Читать книгу DIE TURING-ABWEICHUNG - William Hertling - Страница 10
Kapitel 1
ОглавлениеJuli 2045 in den Vereinigten Staaten – Gegenwart
Die Reifen schnurrten Kilometer um Kilometer über den Asphalt, während Cat die Grenze nach New Mexico überquerte. Der schwarze Wagen schlingerte kurz, als der Autopilot einem Roadrunner auswich, der quer über die Straße lief. Cat sah sich um, ihren Augen nicht trauend, aber der seltsame Vogel war schon wieder außer Sicht.
Ihr Neuralimplantat, eine Ansammlung von Computerchips und Nanodrähten, die komplett mit ihrem Gehirn vernetzt waren, hatte verkündet, dass sie sich ihrem Ziel näherte. Sekunden später bog der Wagen vom Highway auf eine Landstraße ab. Bald tauchte ein Diner am Straßenrand auf und der Wagen parkte selbstständig davor. Auf der anderen Straßenseite blies der Wind alte Plastiktüten über das Areal einer stillgelegten Tankstelle, das mit verstreuten Fahrzeugteilen übersät war.
Cat streckte sich und ihre Rückenwirbel knackten. Sie hängte sich die Ledertasche über eine Schulter und ging auf das Diner zu. Als sie ausgestiegen war, schoben sich Solarzellen aus dem Dach des mattschwarzen Wagens, um die letzten Strahlen der Abendsonne einzufangen.
»Pass auf dich auf«, rief sie ihrem Wagen zu.
Im Inneren sah das alte Diner mit seinem Chrom-Look wie so viele andere Raststätten am Straßenrand aus. Sie nickte der Kellnerin zu und setzte sich an einen leeren Tisch, stellte die Tasche ab und überflog die Speisekarte. Fleisch war wieder billig geworden: Das Zeug aus der Retorte war preiswerter als alles andere und genetisch so modifiziert, dass es zusätzliche Nährstoffe enthielt. Sie orderte einen Burger, Fritten und Kaffee, zu müde, um sich etwas Ausgefalleneres zusammenzustellen.
Per Implantat hackte sie sich in die Außenkameras ein und beobachtete, wie sich ein paar Minuten später eine alte Frau dem Diner näherte. Cat schaute gerade rechtzeitig hoch, um sie durch die Tür kommen zu sehen. Die Frau sah sich suchend um, ihre Augen mussten sich erst an das Licht gewöhnen. Dann richtete sich ihr Blick auf Cat. Sie kam herüber und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Sind Sie Catherine?«, fragte die alte Frau.
Cat nickte.
Die Frau zog eine uralte Antistatikfolie heraus; die silbrige Beschichtung war bereits stark zerknittert. Cat spürte einen kurzen Anflug von Panik: Eine undichte Verpackung konnte Signale durchlassen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Wagen sie in einem solchen Fall gewarnt hätte.
Um es noch schlimmer zu machen, schob die Frau die Verpackung gerade in dem Moment über den Tisch, als die Kellnerin mit dem Kaffee kam.
Doch die Bedienung sagte kein Wort und zeigte auch keinerlei Anzeichen von Misstrauen. Cat zog die Verpackung zu sich heran und spähte durch die spiegelnde Folie. Im Inneren waren Hunderte von dünnen Chips, mit einer Kantenlänge von etwa einem Zentimeter und so dünn wie ein Fingernagel. Cat ließ das Bündel in der Antistatikfolie in ihre Ledertasche gleiten.
»Da ist noch einer«, sagte die Frau. Sie zog an einer Kette um ihren Hals und ließ ein flaches Metallkästchen aufblitzen, in das ein altes Logo der US-Army eingraviert war. »Mein Sohn. Aus dem Krieg.« Sie legte es auf den Tisch und schob es zu Cat hinüber.
