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Drittes Kapitel

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Nach einem mit den verschiedensten Geschäften ausgefüllten Vormittag hatte sich Harold Bancroft in das kirchenstille Lesezimmer seines Klubs zurückgezogen, wo er in einem der unwahrscheinlich bequemen Sessel vor dem Kamin mehr lag als saß, rauchte und einen Blick auf die Kaminuhr warf. Gleich halb eins. In zehn Minuten würde Archibald Barring hiersein, der heute von Deutschland eintraf.

Da Begrüßungs- und Abschiedsszenen in der Öffentlichkeit des Bahnsteigs dem englischen Empfinden nicht entsprechen, hatte Harold einen Diener zur Station geschickt, der Archi dort empfangen und zum Lunch in den Klub geleiten sollte. Sie wollten dann den Dreiuhrzug nach Bancroft Park nehmen.

Harold stand auf und schlenderte in die Halle hinüber, als auch schon Archi die Halle betrat. Ein wenig befangen sah er sich in dem großen, mit kostbarer Einfachheit ausgestatteten Raum um. Mit seiner ungewöhnlichen Länge fiel er selbst hier als groß auf. Er glich in seiner Erscheinung aber weniger einem zu schnell aufgeschossenen Jungen als einem schon ziemlich fertigen jungen Mann. Verhältnismäßig breit in den Schultern, schmal in Taille und Hüften und wohlproportioniert, hielt er sich gerade, aber sehr ungezwungen. Der Kopf mit dem vollen, links gescheitelten dunkelblonden Haar, dem hochgewölbten Hinterschädel war ausdrucksvoll und gut geformt. Die langbewimperten Augen wurden von hochgeschwungenen, dichten Brauen beschattet. Die kräftige Nase sprang ziemlich stark hervor. Ein weicher Zug um den schmallippigen Mund gab diesem ansprechenden Gesicht etwas Kindliches, das in diesem Augenblick unter dem Einfluß der Befangenheit besonders hervortrat.

Doch da kam auch schon ein ziemlich großer, in seiner Sehnigkeit fast mager zu nennender, glattrasierter Gentleman in dunklem Rock, schwarzer Krawatte und grauen, gestreiften Beinkleidern auf ihn zu, und eine nervige Hand umfaßte die seine. In Harolds ganzer Art lag etwas Kameradschaftliches, die Lage von vornherein Klärendes.

»Froh, dich zu sehen«, begrüßte ihn Harold Bancroft in stark englisch gefärbtem, doch fließendem Deutsch. »Ich hoffe, du hast eine angenehme Überfahrt gehabt?«

Archi fühlte sich erleichtert, daß er deutsch angesprochen wurde. Daß er mit seinem Schul-Englisch nicht sehr weit kommen würde, hatten ihn seine Erfahrungen auf der Überfahrt schon gelehrt.

»Vielen Dank, Onkel Harold«, sagte er, »es ging alles ganz gut. Einen Augenblick wurde mir so komisch im Magen, aber ich ging dann an Deck, und da war es bald wieder vorbei. Darf ich dir nochmals sehr für eure freundliche Einladung danken …«

»All right«, wehrte Harold ab, »wir werden eine angenehme Zeit haben, so hoffe ich.«

»Ich freue mich sehr darauf, bei euch zu sein, Onkel Harold«, sagte Archi mit Wärme. »Wie geht es Tante Gisa?«

»Oh, sie freut sich auf dich. Wir haben einen Freund bei uns, deine Tante wollte ihn nicht gern allein lassen. Sie hätte dich sonst auch abgeholt. Entschuldige mich einen Augenblick, bitte …«

Er wandte sich an den Diener, der im Hintergrund wartete.

»Besorgen Sie das Gepäck zum Dreiuhrzug zur Station, Matthew.«

Der Mann verschwand.

