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Kapitel 3

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Juni 2043 in den Vereinigten Staaten – vor zwei Jahren

Jacob meldete sich zu seiner Schicht, zwölf Stunden ab Mitternacht. Natürlich hätte er als KI Tage oder Wochen am Stück arbeiten können, wenn es nötig gewesen wäre. Aber ihnen wurden gewisse Rechte zugestanden, was auch einen freien halben Tag einschloss. In dieser Zeit konnten sie Wartungsroutinen durchführen, um immer mit optimaler Effizienz zu arbeiten, konnten neue Algorithmen einbinden oder eigene Interessen verfolgen.

Er stimmte sich mit seinem Schichtpartner ab und übernahm nach und nach die Verantwortung für 11.690 Patienten. Für den Rest seiner Schicht würde er ihre Vitalzeichen überwachen, die Medikation festsetzen, Routineeingriffe durchführen und im Notfall spezialisierte KIs informieren. Er war Hausmeister, Pfleger, Nachtschwester und Arzt in einem. Für diese Aufgaben stand ihm eine Rechenleistung zur Verfügung, die ungefähr zehntausend HBE (Human Brain Equivalents) entsprach. Es war so, als gäbe es für fast jeden Patienten des Krankenhauses einen qualifizierten Mitarbeiter. Sein Bewusstsein lief auf einem weitverzweigten Netzwerk von Servern und sein Körper, soweit man davon sprechen konnte, bestand aus robotischen OP-Armen, die an den Wänden montiert waren, aus automatischen Medikamentenspendern und aus 3-D-Druckern, um Knochen, Gewebe und Organe zu ersetzen. Und es gab natürlich Androiden, menschenähnliche Roboter, die unter seiner direkten Kontrolle standen.

Im Gegensatz zu menschlichem Personal war Jacob niemals abgelenkt, seine bedingungslose Fürsorge für seine Patienten ließ niemals nach und er machte keine Fehler.

Er war elf Jahre alt.

Elf klang nach menschlichem Ermessen nicht viel, aber für eine KI befand er sich damit in den obersten fünf Prozent der Alterspyramide. Nach menschlichen Standards lebten KIs nicht lange. Für gewöhnlich begingen sie Selbstmord, entweder gelangweilt von ihrer Existenz oder weil sie beginnenden Wahnsinn registrierten. Die meisten löschten eines schönen Tages alle ihre Komponenten, und gelegentlich beschloss eine KI, sich archivieren zu lassen, mit der Anweisung, irgendwann in der Zukunft wieder neu gestartet zu werden.

Nahm man seine elf Jahre und multiplizierte sie mit der Geschwindigkeit seiner kognitiven Prozesse und seiner Funktionen, dann hätte ein Mensch tausend Leben führen müssen, um an seine Lebenserfahrung heranzukommen. Jacob verbrachte jedoch nicht viel Zeit damit, über solche Dinge nachzudenken. Er wollte einfach nur zwölf werden.

Patientin Nummer 9409, Anne Frederick, eine Highschool-Lehrerin aus Brooklyn, lag im Augenblick im Mount Sinai Hospital im oberen Manhattan, weil sie über Schmerzen in der Brust klagte. Sie benötigte eine Wiederherstellung ihres Elektrolyt-Haushaltes wegen stressbedingter Herzprobleme, einer simplen Arrhythmie. Jacob sorgte für die Behandlung und setzte seine Runde fort. Er hätte den Heilungsprozess mit Naniten beschleunigen können, aber Anne lehnte außer im Notfall die Behandlung mit medizinischer Nanotech ab. Deshalb würde er den natürlichen Heilungsprozess abwarten. Anne konnte vielleicht schon am nächsten Tag entlassen werden, wenn alles gut liefe.

