Читать книгу Lucile - Willi van Hengel - Страница 5
Lucile,
Оглавлениеspürst du, dass ich dich hierher erzähle, zu mir, wie ich mir einbilde, dass du hier vor mir sitzt, unter dem großen Kirschbaum (ich lege eine seiner Blüten ins Kuvert; vielleicht ist ihr Duft noch nicht ganz verflogen, wenn du den Brief und die Blüte in den Händen hältst), und dich die Sommerfliegen nerven, die auf deinen nackten Beinen herumkrabbeln, und wie du sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mit dem Fuß und der Hand zu vertreiben suchst. Das erscheint mir wirklicher als das, was ich vermeintlich sehe, vermeintlich höre und rieche. Ich erzähle dich hierher, zu mir, und biete dir eine Tasse Kaffee an. Ich weiß noch, ohne Milch, nur mit Zucker, zwei Teelöffel. Wie eine alte Frau habe ich damals gesagt, weißt du noch, und du hast dich jedes Mal geärgert. Wie eine alte Frau würde ich wieder sagen und spüren, dass du dich – obwohl, oder gerade weil du nur ein müdes Lächeln dafür übrig hättest – immer noch über diesen Satz ärgern würdest. Ich erzähle dich hierher, Lucile, zu mir. Ganz langsam steigst du aus dem Blatt Papier, stehst auf und gehst in die Küche, um etwas zu essen zu holen, einige Scheiben Brot, etwas Käse, vielleicht findest du sogar den Kaviar im Kühlfach und träufelst ihn auf, vielleicht kommst du auch nur mit etwas Gebäck, Keksen und selbstgebackenem Kuchen meiner Mutter zurück, setzt dich hin und hörst mir zu, schüttelst ab und an mit dem Kopf und nickst, wenn es andere Worte, andere Bilder und Gesten sind, von denen ich dir erzähle, und sagst etwas, wenn es dir zu viel wird und du eine Erholung in deiner eigenen Stimme suchst.
Manchmal aber flattert dein Schweigen über mein Satzende hinaus, und deine Stimme reagiert nicht auf meine Zeichen, einen Punkt oder einen Absatz. Du sagst nichts, schaust mich nur an; und dennoch – das ist das Verwunderliche daran – gibst du mir nicht das Gefühl, mich mit deinem Schweigen allein zu lassen. Weder ringst du dir eine gequälte Antwort ab, noch scheinst du abwesend zu sein, abwesend mit deinen Gedanken, die in einem fernen Land auf den Schwingen der Phantasie landen. Du hast immer eine Ruhe und eine Gelassenheit ausgestrahlt, die ich bewunderte – und die ich nun vermisse, ebenso wie dein Lächeln in den Augen, die immer lächeln, auch wenn du sonst ganz anders drauf bist.
Früher habe ich dich dafür gehasst. Weißt du noch? Im Stillen habe ich dich eine Egomanin genannt, eine arrogante Misanthropin, die alles andere, alle anderen, mit einer verletzenden Gleichgültigkeit verachtete, einzigartig in ihrer Kälte; und ich habe gehofft, ja eigentlich nur darauf gewartet, dass du in dem Blut der Wunden, die du anderen zugefügt hast, bald ertrinken wirst. Ich konnte dich dann, manchmal tagelang – einmal sind es sogar mehr als zwei Wochen gewesen – weder sehen noch um mich haben, bis endlich ein liebes Wort oder eine einfühlsame Geste von dir kam und der Zorn verflogen war. Ich glaube, wir haben nie darüber geredet. Doch irgendwann habe ich bemerkt, dass du nicht mich verachtet hast, sondern das Gerede der Leute um dich herum. Von da an habe ich für dich keine Zukunft mehr gesehen – außer als Künstlerin. Die Kunst wird die einzige Chance für sie sein zu überleben, habe ich damals gedacht. Kannst du dir vorstellen, wie schwer du es uns, besonders mir, gemacht hast: Wie sollten wir dich verstehen und das alles nachempfinden können, wenn du es selbst nicht einmal wusstest?
Sobald man sich von seiner Vernunft abzulösen versucht, damit beginnt, alle Wahrheiten in sich anzuzweifeln, oder sich darüber zu wundern, dass es sie überhaupt gibt, wird die normale Einstellung gegenüber den Dingen mürbe. Man kann dann nicht so sein wie andere und nicht so tun, als wäre alles beim alten. Es geht tiefer, rührt, rumort, rüttelt in einem, sitzt wie ein Virus in den Knochen, im Fleisch, in der Seele, irgendwo, man weiß es nicht, weiß nicht wo, kann es nicht lokalisieren. So ist man (du) andauernd getrieben, angetrieben, umgetrieben, hin- und hergetrieben zwischen sich und der Welt, ohne diese Kluft überbrücken zu können. Es ist etwas, über das man nicht sprechen kann, worüber man also schweigen muss, weil es sich – eben ausgesprochen – auslöscht.