Cat streckte die Hand aus, um es an sich zu nehmen, aber die alte Frau ließ noch nicht los. Sie sah Cat direkt in die Augen.
»Gott sei mit Ihnen«, sagte sie.
Der Glaube der alten Frau überraschte Cat. Die Digitalchips, die hochgeladene Persönlichkeiten beherbergten, waren eigentlich der Beweis, dass es so etwas wie eine Seele nicht gab.
Wenn man die hochgeladene Persönlichkeit auf einem Computer startete oder instanzierte, wie ein Nerd wie Mike es genannt hätte, dann bekam man augenblicklich eine Kopie des Verstandes dieser Person, die von ihrem biologischen Original nicht zu unterscheiden war. Instanzierte man sie ein zweites Mal, dann erhielt man zwei identische Persönlichkeiten. Mehrere zehn Millionen dieser Uploads bevölkerten den Cyberspace und genossen ein Leben unabhängig von den Zwängen ihrer toten oder siechenden Körper.
Seltsam oder nicht, sie schob die Hülle mit dem Identitäts-Chip in ihre Tasche. Als sie wieder aufsah, war die alte Frau schon auf dem Weg zur Tür.
Ihre Bestellung kam und Cat aß mechanisch.
Als sie fertig war und die Kellnerin mit einem Tablet-PC für den Bezahlvorgang kam, fand sich ein weiterer Metallbehälter auf dem Tisch. Es musste sich herumgesprochen haben, dass jemand Persönlichkeits-Uploads und KIs außer Landes schmuggelte. Cat schob auch diesen in ihre Tasche und ging dann nach draußen.
Die Tasche hing schwer an ihrer Schulter. Hatte sie in Miami die richtige Entscheidung getroffen? Es war ihr als das Vernünftigste erschienen, aber wie sehr hatte sich die Welt seitdem verändert! KIs und Persönlichkeits-Uploads waren verboten. Die USA und China entwickelten sich zurück.
Sie hatte sich in eine moderne Fluchthelferin verwandelt. Jedes Leben, das sie über die Grenze brachte, ob KI oder menschlicher Upload, war eine Abbitte für die Entscheidung, die sie damals getroffen hatte. Aber es würde die Millionen nicht zurückbringen, die dabei ihr Leben verloren hatten oder jetzt im digitalen Limbo festsaßen.
Sie schob die neuen Verpackungen in die abgeschirmte Sicherheitsbox und stieg in ihren Wagen. Wieder auf der Straße ließ sie ihn fahren, während sie gedankenversunken an die zweitausend Chips dachte, die sie bei sich hatte und die nun in den USA verboten waren. Cats letzte Hoffnung, ihre letzte Chance auf ein neues Leben. Vielleicht konnte sie die Welt nicht in Ordnung bringen, aber sie konnte wenigstens diese Leute retten.
Cat öffnete die Tür zu ihrem Hotelzimmer und sah zu ihrem abgestellten Wagen zurück. Obwohl sie todmüde war, überprüfte sie das Mesh-Netzwerk auf Anzeichen von Überwachung oder Gefahr. Sie hackte Router, Kameras und Server mit geübter Leichtigkeit. Sie erkannte keine Risiken, obwohl sich das Netz in den letzten zwei Jahren enorm verändert hatte. Manchmal erkannte sie die Protokolle kaum noch wieder und zweifelte an ihrer Fähigkeit, die Smart-Systeme zu kontrollieren. Plötzlich verunsichert spürte sie, wie ihre Brust eng wurde, und sie konzentrierte sich auf das Schild des Hotels. Die Beleuchtung erlosch und sie atmete erleichtert aus. Sie schaltete die Leuchtreklame wieder ein und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie brauchte Schlaf, war ganz benommen und verwirrt vor Erschöpfung. Ihr Wagen würde auf sie aufpassen. Sie hatte nur einmal innerhalb der letzten sieben Tage wirklich gut geschlafen und ihre Nanos schickten ihr schon Warnmeldungen. Ihr Kopf fiel schwer auf das Kissen.