»Ein Landsmann von dir ist bei uns, der Baron Kettelried«, erzählte Harold, als sie in ihrem Abteil erster Klasse auf der Fahrt nach Bancroft Park saßen und er sich seine Pfeife stopfte. »Ich sagte schon, daß deine Tante ihn nicht gern allein lassen wollte! Der Arme ist nämlich blind. Vor vierzehn Jahren hat er das Unglück gehabt, das Augenlicht zu verlieren.«

»Wie schrecklich! Blind – das muß doch das Schwerste von allem sein.«

»Oh, schrecklich natürlich! Aber Adrian Kettelried trägt sein Unglück bewundernswert. Er genießt das Leben auch jetzt noch. Niemand könnte denken, daß er es nicht täte. Er ist unterhaltend und heiter und liebt Geselligkeit. Wir sind alte Freunde. In jedem Jahr ist er längere Zeit bei uns.«

»Wie hat denn das Unglück nur geschehen können?«

»Ein unglücklicher Zufall. Als junger Mann war er Offizier, trat dann zur Diplomatie über. Der Graf Herbert Bismarck machte seinen Vater auf ihn aufmerksam, und your great old man nahm ihn ins Auswärtige Amt. Zwei Jahre war er hier in London an eurer Botschaft. Dann ging er nach Paris und von dort als Konsul nach Kapstadt. Von Kapstadt machte er einen Trip ins Innere. Zusammen mit einem Freund. Sie wollten auf Großwild jagen. Eine Kugel … wie sagt man bei euch? Oh – ich weiß: eine verirrte Kugel sagt man. Also, so war das. Sie drang ihm in die linke Schläfe. Der Sehnerv wurde zerstört, und sie machte ihn blind für immer, den Armen.«

»Furchtbar! Mir scheint fast, es wäre weniger hart gewesen, wenn die Kugel ihm das Ende gebracht hätte.«

Harold Bancroft nickte nachdenklich. »Vielleicht könnte man so denken, aber lerne ihn kennen, und du wirst anders denken, sollte ich meinen. Er sieht mehr, so scheint mir, als andere, die ihre gesunden Augen haben, und wird mit dem Leben besser fertig als irgendwer sonst. Man hat mir gesagt, Blinde leiden weniger als Leute, die nicht hören können. Vielleicht ist das so. Jedermann ist nett mit einem Erblindeten und tut sein Bestes für ihn. Mit tauben Leuten muß man schreien, und wer schreit, ist nicht mehr freundlich gestimmt. Ein Erblindeter kann an jeder Unterhaltung teilnehmen, und weil die Gedanken durch die Augen nicht abgelenkt werden, arbeitet das Gehirn wohl schärfer als bei den Leuten, die sehen können. Wahrscheinlich findet er fortwährend Fragen heraus, über die es sich nachzudenken lohnt. Man sollte auch glauben, daß oft Probleme für ihn entstehen, die interessant sind, die wir aber gar nicht sehen oder an denen wir einfach vorbeigehen. So ist das vielleicht.«

Archi starrte vor sich hin. Konnte man bei einem solchen Unglück mit dem Leben fertig werden, wie Onkel Harold sich ausgedrückt hatte, so mußte man schon ein ganz besonderer Mann sein. Er stutzte vor seinen eigenen Gedanken. Wurde denn er selbst mit dem Leben fertig? Was hieß das überhaupt, mit dem Leben fertig werden?

Doch ihm blieb keine Zeit, zu einem bestimmten Ergebnis seines Nachdenkens zu kommen. Der Zug verlangsamte die Fahrt, Harold Bancroft stand auf:

»Wir sind da.«

Hinter dem Stationsgebäude wartete der geschlossene Wagen, ein bequemer Omnibus. Auf Gummirädern rollte der Wagen lautlos die Chaussee herunter. Der Kutscher fuhr ein gutes Tempo.

Nach einer reichlichen Viertelstunde bog der Wagen in eine alte Ulmenallee ein, fuhr dann über eine Brücke mit steinerner Brüstung in ein mächtiges Bogentor ein, das dicke, stumpfe Rundtürme flankierten.

Unter den Wagenrädern knirschte wieder Kies: man war im Schloßhof, den von drei Seiten das Schloß mit seinen stumpfwinkelig angebauten Seitenflügeln, auf der vierten kleinere, vermutlich von der Dienerschaft bewohnte Gebäude bildeten. An diese schlossen sich Kutsch- und Reitstall und endlich die Wagenremise.

