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Kapitel 5

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Juli 2045 – Gegenwart

Präsidentin Alexandra Reed saß in einem kleinen Nebenraum im Kapitol und ignorierte die Unruhe auf dem Korridor vor der Tür. Da waren nur sie, ihr Leibwächter, Joyce und der Verteidigungsminister Walter Thorson, in einem Büro von der Größe einer Besenkammer.

Ihre Hand zitterte über dem Display eines Tablets, auf dem sie die Notfallfreigabe für neue strategische Waffen unterzeichnen sollte. Sie zwang sich dazu, die Datei noch einmal zu lesen. Thorson räusperte sich hörbar, als er erkannte, dass sie dabei war, alles erneut zu lesen.

Reed ignorierte ihn. Anders als Thorson und seine Generäle konnte sie sich nicht damit abfinden, was sie da tun sollte: den Bau der ersten neuen Kernwaffen seit dem Ende des Kalten Krieges autorisieren. Zugegeben, es waren elektromagnetische Pulswaffen oder HEMPs, also Bomben, die hoch oben in der Atmosphäre gezündet wurden, aber sie war im postnuklearen Zeitalter aufgewachsen. Atombomben waren etwas, worum sich ihre Eltern gesorgt hatten, als sie selbst noch Kinder gewesen waren. Außerdem waren die Kernwaffen nur die eine Hälfte der Story. Die andere Hälfte des Gesetzentwurfs sah Gelder für die Entwicklung einer ganzen Armada von Minibomben vor, die so konzipiert waren, dass sie Wolken von Smartstaub zerstören konnten.

Aber sie war in der Zwickmühle: Wenn sie nicht unterschrieb, konnte die Präsidentschaft in andere, weniger emphatische Hände fallen. Sie unterschrieb auf dem Tablet und unterdrückte die Übelkeit, die dabei in ihr aufstieg.

»Vielen Dank, Frau Präsidentin«, sagte Thorson.

Er richtete sich auf und sah auf sie herab. Reed ertappte ihn dabei, wie ein Hauch von Verachtung über sein Gesicht huschte. Sie versuchte, eine Reaktion zu unterdrücken, spürte aber ein Schaudern. Sie war von Wölfen umgeben, die sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zerfleischen würden.

»Pro tempore«, murmelte sie. »Joyce, lassen Sie uns gehen.«

Reed trat auf den Korridor hinaus. Ihre anderen Leibwächter umringten sie augenblicklich, hielten ihr Tablets vor die Nase, damit sie andere, weniger geheime Dokumente unterzeichnen konnte. Eines unterschrieb sie, dann gab sie auf und schob die anderen beiseite, um den Gang hinunterzueilen. Sie war ohnehin schon spät dran für ihre Rede vor dem Senat.

Sie betrat den Saal, ging zum Podium hinüber und studierte die Gesichter der achtzig Senatoren, die ihre Ansprache erwarteten.

In den Nachwehen der Südflorida-Terrorattacke, als die KIs heruntergefahren worden waren, hatten mehr als zwanzig Repräsentanten einfach aufgehört zu existieren. Die Hälfte derer, die noch übrig waren, hatten erweiterte Implantate gehabt. Das Repräsentantenhaus war in der Folge in ein solches Chaos geraten, dass der Präsident, der Senat und der Oberste Gerichtshof gemeinsam entschieden hatten, das Repräsentantenhaus aufzulösen, bis es eine Lösung für die KI-Krise gäbe.

Nachdem der Präzedenzfall eingetreten war und sich daraufhin herausstellte, dass auch der amtierende Präsident ein aufgerüstetes Neuralimplantat besaß, wurde auch er gezwungen zurückzutreten. Die möglichen Nachfolger fielen wie Kegel, bis das Amt der 47-jährigen Alexandra Reed zufiel, die Umweltministerin gewesen war.

Gewohnt, sich um die Wälder und Parks des Landes zu kümmern, fand sie sich erschrocken in der Rolle der Präsidentin der Vereinigten Staaten wieder. Und mit einer auf das absolute Minimum reduzierten Verwaltung hatte sie weit mehr Verantwortung zu tragen als alle Präsidenten vor ihr.

»Die Präsidentin«, kündigte der Minister sie vor der Versammlung an.

»Pro tempore«, murmelte Reed wieder.

»Meine Herren Senatoren«, begann sie in gemessenem Tonfall. »Als wir vor zwei Jahren als Folge der Ereignisse in Süd-Florida künstliche Intelligenz verboten haben, zahlten wir einen hohen Preis: Unsere Infrastruktur brach zusammen und monatelang wussten wir nicht, ob wir unser Land überhaupt am Leben erhalten konnten. Wir haben Hunderttausende von Menschenleben zu beklagen, aber verglichen mit den Millionen, die wir durch die Terrorattacke und durch das Risiko der Freisetzung von Nanotech verloren haben, schienen uns die Kosten und der Verlust von Menschenleben angesichts der Konsequenzen gerechtfertigt. Wir haben diesen Preis einmal bezahlt und wir können uns nicht erlauben, wieder abhängig von KIs zu werden. Aus diesem Grund haben wir alle KIs innerhalb unserer Grenzen eliminiert, unsere nationalen Computernetzwerke mit semi-intelligenten Algorithmen neu aufgebaut und die internationale Gemeinschaft gedrängt, KIs global zu ächten.«

Sie massierte sich mit den Zeigefingern die Schläfen, als gäbe es gar keine Zuhörer.

