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Schreiben.

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Sobald mir dieses Wort einfällt, faltet sich meine Zunge, so wie sich eine Hand zum Gebet in die andere faltet. Nur: mir fehlt eine zweite Zunge. Weißt du, ich fange an zu schreiben und denke, es ist mit einem Satz getan. Aber kaum habe ich zwei oder drei Worte geschrieben, gleite ich ab in einen neuen Gedanken, den ich dir dann auch noch sagen will – und das Ganze fängt von vorne an. Das meine ich (oder vielmehr André) mit Unendlichkeit, man gelangt nie an ein Ende, ich meine an ein definitives Ende, endgültig, verstehst du? Ich weiß, Lucile, es hilft nichts. Jeder bleibt mit seinem Gebet allein. Der einzige Halt ist der Anblick der gefalteten Hände, der Umarmungen aller Finger.

Ich schlüpfe wie ein philosophisches Embryo aus Andrés Mund, um den Ballast unausgegorener Gedanken in dir abzuladen.

Stell dir einmal vor, Lucile, du würdest mit einem Mal alles was du denkst und siehst, alles was du erlebst, in »Anführungszeichen« setzen; nichts könnte sich mehr für das ausgeben, was es zu sein vorgibt; jeder Begriff, jeder Mensch, wäre ein Nomade, die Welt eine einzige Unabhängigkeitserklärung der Dinge, so wie wir es immer gewollt haben, weißt du noch?

Während ich schreibe, das ist meine Form von Beten, Atmen, bin ich vor nichts mehr sicher – ich weiß nicht mal mehr, ob ich laut Amen gesagt oder genuschelt oder es nur gedacht habe. Die Fragen und Zweifel entfesseln sich, indem sie geschrieben werden. In dieser Unmittelbarkeit (wir beneiden die Tiere nur dann nicht, wenn wir glücklich sind), dass ich hier im Garten an einem wackligen Campingtisch sitze, der nicht mehr einzuklappen geht, einen kleinen Stapel Blätter vor mir, die ich mit der linken Hand beschwere, ein immer stürmischer werdender Wind klatscht gegen meine Haut und verfängt sich in meinem Haar, gebrauche ich noch das Passiv geschrieben werden; doch kaum dass sich mein Gefühl darüber hermacht, kaum dass es sich über sich selbst bewusst wird, beginnt alles nach Meineid zu riechen, türmt sich die anarchische Geste der Anführungszeichen auf und verwandelt alles ins Aktiv, in mich.

Die Fragen und Zweifel entfesseln sich, indem sie sich schreiben, wie von selbst. Ich weiß gar nicht, ob dich das alles interessiert, oder ob du verstehst, was ich meine, zumindest im Ansatz, aber ich muss ehrlich gestehen, dass mich das nicht belastet im Augenblick. Jeder Sinn, jeder noch so kleine Strohhalm ist aufgeschlitzt vom Dolch meiner Sehnsucht, an dem vielleicht ein letzter Tropfen Herzblut klebt. Deshalb schreibe ich dir, Lucile, weil du mich liest, vielleicht liebst, ohne mich verstehen zu müssen. Du tust es einfach. Glaube ich.

Wie klein und traurig anzusehen wir doch sind, wie ein zusammengekauertes ängstliches Kätzchen, das sich immer weiter in eine dunkle Ecke zurückzieht. Seine Augen hat es weit aufgerissen, um jede Bewegung erkennen zu können, als dürfte nichts seiner Aufmerksamkeit entgehen. Und plötzlich, je weiter es sich zurückzieht, vorsichtig und leise, um nicht von den eigenen Geräuschen abgelenkt zu werden, stößt es an die Wand hinter sich und erschrickt fürchterlich, mehr noch als vor der Bedrohung selbst. Die unentwegte und damit immer verkrampfter werdende Aufmerksamkeit hat das kleine Kätzchen die Grenze des Rückziehbaren vergessen lassen. Mit einem Mal ist es seiner eigenen Angst im Wege und sieht keinen anderen Ausweg mehr als sich zu wehren, und es faucht und schlägt mit seinen ausgefahrenen Krallen um sich.

Ich glaube, Lucile, dass es auch uns einmal so (oder ähnlich) ergehen wird. Irgendwann werden auch wir vor dem erschrecken, was hinter uns liegt, was uns immerzu so gewiss erscheint, worüber wir uns keine Gedanken machen können, weil es gerade das ist, was uns unerbittlich auf und ab treibt in dem verlassenen Meer des Selbstverständlichen. Nenne es den Verlust der Ironie: an den Ufern der ausgetrockneten Tümpel der Anführungszeichen; zu springen wäre absurd, also schlicht unsere Wirklichkeit.