Cat ging ein ausgetrocknetes Flussbett entlang, vom Wasser rund geschliffene Felsen waren tief im hellbraunen Schlamm versunken, so weit das Auge sehen konnte. Ein paar verkrüppelte Bäume hatten auf einer Anhöhe im Westen überlebt und ein dunkler Fleck am Horizont wurde langsam größer, als sie sich ihm näherte. Der Umriss stellte sich als verrosteter Laster heraus, der halb in dem trockenen Flussbett steckte. Ihr Herz hüpfte bei dem Gedanken an eventuelle Vorräte, obwohl es wahrscheinlicher war, dass man vor langer Zeit alles Nützliche aus dem Wrack herausgeholt hatte. Jetzt war es ein guter Ort für einen Hinterhalt.
Sie sah sich um, schützte mit der Hand ihre Augen vor der gleißenden Sonne und zwang sich dazu, das Netz zu checken. Die Datenverbindung flackerte, blieb aber stabil, das Kreischen beschädigter Datenpakete bombardierte ihr Neuralimplantat. Sie widerstand dem Angriff jedoch und startete eine Gegenoffensive, konnte jedoch keine nützlichen Informationen extrahieren. Von sich selbst und ihren früheren Fehlern angewidert trennte sie die Verbindung. Wie hatte sie das dem Netz nur antun können?
Sie zog ihre Waffe. Das Antibot-Gewehr lag schwer in ihren Händen. Sie näherte sich dem Lastwagen, ging bewusst in Kampfhaltung, um ihre Silhouette zu verkleinern und leichtfüßiger zu laufen.
»Kommt heraus!«, rief sie mit krächzender Stimme. Wann hatte sie das letzte Mal mit jemandem gesprochen? »Ich weiß, dass ihr da seid!«
Sie wartete und wollte die Waffe schon wieder zurück ins Holster stecken, als ein Schleifen über Stein eine Bewegung andeutete. Sie hob die Waffe wieder und wich zur Seite aus. »Ich habe euch gehört. Ihr könnt genauso gut friedlich herauskommen.«
»Wir kommen!« Ein metallischer Kopf – die Sonne glänzte auf dem blanken Metallschädel – hob sich über die Rückseite des Lasters hinter dem Radkasten. »Bitte tu uns nichts!«
Der alte Androide hatte früher vermutlich einmal Kleidung getragen, mochte sogar in einem Laden mit menschlichen Kunden gearbeitet haben, aber jetzt war selbst seine künstliche Haut zerfallen. Die zierliche Einheit erhob sich, eine skelettartige Gestalt aus Servos und Verstrebungen, die ein Bündel in einem Arm hielt. Hinter ihm bewegte sich etwas und ein Junge von etwa zehn Jahren erschien und hielt sich mit verkrampften Fingern am Rahmen des Androiden fest. Aus dem Bündel ertönte ein Weinen und Cat erkannte, dass der Androide ein menschliches Baby trug.
»Wo ist ihre Familie?«, fragte Cat. Sie steckte die Waffe weg und ging näher heran, hätte den Jungen gerne beruhigt.
»Ich bin jetzt ihre Familie«, sagte der Bot. Sie traten zurück, blieben auf Distanz. Der Junge schien unschlüssig zu sein, ob er wegrennen sollte, hatte aber zu viel Angst, um den Androiden loszulassen.
»Ich werde euch nichts tun«, sagte Cat.
»Ist es dafür nicht ein wenig zu spät?«, fragte der Androide. »Du hast alle Computer auf der Welt zerstört, das Netz gegrillt und jeden Roboter getötet, der damit verbunden war. Aber die Menschen waren von uns und der automatisierten Versorgungskette abhängig. Keine Nahrungsmittel, keine Elektrizität und kein Wasser. Wie, dachtest du, könnten sie das überleben?«
Der Junge drängte sich enger an den Androiden.