In ihrer gepflegten Weitläufigkeit hatte die Anlage etwas ungemein Exklusives, ja Großartiges; sie fügte sich jedoch in ihrer Gesamtwirkung zu einem wohltuenden Bild der Ruhe und des Behagens.

Archi wurde zu stark von dem Gedanken an Gisela beherrscht, als daß er das Schloß mit wirklichem Interesse betrachtet hätte. Zudem raubte ihm die Aussicht, in den nächsten Minuten Gisela nach einer Spanne von vier oder gar fünf Jahren wiederzusehen, auch jene Unbefangenheit, die er Harold gegenüber verhältnismäßig schnell zurückgewonnen hatte.

Man hatte in der Garderobe neben der Halle abgelegt. Nun stand Archi vor dem hohen Spiegel und bearbeitete mit einer silbernen Bürste sein dichtes dunkelblondes Haar, nestelte an seiner Krawatte, zog sich die Weste herunter. Harold, die Hände gemütlich in den Hosentaschen, stand dabei und plauderte mit der ganzen Harmlosigkeit des selbstsicheren Engländers über gleichgültige Dinge. Die beiden Diener waren, nachdem sie ihnen die Paletots abgenommen hatten, längst verschwunden. Nur der Haushofmeister Parker, ein uralter Mann mit verknittertem, undurchdringlichem Gesicht, stand, in seinem Frackanzug die verkörperte Korrektheit, noch draußen. Etwas Wesen- und Zeitloses ging von ihm aus, doch lag in seiner Haltung etwas, das Respekt abnötigte. Onkel Harold hatte auf ihn gewiesen: »Das ist Parker. Er hat deinen Vater noch gut gekannt.« Archi war auf den Alten zugetreten, hatte ihm die Hand gegeben: »Guten Tag, Mr. Parker!«

Als Archi selbst beim besten Willen an seinem Äußeren nichts mehr aussetzen konnte, ging er, innerlich zögernd, an dem alten Parker vorbei, der die Tür geöffnet hatte, in die Halle. Er gab sich alle Mühe, seine Unsicherheit hinter der Maske eines ein wenig krampfhaft wirkenden, männlich-forschen Sichgebens zu verbergen. In der Halle verbreiteten verschleierte Lampen ein gedämpftes Licht. Archi empfand es als angenehm und beruhigend, nicht in blendende Helle treten zu müssen.

In der nächsten Sekunde fiel sein Blick auf Gisa.

Dort, nahe dem schönen Mittelpunkt der Hauptwand, einem großen Kamin, in dem ein Feuer flackerte, stand die vertraute Gestalt, deren Schönheit die Zeit nichts hatte anhaben können. Daß der zarte Schimmer, der einst auf ihren Wangen rosig geblüht hatte, dem bräunlichen Ton des Elfenbeins gewichen war, die schöngeschwungenen Lippen des ausdrucksvollen Mundes eine Spur schmaler geworden waren, entging Archis Blick. Plötzlich dachte er gar nicht mehr daran, daß er nur für eine kurze Spanne Zeit als Gast in dieses alte Schloß eingezogen war, nein, ihm war auf einmal zumute, als gehöre er hierher, als sei er zurückgekehrt, nach Hause gekommen.

Den Abglanz froher Erwartung in den blauen Augen, trat Gisa mit ausgestreckten Händen auf ihn zu. Ihr Blick hieß ihn so herzlich willkommen, daß er, bevor sie noch ein Wort gesprochen hatte, deutlich fühlte: Zwischen ihr und ihm hatte sich nichts geändert, seit sie sich vor Jahren in Wiesenburg zum letztenmal gesehen.

»Archi – wie freu’ ich mich nur!« Nichts als diese wenigen Worte sagte sie, aber ihr ganzes Herz lag in ihnen.

Archi war so erfüllt von dem Erlebnis des Wiedersehens, daß er nicht einmal die drei Hunde bemerkte, die beiden weißgelben Spaniels und den mächtigen, schwarzgrauen irischen Wolfshund, die vor dem Kamin geschlafen, sich jedoch bei seinem Eintritt erhoben hatten, um dem Fremden nicht feindlich, aber doch wachsam prüfend entgegenzublicken.