Wie zur Hölle war sie in diese Sache hineingeraten, warum musste sie diese Maßnahmen verteidigen?

Sie war nicht pro-militärisch, eigentlich eine Pazifistin, und sie war ihr ganzes Leben lang für die Nutzung von KIs gewesen. Die technologischen Innovationen der KIs hatten für eine Halbierung des globalen CO2-Ausstoßes gesorgt und so die schlimmsten Auswirkungen der globalen Erwärmung gestoppt. Die KIs hatten innerhalb weniger Jahre mehr für die Umwelt und das Klima getan als die Menschen in drei Jahrzehnten. KIs hatten die Energieeffizienz erhöht und den Ressourcenverbrauch um den ganzen Globus auf ein Niveau gesenkt, das selbst die grünsten Naturschützer nicht für möglich gehalten hatten. Die Einsparungen machten sich sogar bezahlt.

Nur eine seltene Störung ihres Immunsystems, die dafür sorgte, dass Reed allergisch auf Nanoröhren aus Kohlefaser reagierte, hatte sie davon abgehalten, ein Neuralimplantat zu benutzen (und wie der Teufel es wollte, machte die Immunstörung es unmöglich, Nanotech einzusetzen, um das Problem selbst zu lösen). Unglücklicherweise war es genau dieses Leiden, das sie zur ersten Wahl für die Nachfolge des Präsidenten gemacht hat, da sie ohne den Makel verbotener Technologie war.

Sie hatte drei Jahre der vierjährigen Amtszeit als Ministerin hinter sich gehabt, ein Amt, das sie, schon wenige Monate nach der Amtsübernahme hatte niederlegen wollen. Sie wünschte sich, durch den Gifford-Pinchot-Nationalforst zu wandern und nicht eine Nation durch die trügerischen Gewässer internationaler Geschäfte und drohender Weltkriege zu navigieren.

Aber wenn sie jetzt schwach wurde … Der Nächste in der Befehlskette, was natürlich diejenigen mit einem Implantat ausschloss, war der Minister für Transportwesen Lewis Wagner, ein aggressiver Mann, der erst die Atombomben gestartet und später diskutiert hätte. Und das war noch die geringste seiner radikalen Tendenzen. Besser sie als er.

Es gab die ersten nervösen Reaktionen aus dem Publikum. Sie hatte sich ablenken lassen. Sie rückte ihr Manuskript zurecht und räusperte sich.

»Obwohl auch China die KIs verboten hat, teilt es nicht unsere Motivation. Es ist unserem Beispiel gefolgt, weil es nach Macht strebt, um sicherzustellen, dass die Kontrolle in den Händen des Zentralkomitees bleibt, das von den KIs bedroht wurde. Wir aber taten den Schritt aus dem Willen zur Freiheit heraus, um sicherzustellen, dass unsere Bürger, unsere Regierung und unser Handel von dem Einfluss und den Gefahren der KIs frei bleiben.« Sie nahm einen Schluck Wasser. »Leider reicht es nicht aus, unser eigenes Territorium zu schützen. Immer wenn wir Waren, Währungen oder Aktien austauschen, interagieren wir mit KIs. Wenn wir ins Ausland reisen oder Waren importieren, dann riskieren wir, uns mit Nanotech zu infizieren. Jede Verbindung mit dem globalen Netz stellt ein Risiko für Amerika dar, von einer KI infiltriert zu werden. Wir haben nur einen Planeten, nur ein Ökosystem – und Grenzen sind nur imaginäre Linien, die von KIs oder Nanobots nicht respektiert werden.«

Ihre Stimme wurde kraftvoller und sie fuhr fort. »Wir müssen uns unseren Planeten zurückholen. Es ist an der Zeit, die Weltgemeinschaft dazu zu zwingen, Plänen für ein globales Verbot solcher Computerrisiken zuzustimmen. China hat sich bereit erklärt, mit uns zusammenzuarbeiten, um Druck auf die internationale Gemeinschaft auszuüben, weswegen wir mit sofortiger Wirkung Handelssanktionen verhängen.«

Ein Raunen ging durch den Senat. Reichtum war mittlerweile zu gut verteilt und zu viel davon war in den Händen der KIs, sodass Sanktionen keine effektiven Bedrohungen mehr darstellten. Dennoch war sie diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte.

»Für den Fall, dass unsere Handelssanktionen nicht erfolgreich sind, habe ich den Bau neuer Waffen gegen die KIs autorisiert, Waffen, die wir nur als letzte Option einsetzen werden.«

Applaus erklang, als sie verkündete, dass sie der Wiederbewaffnung zugestimmt hatte. Die Reaktion des Auditoriums missfiel ihr und erfüllte sie mit Reue. Die Unterschrift war ein Fehler gewesen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass das Militär sie in so eine Lage brachte. Aber was hätte sie stattdessen tun können?

Ohne weitere Aussetzer kämpfte sie sich durch den Rest ihrer Rede und wurde schließlich aus dem Senat geleitet.

»Hier entlang, Frau Präsidentin«, sagte ihr Leibwächter.

»Pro tempore«, sagte sie kaum hörbar, ihr Mantra, nicht auch nur eine Stunde länger als nötig in dieser Position zu bleiben.

DIE TURING-ABWEICHUNG

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