Die wahren Künstler sind die Philosophen; glaube mir, die Philosophen, die der Wahrheit eins auswischen und aus den Tiefen aufsteigen wie Phönix aus der vertrockneten und staubigen Asche, um mit einem fallschirmseidenen Lächeln über eine Welt aus Worten hinweg zu segeln, getragen von den Winden des Fremdseins, des einzigen Vertrauens einer enthaupteten Jungfräulichkeit, derer wir uns sicher sein können. Androgyne, Androgyne, höre ich dich aufschreien im fernen Paris – ist es eigentlich auch so heiß dort? –, Androgyne, immer wieder, und weiß, besser als je ein anderer zuvor, um deine melancholische Ausgelassenheit, um deinen tiefen, archaischen Wunsch, nackt, splitternackt, überall und immerzu nackt sein zu wollen. Aber du schämst dich. Warum eigentlich?
Du siehst, ich habe mir Gedanken gemacht über dich und mich, über die Welt und unser Schweigen. Ich hoffe, dass es dir nicht unangenehm ist, von mir in ein Gespräch verwickelt zu werden, das du vielleicht gar nicht führen willst (was ich aber nicht glaube!). Aber es steht dir ja frei, den Brief zur Seite zu legen, oder in den Ofen zu werfen. Hast du diesen zierlichen Ofen noch, mit dem du im Winter deine Zimmer beheizt? Steht er noch an seinem Platz, in der Ecke hinter dem Bett? Damals, als ich dich besucht habe, es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben, im Winter neunundneunzig, mussten wir die Verbindungstür der beiden Zimmer offen lassen, damit die Wärme sich gleichmäßig ausbreiten konnte. Ich habe immer auf dem Boden vor dem Ofen gesessen (ich glaube, mir war dauernd kalt) und mich von Zeit zu Zeit mit dem Rücken an seine Glastür gelehnt, es jedoch nie länger als eine halbe Minute ausgehalten; mir wäre sonst durch den Pullover hindurch die Haut verbrannt. Oft hast du mich gefragt, ob mir nicht warm genug sei und ob ich mich nicht lieber in den Sessel oder aufs Bett setzen wolle, was mich verwirrt hat. Erst später ist mir aufgegangen, dass ich deinem Blick im Wege gesessen habe. Du schautest so gerne ins lodernde Feuer, starrtest hinein, bis auch der letzte klare Gedanke verglüht war. Nie hast du gesagt, was du eigentlich wolltest; immer hast du nur stille Zeichen gegeben, die ich entdecken und entschlüsseln sollte.
Deine unerklärlich schlechte Laune war Zeichen der Unzufriedenheit mit meiner Unachtsamkeit. Was du von mir und von dir verlangtest, war eine Aufmerksamkeit, die man eine Dechiffrierung der Seele nennen könnte; sie sollte die unscheinbarsten leiblichen Wallungen lesen. Im gleichen Atemzug beklagtest du den Makel der Intellektuellen und meintest mich damit, nur weil ich mich für die Welt hinter der Welt interessiert habe, für das, was uns eigentlich interessiert, wofür wir jeden Tag aufstehen, oder was wir beim Aufwachen als erstes denken, die Lider noch verschlossen, oder was wir fühlen, wenn wir beleidigt werden, wie unser Ego schwimmt und taumelt – und meintest mit Makel, dass wir nicht normal reden würden. Uns als was Besonderes betrachten, meine Güte, wir sind doch nicht wie Kühe auf der Weide, die saublöd aus ihrer schwarz-weiß gescheckten Wäsche glotzen und sich wundern, warum man sie für so blöde hält; einmal eine Kuh sein, dann hätte ich erst recht einen Makel an Intellektualität, aber das will ich nicht einmal. Die Worte selbst weinten, wenn du sie ausgesprochen hast; von jedem Buchstaben tropften ihre Tränen, die in Wirklichkeit deine nichtgeweinten Tränen waren, herab. Du trautest dich nicht zu weinen. Von anderen aber hast du es verlangt.
Morgens, wenn du Holz in den Ofen gelegt hast – es glühte noch ein wenig (ich glaube, dass es meine Mutter gewesen ist, die dir diesen Hausfrauendreh verraten hat, vor dem Schlafengehen ein Brikett in Zeitungspapier eingewickelt ins abklingende Feuer zu legen) und es sich von neuem entzündete, begann es oft zu qualmen, weil du ein ums andere Mal vergessen hast, das Ofenrohr zum Kamin zu öffnen, den Hebel auf die andere Seite zu drehen. Kaum dass du wieder ins Bett unter die kuschelig weiche Decke geschlüpft bist (wir wollten erst dann aufstehen, wenn es wärmer im Zimmer geworden ist, denn unseren Atem konnten wir sehen, so kalt war es), stand die ganze Wohnung unter Qualm. Aber nicht du, sondern ich bin aufgesprungen und habe die Fenster geöffnet, damit wir nicht erstickten und uns die eiskalte Pariser Wintermorgenluft das Leben rettete. Dir ist alles egal gewesen. Du wärst liegen geblieben, bis die Feuerwehr angerückt wäre und die Tür aufgebrochen hätte, und du wärst sauer gewesen, dass du die ganze Zeit hättest husten müssen, fast ohnmächtig in deinem Bett liegend. Einmalig deine Trägheit (oder wie soll ich es nennen?). So sieht doch keine Wirklichkeitsflucht aus!
Ich bin nun ziemlich erschöpft, Lucile, morgen schreibe ich dir mehr.