besonders stark.

»Ich fühle mich auf jedem Posten wohl, auf den man mich stellt.«

»Ach so«, entgegnete er gedehnt. Seine Augen wurden klein. Er betrachtete Lotte angestrengt, aber der Wodka verwischte ihre Züge.

»Sei doch nicht so jeschraubt . . .«

»Was meinen Sie, Herr Hauptsturmführer?«

»Quatsch«, antwortete er, »ick heeße Horst.«

Sie sah ihn an. Und diesmal bemerkte sie nicht nur sein EK I, sondern auch sein Gesicht.

»Na . . . wie wär’s denn mit uns zween?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie heeßt det?« fuhr er sie an.

»Wie meinst du das?« verbesserte sich Lotte und wurde rot dabei.

»Machst schon Fortschritte . . .« Er imitierte ihren Tonfall: »und wir sind doch hier, um unsere Pflicht zu erfüllen . . .«

»Jawohl«, entgegnete sie ernst.

»Und wann fangen wir damit an?«

»Zur gegebenen Zeit«, versetzte sie verbissen und verkrampft.

»Weeste wat«, antwortete er auf den Flügeln des Schnapses, »ick denke, heute abend ist die Zeit gekommen . . .«

Er schob seinen Stuhl näher an Lotte heran, die ihn mit großen, starren Augen betrachtete . . .

Der Sturmbannführer konnte sich auf seinen Hauptsturmführer verlassen . . .

Lebensborn e.V. - Tatsachenroman

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