Gisa hielt seine Hand noch immer in der ihren. Zum Sprechen war er noch nicht gekommen. Erst jetzt, da er wieder sehr gerade und äußerlich noch ein wenig steif, innerlich indes schon ganz frei und sicher vor ihr stand, sagte er mit großer Wärme:

»Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich auf dich gefreut habe, Tante Gisa. Es war zu reizend von euch, mich einzuladen.«

Der Klang seiner Stimme, sein ganzes Sichgeben erweckten Erinnerungen in ihr, die sie fast überwältigten. Die Vergangenheit stand in allem, selbst in den kleinsten Einzelheiten, plötzlich so greifbar nahe vor ihr, als hätte alles das, was ihr angehört hatte und ins Grab gesunken war, wieder Gestalt angenommen.

In ungläubigem Staunen, betroffen, beinahe bestürzt blickte sie auf Archi. Er hatte zwar die Augen seines Großvaters, aber sonst eine fast unheimlich anmutende Ähnlichkeit mit Fried.

Doch schon hatte Gisela ihre Fassung wiedergewonnen.

»Komm, Archi, ich bring’ dich jetzt in deine Zimmer, und wir trinken Tee bei dir.«

Sie warf einen Blick auf die alte Standuhr, deren Zifferblatt die Inschrift »Memento mori« trug.

»Noch fast drei Stunden bis zum Essen«, stellte sie erfreut fest. »So können wir uns noch sehr viel erzählen. Komm, Archi! Natürlich habe ich tausend Fragen! Aber erst erzähl mir, wie es der Großmama geht und Hanna? Wie fandest du die Großmama? Wirklich so alt geworden?«

Gefolgt von dem würdevollen Wolfshund Taps und den beiden Spaniels stiegen sie die breite Treppe hinauf, und Archi, Gisas Arm unter dem seinen, erzählte – nun schon in aller Harmlosigkeit – von seinem Aufenthalt am Lützowufer.

Während er dann von der Großmama und Hanna Lamberg sprach, gingen sie einen langen, mit Schränken und Kommoden, Tischen und Tischchen, Sesseln und Stühlen schön hergerichteten Korridor hinunter.

»Aber sie ist auch alt geworden, die Hanna. So langsam wird sie zur alten Jungfer, fürchte ich.«

»So, findest du? Mein Gott – es bleibt ja keinem von uns erspart, Archi, das Altwerden.«

Er musterte sie von der Seite. Jung und sehr schön erschien sie ihm! In allem und jedem genau das Gegenteil von dem, was Tanten sonst zu sein pflegen.

»Aber, Tante Gisa, das kannst du von dir doch wahrhaftig nicht sagen«, behauptete er mit temperamentvoller Überzeugung. »Du bist überhaupt nicht älter geworden! Genau wie früher siehst du aus! Ganz genauso!«

»Sehr nett von dir, Archi, das zu behaupten, aber es ist nun einmal so: im Verhältnis zu deinen zwanzig Jahren bin ich eine alte Frau.«

Er blieb stehen, sah sie beinahe entrüstet an. »Für mich bist du das nicht! Jung bist du und sehr schön.«

Gisela lachte. Ihre Wangen färbten sich eine Spur tiefer. Sie fühlte es und suchte mit einem Scherzwort über den Augenblick hinwegzugleiten.

»Wir wollen machen, daß wir zu unserem Tee kommen – mein galanter Neffe.«

Als sie dann Archis Zimmer betraten, sah er sich erstaunt, schließlich beinahe ein wenig verlegen darin um. Geradezu unwahrscheinlich mutete ihn die Eleganz an, all die Schönheit, die echt englische Bequemlichkeit. Der Kontrast zwischen seiner kahlen Stube in Drangwitz, die ihm als der Inbegriff aller Unbehaglichkeit vorschwebte, und dem Komfort hier ließ sich kaum ausdrücken.

»Aber, Tante Gisa«, stotterte er, »hier soll ich wirklich wohnen? Das ist doch viel zu …«

»Wenn du es nur behaglich findest«, fiel sie ihm lächelnd ins Wort, »dann habe ich meine Absicht erreicht! Ich möchte es dir hier doch gern möglichst angenehm machen.«

Impulsiv, dankbar küßte er ihr die Hand.