»Du hast zehn Milliarden denkende Wesen getötet, Catherine Matthews. Weniger als fünf Prozent der Menschheit sind noch am Leben.«
Cat schreckte hoch, die Augen weit aufgerissen in der Dunkelheit. Ihr Implantat sagte ihr, dass sie ein wenig mehr als vier Stunden geschlafen hatte. Heiß und verschwitzt strampelte sie die Decke weg und setzte sich auf.
Immer derselbe Traum. Aber sie hatte die Welt nicht zerstört. In Miami hätte sie etwas ändern können, aber sie hatte es nicht getan.
Sie stützte den Kopf in die Hände. Sie hatte damals 2043 eine Vision gehabt, als der Terrorismus und die Kämpfe begannen. Die Vision hatte sie verängstigt und zur Untätigkeit verdammt, weil sie eine globale Apokalypse hätte auslösen können. Stattdessen hatte sie zugesehen, hatte zugelassen, dass die Hälfte aller KIs auf der Welt abgeschaltet wurde, während die andere Hälfte durch sinnlose Einschränkungen verkrüppelt war. War das wirklich besser? Oder war diese Zukunft immer noch unvermeidlich? Sie schwang die Beine über die Bettkante. Sie musste sich wieder auf den Weg machen. Nach diesem Traum konnte sie sowieso nicht weiterschlafen, nicht, wenn es immer noch ein paar Leben zu retten gab.
An der Grenze bremste Cats Wagen bis auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Der Sperrgürtel, den die amerikanische Regierung errichtet hatte, um das Eindringen in den Luftraum zu verhindern, erstreckte sich bis in die obere Atmosphäre und sorgte bei jedem Grenzübergang für nervöse Anspannung.
Hunderte von menschlichen Grenzbeamten bemannten den Übergang nach Kanada. Es erschien ihr nach wie vor seltsam, nicht einen einzigen Roboter unter ihnen zu sehen, so wie sie sich früher gefühlt hatte, wenn sie die Schule schwänzte und feststellte, dass sie das einzige Kind im Spielzeugladen war. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück, fühlte sich müde, steif und schmutzig von den langen Tagen auf der Straße. Sie ließ ihren Verstand leer. Es gab keinen Grund, sich mit den Computern des Grenzschutzes anzulegen. Sie mochten keine eigene Intelligenz mehr haben, aber es war das Risiko nicht wert.
»Ich übernehme jetzt«, sagte sie wie zu sich selbst und legte die Hände auf das Lenkrad, als sie bei dem Grenzbeamten hielt. Eigentlich machte es keinen Sinn, dass sich die US-Grenzkontrolle mehr Sorgen darüber machte, wer ihr Land verließ, als die Kanadier darüber, wer bei ihnen einreiste. Aber viele Dinge, die die USA dieser Tage machte, ergaben keinen Sinn.
Die Grenzbeamtin trug einen kompletten Kampfanzug, Panzerweste, Helm und hielt eine Maschinenpistole in ihren Händen. »Haben Sie etwas zu verzollen …«
Die Beamtin machte eine Pause, wartete, bis die ID auf dem Display ihres Helmes angezeigt wurde. »… Mrs. Johnson?«
»Nichts«, antwortete Cat und gab mit ihrem Implantat nichts preis außer ihrer falschen Identität.
»Bitte warten Sie, während wir Ihr Fahrzeug scannen.«
Die Beamtin trat zurück, als ein solider Metallring aus dem Boden hochklappte und um den ganzen Wagen herumfuhr, bevor er wieder im Boden verschwand. Der aktive Scan war vermutlich hundertmal empfindlicher als die passiven KI-Scanner, die man sonst überall fand.