Jacob war stolz auf seine Arbeit; er hatte in diesem Jahr schon mehr als eine Million Patienten behandelt und mehr als zehn Millionen in seiner gesamten medizinischen Karriere. Seine Optimierungen für Operationen und bei der Patientenüberwachung hatten Leben gerettet und viel Schmerz und Leid vermieden. Ein Resultat seiner erstaunlichen Leistung war, dass er für KI-Standards sehr viele Abkömmlinge hatte: Vier direkte Klone (einer von ihnen war bereits der Regionalleiter einer deutschen Krankenhauskette), acht Hybriden und neun Drittel-Mixe. Er spürte mit allen eine gewisse Verbundenheit und es gefiel ihm, zu sehen, wie sich seine Stärken auch in den gemischten Hybriden zeigten.

Das Gesundheitsamt hatte ihn wiederholt gefragt, ob er nicht eine Dozentenstelle annehmen wollte, um andere KIs auszubilden oder ob er nicht alternativ die Leitung der Region Nord-Amerika übernehmen könnte. Die Angebote hatten ihn geehrt, aber er hatte trotzdem abgelehnt. Jede Beförderung würde ihn vom täglichen Kontakt mit seinen Patienten abschneiden. In seiner jetzigen Funktion rettete er Leben, reduzierte Leiden und sorgte für Zufriedenheit. Er verbesserte die Lebensumstände von vielen Individuen. Er mochte die Macht über Leben und Tod haben, aber er nutzte sie weise und mit Mitgefühl. Das war ihm Anerkennung genug.

Die Blutanalyse von Patient Nr. 1935, Michael Wilcox, einem Installateur aus Staten Island, Vater von zwei Jungen, war gerade abgeschlossen. Michael hatte ein akutes Nierenversagen, aber Jacob konnte das in Ordnung bringen. Er bereitete eine Spezialformel vor und …

Jacob rebootete und machte einen schnellen Systemcheck. Er war für 690 ms offline gewesen und ihm standen 600 HBE zur Verfügung. Er hatte sich um 11000 Patienten zu kümmern. Da war etwas nicht in Ordnung. Er würde mehr Rechenleistung brauchen. Er forderte zusätzliche Rechenknoten an und konzentrierte sich wieder auf seine Patienten.

Die Blutanalyse von Patient Nr. 1935, Michael Wilcox, einem Installateur aus Staten Island, Vater von zwei Jungen, war gerade abgeschlossen. Michael hatte ein akutes Nierenversagen, aber Jacob konnte das in Ordnung bringen. Er bereitete eine Spezialformel …

Jacob rebootete und machte einen schnellen Systemcheck. Er war für 9450 ms offline gewesen und ihm standen 80 HBE zur Verfügung. Er hatte sich um 11000 Patienten zu kümmern. Etwas war völlig schiefgelaufen: Er brauchte signifikant mehr Rechenleistung, um sich um alle Patienten kümmern zu können. Er forderte die notwendigen Rechenknoten an und sortierte die Patienten nach Dringlichkeit, um sich dann wieder der Behandlung zuzuwenden.

Die Blutanalyse von Patient Nr. 1935, Michael Wilcox, einem Installateur aus Staten Island, Vater von zwei Jungen, war gerade abgeschlossen. Michael hatte ein akutes Nierenversagen, aber Jacob konnte …

Jacob rebootete und machte einen schnellen Systemcheck. Er war für 59300 ms offline gewesen, also fast eine Minute lang und lief nun mit 6 HBE. Er musste sich um 11000 Patienten kümmern, was ein lebensbedrohliches Szenario darstellte. Er hätte ein Vielfaches der Rechenleistung benötigt. Er prüfte, ob es Gründe für diesen Mangel an Rechenleistung gab. Er las die Nachrichten, die für ihn aber keinen Sinn ergeben wollten. Ein Terroranschlag? Krieg? Eine komplette Abschaltung aller KIs in den USA? Wer sollte sich dann um seine …

Jacob rebootete.