Der runde, niedrige Tisch aus der Zeit der Königin Anna war mit schönem Porzellan und altem Silber, mit geröstetem Weißbrot, Butter, Orangenjam und Kuchen höchst einladend hergerichtet. Er stand vor dem Kamin, in dem ein gutes Feuer brannte. Unvergleichlich gemütlich war das alles. Dicht neben Gisas Sessel hatte sich Taps in seiner ganzen Mächtigkeit und Würde auf dem Teppich niedergelegt. Der Teetisch schien ihn, sehr im Gegensatz zu den beiden Spaniels, nicht im geringsten zu interessieren. Diese saßen rechts und links von Gisa und verfolgten jede ihrer Bewegungen mit brennender Aufmerksamkeit. Sie schraubte die Flamme unter dem silbernen Teekessel höher, schob Archi Toast, Butter, Jam zu.

»Über alles, was gewesen ist, müssen wir sprechen, Archi«, sagte sie dabei. »Ganz genau und ausführlich. So schwer war das alles für dich. Niemand weiß es besser als ich.«

Zögernd, wie unter dem Einfluß einer gewissen Unsicherheit, sprach sie dann weiter: »Nicht heute vielleicht. Aber das muß ich dir gleich jetzt sagen, es war ein sehr unglücklicher Zufall, daß ich die Depesche deines armen Vaters nicht rechtzeitig bekam. Du weißt es wahrscheinlich – wir waren damals im Mittelmeer. Erst nach neun oder zehn Tagen, als schon alles entschieden und nichts mehr daran zu ändern war, bekam ich das Telegramm.«

Er nickte. »Ja, Tante Gisa, ich weiß. Wäre Vaters Depesche gleich in deine Hände gekommen, alles hätte anders kommen können. Oder vielmehr, es wäre bestimmt anders gekommen.«

»Glaubst du wirklich, Archi?« fragte sie aufseufzend, als laste des Zufalls sinnloses Walten noch immer auf ihr. »Glaubst du, dein Vater hätte Wiesenburg nicht aufgegeben, wenn ich ihm davon abgeraten hätte?«

»Ich glaube das nicht bloß, ich weiß es! Von August weiß ich es. Ich werde es dir erzählen …«

»Ja, Archi«, fiel sie ihm beinahe hastig ins Wort. »Natürlich mußt du es mir erzählen. Alles! Aber später, Archi. Nicht jetzt.«

Schrecklich waren die Monate damals gewesen, jene Zeit, in der sie um Fried geweint hatte. Und mit alldem, was sie damals innerlich zerriß, hatte sie allein fertig werden, hatte sie Harold das gewohnte Gesicht zeigen müssen. Nun befiel sie förmlich Angst vor dem, was sie hören sollte. Und dennoch – sie mußte alles erfahren, Wort für Wort, alles! Aber nicht in diesem Augenblick, nicht heute.

In dem Bestreben, seine und auch ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken, vor allem aber auch aus wirklicher Anteilnahme fragte sie:

»Hörst du öfter von den alten Wiesenburger Leuten?«

»Ja, Tante Gisa. Der Karl schreibt mir ab und zu, und Barbknecht und Fink schreiben mir natürlich auch.«

So erfuhr Gisela, daß es Barbknecht mit jedem Jahre besser ging. Finks, mit Gottesfelde zu stark verwachsen, um sich davon trennen zu können, hatten sich noch immer nicht recht in die neuen Verhältnisse gefunden, erlebten aber viel Freude an Heinz, der auch Landwirt geworden war und jetzt in Halle studierte.

Karl war nach dem Tode seiner Frau zu seinem Sohn nach Kallenberg gezogen und hatte an diesem ewig was auszusetzen; aber seine Enkel verwöhnte er maßlos. Im letzten Jahr war er sehr zusammengerutscht, wie Fink schrieb, so daß er fast nur noch in einem Sorgenstuhl saß. Abends mußte er aber doch noch immer seinen Grog haben.

