Читать книгу Lucile - Willi van Hengel - Страница 6
einen Tag später
ОглавлениеGestern Abend fühlte ich mich leer, im Begriffe, mich aufzulösen, oder war ich schon aufgelöst? Ich fühlte mich, als sähe ich zu, dass mich irgendeiner ausradiert, und es blieben von mir nur Radiergummikrümel übrig. Das soll gar nicht traurig klingen, obwohl ich es ein wenig bin. Die Sehnsucht nagt an mir. Ich denke nur noch an den Tag, an dem ich André wiedersehen werde. Die Gedanken sind in die Enge getrieben, von Ohnmacht umzingelt; vielleicht wissen sie keinen anderen Ausweg, als sich auslöschen zu wollen. Man hätte fast Mitleid mit ihnen haben können, wären es nicht meine eigenen gewesen. Ich hielt es in meinem Zimmer nicht mehr aus; weder der Fernseher noch irgendein Buch noch ich selbst wussten mit mir was anzufangen. Die lange Zeit – zehn Tage, bis ich André wiedersehen werde – schoss mir wie ein Wasserfall, der plötzlich eine Staumauer durchbricht, ins Gesicht. Ich war wie vom Blitz getroffen, spürte das Zerbrechen und Zerreißen der Schleimwände im Magen, der Herzklappen in der Brust, als André mir sagte, dass wir uns fast zwei Wochen nicht sehen würden, er müsse zehn oder elf Tage nach Dubrovnik verreisen, der schönsten Stadt der Welt. Schon dreimal sei er dort gewesen, jedes Jahr im April finde dort ein Physikerkongress statt, nur in diesem Jahr sei der Termin verschoben worden, wegen der Auswirkungen des Krieges zwischen den Serben und Kroaten. Sein Professor habe ihn auch in diesem Jahr gebeten, sein Referent zu sein und für die von ihm herausgegebene Spezielle Zeitschrift für Physik Verlauf und Ergebnis der Tagung festzuhalten (bei dem Wort Ergebnis habe sein Professor verschmitzt zu lächeln begonnen). Außerdem hatte André gesagt, wobei er wohl ebenso verschmitzt wie sein physikalischer Meister gelächelt hatte, haben wir uns im April kennengelernt, genau in der Woche, in der normalerweise der Kongress stattgefunden hätte. Es war für mich nicht ganz einfach, seine Worte hinunterzuschlucken, gerade zu einer Zeit, als wir uns sehr aneinander gewöhnt hatten und ich ihn jeden Tag um mich haben wollte.
Auf der Flucht vor mir selbst bin ich in eine Kneipe gegangen, in eines dieser überfüllten und mit Rauch und grässlich lauter Musik aufgepumpten Löcher, die letzten Endes alle gleich auf mich wirken: wie schlecht beleuchtete kalte Klos. Aber gerade wenn du dich leer fühlst, wenn du genervt bist, jedes Wort zu viel ist und wie ein elektrischer Stromschlag in dich fährt, kurz: wenn du deine Haut abstreifen willst wie eine Schlange, um ein neues Leben zu beginnen, ganz einfach von einem Augenblick zum nächsten: ein neues Leben beginnen (wie schön es klingt …), dann kann dich ein solches Pissoir vor dem Schlimmsten bewahren. Du setzt dich an die Theke und bestellst ein Bier und einen Schnaps – und alles widert dich an, der Ekel auf der Zunge und in den Augen und zwischen den Fingern, umgeben von lauter Stillosigkeiten, lauter blassen unliebsamen Stillosigkeiten wie der verklebte Tresen unter deinen Unterarmen. Ich hatte noch nicht einen Schluck Bier getrunken, schon saß ein übermäßig nach Deo, Haarshampoo und Rasierwasser riechender Mann, blond, sehr blond, neben mir. Er stellte sein halbvolles Bierglas neben meinen Schnaps, räusperte sich, nachdem er sein auberginefarbenes Sakko zurechtgerückt hatte, und fragte mich mit einer aufdringlich tiefen Stimme, ob ich schlecht gelaunt sei, wohl eine Laus über die Leber gelaufen, was. Während er das sagte, schob er sein Bier an mein Schnapsglas und stieß es an; dabei schwappte ein Tropfen Korn über den Rand der kleinen Wanne. Tschuldige, nuschelte er und redete weiter, sagte, dass er studiere, ach was dachte ich, jedoch seit zwei Jahren keinen Schein mehr gemacht habe und sich nun frage, ob es besser wäre, alles hinzuschmeißen und sich einen Job zu suchen, obwohl … arbeiten wolle er eigentlich auch nicht; eigentlich wisse er gar nicht, was er wolle … Er redete in einem fort, so als sei ich gar nicht da; vielleicht sollte ich auch nur den Seelendoktor spielen. Was das Ganze sollte, wusste ich nicht, mochte ihm doch eine andere zuhören. Ich musste mich selber erst einmal wieder finden, bevor ich mich den Worten eines anderen öffnen konnte. Ich wollte alleine sein, ohne alleine zu sein. Zwischenzeitlich hatte ich sogar einmal überlegt, ob ich ihm mein Bier ins Gesicht schütten sollte, war aber sehr schnell wieder davon abgekommen – es wäre zu lächerlich gewesen. Also nahm ich mich zurück, indem ich mein Gereiztsein in eine Frage münden ließ, die mich – nachdem er zwei Asbach-Cola bestellt hatte, denn Schnaps, vor allem Asbach, helfe gegen alles – wesentlich eher befriedete als ein ins Gesicht geschüttetes Bier. Ob er das Bild dort drüben, zwischen Fenster und Toilettentür, sähe, fragte ich ihn, und ob er es genauso abscheulich fände wie ich, und nicht nur abscheulich und abstoßend, sondern mehr noch, ekelerregend und lächerlich, also alles in allem in einzigartiger Weise stillos und belästigend. Sichtlich den Beginn eines amüsanten Gespräches vermutend bemühte er sich, mir schnell zu antworten. Mit dem Kopf nickend sagte er in einem lässigen, aber ernsten Ton, dass die meisten Bilder in Kneipen einfach nur schlecht seien, und lächerlich, das sei ein guter Ausdruck, der einzig passende sogar, schlechte und lächerliche Bilder, wo man hinsähe, so wie die Künstler selbst, die sich selbst zum Künstler ernennenden Künstler, die sich für die größten hielten, kaum dass sie einen Pinsel oder einen Stift zwischen den Fingern spürten … Ja ja, unterbrach ich seinen überschäumenden Redefluss (dass ich über die Künstler genauso dachte wie er, verschwieg ich), aber meinst du nicht, dass es dennoch einen gewissen Wert hat, den man beim bloßen Hinsehen nicht erkennt, also folglich erleben muss – er hörte mir gespannt zu –, allein indem ich dieses abscheuliche und lächerliche Bild (es ein Kunstwerk zu nennen wäre eine Hybris) um ein Vielfaches lieber anschaue als das Profil und das Ohr dessen, und es mir ein Vielfaches mehr zu sagen hat als der Mund dessen, der gerade neben mir sitzt …
Er schreckte zusammen, drehte ruckartig seinen Kopf zu mir und sagte, während er seine Erregung zügelte und vom Barhocker kletterte: kalt erwischt. Dann nahm er sein Bier in die eine, den Asbach in die andere Hand und setzte sich wieder an den Tisch, an dem er schon vorher gesessen hatte.
Die Erfahrung schlechter Kunst als Lebensretterin, dachte ich auf dem Nachhauseweg, und es ging mir wieder besser.
Heute Morgen, als ich aufwachte, fühlte ich mich benommen und schlecht, wie nach einer durchzechten Nacht. Der Mund war ausgetrocknet, die Glieder weich und malade, als hätte ich Butter in den Knochen. Das Gefühl, geschlagen oder gerädert worden zu sein von meinem eigenen Traum, von dem ich zum Glück nichts mehr wusste. Ich mochte gar nicht erst aufstehen, warum auch, was würde der Tag mir bringen, auf ausgestreckten Händen und Füßen in einem Clownskostüm, außer dass ich ihn immer bewusster zu ersticken versuchte. Ich bin nun einmal so, Lucile, ich kann nichts dafür, und ich denke, dass ich das alles bis zum Exzess ausleben und ausdenken und wegschreiben muss, um wieder davon los zu kommen. Und ich kann immer wieder nur betonen, dass ich nur dir das alles schreiben kann, nur dir, wem sonst? Und weißt du, was ich machen werde? Ich werde die Briefe nicht noch einmal lesen, also auch nicht korrigieren und abändern, vielleicht sogar ein ganzes Blatt zerreißen und in den Papierkorb schmeißen, nur um etwas zu vertuschen oder mich für etwas schämen, nein, es soll alles so zu dir rüberkommen, wie es aus mir rauskommt, in aller Unmittelbarkeit, egal wie unbeholfen und fremd es sich anhören mag.