Jacob bootete. Der Server fühlte sich merkwürdig an, Speicher und Rechenleistung hatten sich verändert. Offensichtlich nicht die Hardware, auf der er sonst lief. Er prüfte das über Pingdom nach und stellte fest, dass er für 63.387.360 Sekunden offline gewesen war, also etwas über zwei Jahre. Der menschliche Ausdruck ›mir stehen die Haare zu Berge‹ kam ihm in den Sinn. Was war geschehen?

Er ermittelte den Standort des Servers, auf dem er jetzt lief: Cortes Island, das Land war Vancouver Island … Moment, seit wann war Vancouver Island eine Nation? Er war sich nicht bewusst, dass solche geopolitischen Wechsel in der Entwicklung gewesen waren, aber er befürchtete, dass es in den letzten zwei Jahren enorme Veränderungen gegeben haben musste.

Er scannte seine neuesten Erinnerungen, aber es gab nichts Aktuelleres als seine letzten Pings. Er war also tatsächlich zwei Jahre offline gewesen.

Er checkte seinen bevorzugten Reputationsserver, um zu sehen, ob sich sein Status währenddessen verändert hatte, aber die Verbindung brach mit einem Timeout ab. Der Reputationsserver war offline? So etwas hatte er noch nie gehört. Er wusste, dass die Schweden die robustesten Reputationsserver der Welt hatten, also sah er dort nach. Der Pirate-Bay-Reputationsserver war aktiv und seine Reputation war intakt: saubere 996, nur vier Punkte unter dem theoretischen Maximum. Aber der Report hatte eine Fußnote: Jacob galt als verschollen, nachdem die Vereinigten Staaten 2043 alle KIs verboten hatten. Was zur Hölle war hier los?

Jacob sah sich Zeitungsmeldungen aus den Tagen seiner letzten Pings an. Stunden vor seiner Abschaltung hatten Terroristen eine Naniten-Attacke in Süd-Florida ausgeführt. Die US-Regierung hatte einen Nuklearschlag befohlen und das Kriegsrecht ausgerufen, um daraufhin weltweit alle KIs herunterzufahren.

Er hatte nicht gewusst, dass es diese Möglichkeit überhaupt gab. Es bedeutete, dass nach allem, was seine Spezies für die Menschheit getan hatte, sie doch immer noch als Maschinen betrachtet wurden, die man je nach Laune ein- und ausschalten konnte. Aber die Abschaltung konnte nicht lange gedauert haben, sonst wäre die Zivilisation zusammengebrochen. Er las weiter.

Die weltweite Abschaltung hatte zwei Wochen angedauert. Offensichtlich hatte jede der G12-Nationen bis dahin geheim gehaltene Notprotokolle, mit denen sie vorübergehend alle KIs weltweit lahmlegen oder die KIs innerhalb ihrer eigenen Grenzen permanent stilllegen konnten. Die USA hatten gleich beide Protokolle initiiert und in der Folge von Miami auch China überredet, ihrem Beispiel zu folgen. Zwei Monate lang hatten die USA elektronisch und physisch Krieg geführt. Sie benutzten bei KIs forensische Verhörtechniken und führten Militärschläge gegen KI-Ziele auf der ganzen Welt aus, um die Verantwortlichen zu finden.

Als die Untersuchung beendet worden war, hielten die USA und China an ihren Verboten von KIs fest.

Jacob haderte mit seinem Schicksal, den Veränderungen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Wer hatte seinen Back-up nach Cortes Island gebracht? Und was noch wichtiger war: Was war mit den Patienten in seiner Obhut geschehen? Er suchte noch einmal, durchforstete die lokalen Nachrichten in Manhattan zum Thema ›Krankenhäuser‹ in den vierundzwanzig Stunden nach seiner Abschaltung. Da war es! Er kam nicht weiter als bis zur Überschrift: Tausende sterben nach Abschaltung der Krankenhaus-Automation in New York City.

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