»Vielen Dank, Mrs. Johnson. Sie haben die Freigabe, zur kanadischen Grenzkontrolle weiterzufahren.«
Cat fuhr sanft an und rollte hinüber zum zweiten Kontrollpunkt, der einen knappen Kilometer entfernt war. Der kanadische Grenzbeamte war in Zivil. Er scannte kurz Cats ID, während er mit einem Kollegen scherzte. »Willkommen daheim in Kanada, Mrs. Johnson.«
Und damit war sie zurück in einem zivilisierten Land.
Sie war in den Vereinigten Staaten aufgewachsen und hatte den größten Teil ihres Lebens in Portland gewohnt. Damals waren die Staaten noch ganz normal gewesen, sogar fortschrittlich. Weltführend in den Bereichen künstliche Intelligenz, Robotik und Hochtechnologie. Aber vor zwei Jahren war in Miami etwas Schreckliches geschehen, das in Zusammenhang mit Nanotech stand. Es hatte sich herausgestellt, dass die ›Grey Goo‹, das Albtraum-Szenario sich endlos replizierender Nanobots, durchaus im Rahmen des Möglichen lag.
Wer konnte sagen, wie weit es sich hätte ausbreiten können? War es ein terroristischer Akt oder ein Unfall gewesen? Selbst zwei Jahre später konnte das niemand sagen.
Einige argumentierten, dass die Zahl der Opfer bezogen auf die Alternativen minimal gewesen sei, dass der Süden Floridas großenteils verlassen gewesen sei, nachdem sich 2032 der Meeresspiegel um zwei Meter gehoben hatte. Trotzdem war Miami vom Erdboden verschwunden, nichts außer einer Pfütze ›Grey Goo‹, der von zwei Nuklearwaffen zerstört worden war.
Es war nur die Eröffnungsrunde für das gewesen, was zu einer weltweiten Hexenjagd nach den Verantwortlichen geführt hatte. Nur KIs besaßen die intellektuellen Fähigkeiten, Nanobots zu erschaffen, und so vermutete man von Anfang an, dass die SFTA (South Florida Terrorist Attack), wie sie bald genannt wurde, ein Angriff von KIs auf Menschen war. Die Vereinigten Staaten erzwangen ein globales Herunterfahren aller KIs, um weitere Angriffe zu verhindern.
Aber nach und nach fuhr der Rest der Welt – alle außer den USA und China – seine KIs wieder hoch. Denn ohne KIs gab es keinen Handel, keinen Warentransport und keine Nahrungsmittelversorgung. Keine Computer, keinen Zugang zu Informationssystemen und auch keine Telekommunikation. Die menschliche Zivilisation war komplett von den KIs abhängig.
Nur die USA und China waren verrückt genug, die KIs abgeschaltet zu lassen. Sie verurteilten Millionen ihrer Bürger zum Tode, da sie Opfer von Kälte, Unfällen, Krankheiten und Hunger wurden, bevor man in der Lage war, die Gesellschaften ohne KIs wiederaufzubauen. Zwei Jahre später waren die USA und China immer noch KI-freie Zonen.
Schon der Besitz von Rechenleistung, die ein Viertel der menschlichen Denkleistung überschritt, war innerhalb ihrer Grenzen bereits ein Verbrechen, auf das Gefängnis stand. Das ganze Land war von Smartstaub mit geringer Rechenleistung bedeckt, um jeden Verstoß aufzuspüren.
Die USA ließen ihre Muskeln spielen und machten uralte Copyright-Gesetze geltend, nur um sicherzustellen, dass die Ausfuhr von KIs oder digitalisierten Persönlichkeiten unmöglich wurde. Zu einem Zeitpunkt, als die Zahl der KIs mehrere zehn Millionen erreichte und die Anzahl der hochgeladenen menschlichen Persönlichkeiten denen der KIs in nichts nachstand, bedeutete das, dass sich eine Menge Bürger im Limbo befanden. In den USA durften sie nicht gestartet werden und es wurde auch nicht gestattet, dass es jemand in einem anderen Land tat, was sie zu einer Langzeiteinlagerung auf Monate oder Jahre hin verdammte.