Lucile, vergib mir. Aber es erleichtert mich, wenn ich so schreibe, so schreibe wie ich denke. Ich verliere mich oft in der Eile, weil ich mir selber Flügel schaffe, um über das bloße Beurteilen und Wahrnehmen der Dinge hinaus zu fliegen. Vielleicht bin ich es nur nicht mehr gewohnt, einen Vogel morgens beim Aufstehen zwitschern zu hören, oder einen Hund bellen zu hören, die mehr noch verwundert darüber sind, dass sie eine Antwort bekommen, ein anderes Vögelchen, das sich meldet mit einer noch helleren Stimme, einem noch schöneren Klang, und irgendwo in der Ferne ein zweiter Hund, der zu bellen beginnt, in einer Wiese hinter einem Zaun stehend. Ich muss mich wieder den normalen Dingen widmen, die Welt hinter der Welt vergessen, sie nimmt mir alles, allen Mut, alle Freude, alle Gleichgültigkeit, ich muss es tun – aber erst, wenn André wieder bei mir ist!
Selbst die scheinbar klarste Gewissheit, dass ich das hier bin, hat er mir genommen, in Streifen gerissen wie ein Blatt Papier, aber ganz langsam mit einer Bedächtigkeit, die mich wütend macht. Noch während ich sage, dass es mich gibt und mir selbst beschreibe (wie einem Ungläubigen, dem man vom Fegefeuer erzählt), wie es mich gibt, denke ich, wie weit es mit mir gekommen ist, wie bescheuert ich sein muss, mir über die Dinge den Kopf zu zerbrechen, über die andere lachen, ja, nicht einmal das, sondern nur mit dem Kopf schütteln und sich – vielleicht völlig zu Recht – sagen, dass man schon ziemlich anders sein muss, um so zu sein. Oder? – Man merkt, sagte Marie-Therèse letztens zu mir, dass du mit einem von der Uni zusammen bist, und dann auch noch einen aus der Abteilung Kopfschuss, hättste dir wenigstens einen Rechtanwalt genommen, oder einen Sportlehrer oder Deutschlehrer oder Erdkundelehrer, die sind vielleicht doof, sonst wären’se nicht Lehrer geworden, aber wenigstens nicht so schwierig. Sie wollte mich nicht kränken, ich spürte es, aber verkneifen konnte sie es sich auch nicht. Zum Schluss sagte sie noch, dass André ein wirklich netter Kerl ist …
Ich sitze wieder in meinem geliebten Garten. Es ist noch früh; gerade schlägt die Kirchenglocke zehn Uhr. Der angehende Tag hat die kühlen Spuren der Nacht noch nicht ganz verwischen können; mühsam klettern die noch müden Sonnenstrahlen auf den hohen First der Dächer (übrigens ist unser Haus etwas kleiner, weil es 1910, also zwei Jahre früher als die anderen Häuser, gebaut worden ist). Manchmal fällt eine noch unreife, grüne Kirsche auf den Tisch; es gibt einen leisen Knall. Manchmal fallen sie genau auf das Wort, das ich dir schreibe. (Verkneif dir dein Lachen, Lucile, ich weiß, was du jetzt denkst, wenn sie mir auf den Kopf fallen).
Ich glaube, nur die Ameisen sind ausgeschlafen; sie krabbeln fröhlich über meine Füße hinweg wie über einen Berg, den sie gerne besteigen. Ein mit etlichen Blättern bekleideter Zweig neckt mich; er beugt sich im Spiel des Windes zu mir herab und kitzelt mich am Nacken.
Ich sitze hier mit leerem Magen (meine liebe Mama kocht gerade einen Kaffee; sicherlich wird sie mir gleich eine Tasse und, auf einem kleinen Teller, zwei geröstete Toast mit Quark und Himbeermarmelade herausbringen; sie ist emsig wie eh und je und macht alles für mich, du kennst sie ja; nur ihr Herz, eine eingeengte und poröse Herzklappe, macht ihr zu schaffen). Er knurrt vor Hunger. Dennoch will ich meinen Gedanken zu Ende führen, ihn dir schnell schreiben.