August, nun auch schon dicht an Achtzig, wohnte bei seiner Tochter in Königsberg, die dort gut verheiratet war.

Der Hauptmann, nahe den Siebzig war er, puschelte so überall ’rum, mal im Garten, mal auf dem Hof. Dann wieder mußte er Futter ’rausgeben oder sich um den Speicher kümmern, ab und zu auch bei den Leuten stehen oder das Holzabfahren beaufsichtigen.

Gisela schob Archi einen silbernen Kasten zu: »Rauchst du nicht? Hier sind Zigaretten. Oder nimmst du lieber eine Zigarre?«

»Nein, danke, Tante Gisa. Lieber ’ne Zigarette.«

Während er sich die Zigarette ansteckte, bat Gisa: »Nun mußt du mir aber von deinen Geschwistern erzählen, Archi, vor allem von Ali.«

»Ja, Tante Gisa, viel kann ich da nicht sagen. Ali sah an ihrem Hochzeitstag ein bißchen blaß aus und schien mir auch etwas mager geworden, aber mit ihrem Lo scheint sie ja glücklich zu sein. Ich versteh’ das zwar nicht recht, aber das ist ja auch nicht nötig. Weißt du, er ist immer wie auf Draht gezogen. Man hat den Eindruck, daß er selbst sich bildschön und schrecklich klug vorkommt. Ich sah Ali noch mal mit Hanna zusammen in Berlin. Na – und von Malte is ja auch nich sehr viel zu sagen. Auf der Hochzeit war er nett und lustig, das ist er ja eigentlich immer. Wie es mit seinem Lernen steht, weiß ich nicht. Bloß daß er alle drei, vier Monate auf ’ner andern Schule sein soll, hörte ich. Daß Mia in einer Pension in Dresden ist, weißt du wohl. Sie findet es nicht besonders schön dort, aber immer noch besser als in Königsberg.«

Der Diener James trat leise ein. Er war schon in Abendlivree: schwarzblauer Frack mit goldenen Knöpfen, hechtgraue Beinkleider, schwarze Binde. Er tat, als wollte er nach dem Kaminfeuer sehen, murmelte wie nebenbei: »Halb acht. Das Dinner ist um acht«, stocherte ein wenig im Feuer herum, legte noch ein paar Scheite auf und verschwand – leise, wie er gekommen war – durch die Tür zum Schlafzimmer.

Gisela stand auf. »Wir müssen uns umziehen, Archi. Schade! Es war so gemütlich.«

»Furchtbar gemütlich, Tante Gisa! Wirklich reizend war es, mit dir zusammen Tee zu trinken. Wollen wir das nicht öfter machen? Wir beide allein? Ja?«

»Natürlich, Archi. Und wenn ich nicht bei dir Tee trinke, dann trinkst du ihn bei mir. Wo es dir am liebsten ist.«

»Mit dir ist es mir überall gleich lieb. Hör mal, Tante Gisa, ich muß dir noch mal danken, dir und auch Onkel Harold. Die Zeit hier bei euch … Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich darauf freue!«

»Und ich ganz genauso!« Noch einmal sah sie ihn prüfend an. »Ich muß dich immer wieder ansehen. ’n guten Kopf größer bist du als ich. Lauter Riesen sind um mich. Harold ist nicht viel kleiner als du, und Adrian Kettelried noch ’n halben Kopf höher. Übrigens, ihr werdet euch bestimmt schnell anfreunden. Er ist klug, viel in der Welt herumgekommen und sehr belesen. Er schreibt selbst viel, für alle möglichen Zeitungen politische Artikel. Er steckt noch mitten in der Politik. Ich freu’ mich so, daß ihr hier zusammen sein werdet. Du wirst viel von ihm haben.«

Sie nickte ihm zu, ging dann, gefolgt von den drei Hunden, hinaus.

Archi stand noch immer da und sah auf die Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann schien es, als erwache er aus träumenden Gedanken. In seinen Augen waren Zuversicht und Frohsinn. Schöner als seit langem erschien ihm die Welt, das Leben leichter, versöhnlicher, die Menschen gütiger und liebenswerter.

Der Enkel der Barrings

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