Cat wurde angesichts eines solchen Wahnsinns wütend. Wie konnte die USA, ein Land, das sich selbst als Hort der Freiheit und der Persönlichkeitsrechte verstand, sich zu so etwas versteigen: dem hochgeladenen Intellekt eines Menschen die Bürgerrechte abzuerkennen?
Cat fuhr nördlich in Richtung Vancouver und erreichte die Fähre nach Nanaimo auf Vancouver Island. Eine Vorfreude stieg auf der zweistündigen Fährfahrt in ihr auf und die Sorgen der letzten Tage fielen von ihr ab, als sie an der Reling des Vordecks die Seeluft einsog. Sie hatte die Fahrt schon viele Dutzend Male gemacht, aber es wurde ihr nie langweilig.
Sie machte einen Zwischenstopp in Nanaimo und fuhr in eine Waschanlage. Der Sprühnebel senkte sich auf das Fahrzeug, gefolgt von Schaum und den Reinigungsbürsten. Doch plötzlich stoppte das Förderband, die Bürsten zogen sich zurück und das Wasser hörte auf, an den Fenstern herunterzulaufen. Cat stieg aus, ging zu einer kleinen Tür, öffnete sie und trat in eine Schleuse aus durchsichtigem Plastik.
»Willkommen daheim, Cat«, sagte ein Mitarbeiter, der in einem Overall mit dem Logo der Waschstraße bekleidet war. »Hast du neue Freunde gefunden?«
»Ein paar. Hör mal, der Wagen ist mit Smartstaub bedeckt, das habe ich an der Grenze gespürt. Ich habe ihn auch an mir. Ich weiß nicht, ob sie es speziell auf mich abgesehen haben oder ob jeder diese Behandlung bekommt.«
»Smartstaub ist billig. Möglicherweise billiger als Dreck. Wir machen euch sauber.«
Er wartete einen Augenblick, hatte eine Hand über dem Touchpad. »Bereit für den EMP?«
Cat nickte.
Ein Blitz, dann zog der Geruch von Ozon durch die Kammer und eine graue Wolke stob aus der Ventilation. Noch mehr Nanotech, aber jetzt waren es ihre eigenen Maschinen. Die winzigen Soldaten würden fremde ›Besucher‹ auf ihrem Körper entdecken und zerstören. Sie drehte sich um und sah durch die Glasscheibe zu, wie ihr Wagen einen stärkeren elektromagnetischen Impuls erhielt, gefolgt von flüssiger Nanotech, die sich über die Karosserie ergoss. Sie wartete, während jeder Nanometer ihres Körpers, respektive der Karosserie bedeckt, kartografiert, untersucht und gereinigt war.
»Atme, Cat, atme. Sie können sonst deine Lunge nicht überprüfen.«
Zögerlich nahm sie einen tiefen Atemzug. Eine kleine Wolke von Nanobots erhob sich von ihrem Gesicht und strömte mit der Atemluft in ihren Körper, auf der Suche nach Nanotechnologie, die möglicherweise in sie eingedrungen war.
»Du bist jetzt sauber«, sagte der Mitarbeiter. »Du weißt doch, dass sich ihre Technologie seit SFTA nicht verändert hat, während sich unsere immer weiter entwickelt. Wie können sie da glauben, noch auf dem Laufenden zu sein?«
Wer wusste schon, was die Amerikaner dachten? Das globale Limit auf Klasse II galt für alle KIs, eine weitere Bedingung der USA, die theoretisch eine Konzentration von Rechenleistung stoppen und so einen weiteren Zwischenfall wie den in Miami verhindern sollte. Aber es verärgerte auch die KIs der ganzen Welt und führte zu Unruhen. Genau das, was die Amerikaner am meisten fürchteten, also die Terrorattacke einer KI, war das wahrscheinliche Resultat ihrer eigenen Politik.