Ohne ein Wort zu sagen, hat meine Mama (ich weiß gar nicht mehr, wann ich begonnen habe, sie Mutter zu nennen; es passt gar nicht zu ihr) mir einen Teller mit zwei geschmierten Toastscheiben und meinen weißen Blechnapf mit Kaffee auf den Tisch gestellt. Ich bewundere ihre Liebe zu mir, die durch nichts, wirklich durch nichts zu erschüttern ist, ihre Aufopferung, ihre Demut, gnadenlos – mir fällt kein anderes Wort dafür ein. Ob ich solch einem Menschen in meinem Leben noch einmal begegnen werde? Ich glaube kaum. In den letzten drei, vier Jahren erst ist mir klar geworden, was ich an ihr habe. Sie ist der wertvollste und liebste Mensch in meinem Leben. Mit ihrer durchdringenden Ruhe stand sie meinem naiven Eigensinn entgegen, ohne dass sie mich auf die Palme brachte. Jetzt ist es anders, und ich verstehe sie, wir lachen jetzt schon gemeinsam über die jungen Gören, die sich so toll und wichtig vorkommen, und darüber, dass sie nichts von ihrer Lächerlichkeit bemerken. Wenn ich meine Mutter sprechen höre und sie heimlich beobachte, dann zweifle ich oft an dem, was ich bin oder zu sein glaube und fühle mich nicht selten ganz einfach verdammt, verdammt zu einer Existenz, von der ich nicht so recht weiß, was ich mit ihr anfangen soll. Mit jedem Blick in den Spiegel befragen mich die in den sichtbaren Falten versteckten Nuancen nach der Unruhe in diesem Gesicht, nach der Unruhe in meinem Gesicht, das mir oft so fremd ist, wie alles an mir. Das, was ich fühle und denke, was ich will und nicht will, was ich tue und lasse, es passt alles nicht zusammen, so zerrissen bin ich oft, dass ich nur noch eines spüre: den Drang zu fliehen. Aber wohin? Etwa aus der Haut?

Todessehnsucht und Lebenslust – so stand es geschrieben auf dem kleinen, im Blauton gezeichneten Poster, das an der Wand zwischen den beiden Fenstern deines – ofenlosen – Zimmers klebte. Unter diesen Worten waren die Köpfe einiger berühmter Künstler abgebildet, schemenhaft in wenigen, aber gelungenen Strichen angedeutet. Leider habe ich nicht alle erkennen können. Aber, ich glaube, niemand von ihnen ist eines natürlichen Todes gestorben; entweder sind sie wahnsinnig geworden oder sie haben sich umgebracht (sagt man in Frankreich nicht: sie haben Selbstmord gepflegt?). Damals, als ich in deine Wohnung eintrat und zuallererst diese beiden Worte las, empfand ich es für mich wie eine ungeahnte Weihe. Allein dafür, so habe ich im ersten Augenblick gedacht, hat sich die lange Bahnfahrt schon gelohnt, der Sinn, der die schönen Tage von Paris umhüllte. Ständig musste ich an diesen Spruch denken, Todessehnsucht und Lebenslust. Total fasziniert war ich von dem im ersten Moment nebensächlich erscheinenden Wörtchen und, das mich während der ganzen Fahrt zurück nach Bonn nicht mehr losgelassen hat. Die Stunden im Zug zerflossen wie nichts und der Gedanke wollte gar nicht mehr weichen. In Bonn angekommen, hatte ich damals nicht die geringste Lust auszusteigen. Diesen Tag werde ich nicht mehr vergessen. Morgens um halb acht bin ich im Bahnhof eingetroffen; durch die hohen Laubbäume der Quantiusstraße (heute steht dort ein hässliches Parkhaus) blinzelte ebenso wie jetzt hier durch die vom Wind bewegten Blätter und Zweige des Kirschbaums die Sonne. Der Morgen dämmerte vor sich hin. Die seichte Luft brütete den Tag aus, und ich wusste in diesem Augenblick, dass mein Leben ein Wort geworden war, dem ich nicht mehr hilflos und stumm gegen überstand. Auf der obersten Stufe der Bahnhofstreppe, die zur Straße hinabführt, blieb ich stehen und atmete langsam tief ein und aus. Ich holte mir die Gelassenheit zurück, pflückte sie von den Dingen, die ich sah, und mit einem Mal war alles nicht mehr so überflüssig und klein, nicht mehr so bedrohlich. Ich kam manchmal gar nicht mehr zurecht mit den Dingen; mit den Menschen sowieso nicht. Doch in diesem Augenblick war alles wie weggeblasen. Es war alles so wie es war, und das war gut so, sogar ich selbst fand mich in Ordnung, steckte die rechte Hand in die Hosentasche, kramte darin herum, zog ein Geldstück heraus, schaute kurz darauf und drückte sie einem Penner in die Hand, deren Haut an manchen Stellen aufgesprungen und eingerissen war. Er sagte Danke, vergelts Gott, was mich überraschte, er hatte noch eine Stimme, womit ich nicht gerechnet hatte, eine angenehme sogar, und ich war froh, dass er etwas gesagt hatte, heilfroh.

Ach Lucile, halt mich fest. Ich bin völlig außer Atem: vom Schreiben und vom Aus-der-Welt-sein, vom Sich-aus-der-Welt-schreiben. Eine Komödie, ein seltsames Schauspiel. Ich überlasse mich der Gefahr meiner eigenen Nähe. Du weißt doch, kopflastig und verquält die Konstruktion: mein Leben – und ein weiches Ich zum Frühstück. Aber hab keine Sorge, Lucile, wahnsinnig werde ich nicht, und antun werde ich mir auch nichts …

Lucile

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