Sie zuckte mit den Achseln und ging zum Wagen zurück. Sie wollte jetzt einfach nur nach Hause.
Sie nahm die nächste Fähre nach Quadra Island, fuhr dann quer über die Insel zu ihrer nächsten Fährfahrt. Die ganze Tour war eine komplizierte Reise: drei Fähren, zwei Grenzen und Hunderte von Kilometern mit dem Auto. Es war nicht nur einfach die Bewegung von einem Ort zum anderen, sondern eine spirituelle Reinigung. Die Fähren wurden kleiner, die letzte konnte kaum mehr als ein Dutzend Autos auf einmal transportieren. Es war Nachmittag und sie wusste, dass jetzt jeder bei Trude's sein würde.
»Wach auf, meine schlafende Schönheit.«
Das Codewort startete eine verborgene Software, die Strom zu schlummernden Prozessoren schickte, um neue Algorithmen tief aus dem Speicher auf die Hauptprozessoren zu lagern. Der Wagen vibrierte und das Netz veränderte und verzerrte sich. Dann war alles wieder normal.
Erst sagte der Wagen nichts. Er musste eine Woche an Sensordaten aufarbeiten, all das, was Cat erlebt hatte, seit sie die Insel verlassen hatte.
»Hattest du eine gute Reise?«, fragte ELOPe schließlich, als er online war.
»Ich bin froh, wieder zuhause zu sein«, antwortete Cat kopfschüttelnd. »Ich fahre nicht gerne weg.«
»Du bist nun mal die Einzige, die ihre Sicherheitsmaßnahmen so einfach umgehen kann.«
»Ich weiß.« Als Cat noch klein gewesen war, war ELOPe eine weltumspannende KI gewesen, die ihr Dinge über das Implantat zugeflüstert hatte, bis seine irdischen Instanzen im Krieg gegen den Phage-Virus zerstört worden waren. Jetzt, zwanzig Jahre später, war er zurück und es fühlte sich an, als wäre der imaginäre Freund aus ihrer Kindheit zum Leben erwacht. »Ich wünschte, ich könnte dich angeschaltet lassen. Ich fühle mich immer allein, wenn ich in die USA fahre.«
»Wenn deine Aufmerksamkeit auch nur für einen Augenblick nachlässt, würden ihre Sensoren mich entdecken und alles wäre vorbei.«
Cat nickte, aber sie antwortete nicht.
Die Fähre wurde langsamer, fuhr in die Bucht von Cortes Island hinein und legte in Whaletown an. Sie fuhren direkt zu Trude's Café. Cat stieg aus dem Wagen, Kies knirschte unter ihren Stiefeln. Noch hatte sie niemand bemerkt und sie maskierte ihre Anwesenheit für ein paar Sekunden, veränderte das Netz und filterte die Implantate der Menschen, sodass niemand sie sehen konnte.
Ein paar Dutzend Personen waren auf dem Rasen verteilt, während die ›Geister‹ darüber schwebten: KIs und die digitalen Bewusstseinsinhalte von Menschen, die Wolken aus Smartstaub nutzten, sodass ihre Umrisse vor dem Himmel und den Bäumen gerade eben sichtbar waren.
Auch Mike war da, trommelte Seite an Seite mit einem neuen Bot, den sie noch nicht kannte. Ihre nichtmenschlichen Hände trommelten einen Rhythmus, den menschliche Hände unmöglich aufrechterhalten konnten, während die Kinder zu ihrer Musik tanzten. Und da war auch ihre wunderschöne Ada, der Grund, warum es ihr so schwerfiel, die Insel zu verlassen, zu den Waffen zu greifen und die Kriege der Welt auszufechten. Ihre wundervolle Ada, vier Jahre alt, die selbstvergessen mit ihrem Vater Leon tanzte.