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FREITAGNACHT, GLASGOW. Die Stadt der starren Blicke. Mickey Ballater stieg an der Central Station aus dem Zug und hatte das Gefühl, nicht in den Norden, sondern in die eigene Vergangenheit gereist zu sein. Als er in die Bahnhofsvorhalle trat, hielt er kurz inne, wie ein Forscher, der sich auf die der Region eigentümliche Fauna besinnt.

Und doch war hier nichts, das einem nicht auch andernorts hätte begegnen können. Vorübergehend fiel es ihm schwer, die Atmosphäre zu fassen. Im Grunde sagen alle Städte dasselbe, nur der Tonfall ist anders. An den von Glasgow musste er sich erst wieder gewöhnen.

Menschen standen in Trauben herum und schauten auf die Tafeln mit den Abfahrtszeiten. Offenbar glaubten sie, ihre Reiseziele allein durch drohende Blicke erscheinen lassen zu können. Auf den Bänken ihm gegenüber fühlten sich zwei Frauen zwischen Einkaufstüten heimisch. Nicht weit davon entfernt führte ein Säufer mit grell orangefarbenem Bart, der so lang war, dass er auch als Bettdecke hätte dienen können, eine hitzige Diskussion mit einem Guinness-Plakat.

»Von denen bekommen Sie nichts, Sir.« Ein kleiner Mann, der stehen geblieben war, um den Säufer zu beobachten, hatte das gesagt. Er war Mitte sechzig, aber sein Gesicht wirkte so schelmisch wie das eines jungen Hundes. »Hab’s letzte Woche auch über eine Stunde lang versucht.« Bevor er weiterging, warf er Mickey noch einen Blick zu. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«

In diesem Augenblick kam Mickey in Glasgow an. Keine anonyme Stadt, sondern eine der Nähe, die trotz der Weitläufigkeit ihrer Elendsviertel so geräumig erschien wie ein Bus in der Rushhour. Erneut verstand er, welche Erwartungen ihn jedes Mal bei seiner Ankunft hier überfielen. Man konnte nie wissen, woher der nächste Einbruch in die eigene Privatsphäre kam.

Er erinnerte sich auch, warum er Birmingham einfacher fand. In Glasgow wimmelte es vor enthusiastischen Amateuren und Sonntagsrowdys. Man bekam ebenso schnell vom Busschaffner eine gescheuert wie von einem stillen Mann in einer Schlange, vor allem nachts. Der Text eines Songs über Glasgow fiel ihm wieder ein:

Going to start a revolution with a powder-keg of booze,

The next or next one that I take is going to light the fuse –

Two drinks from jail, I’m two drinks from jail.

Trotzdem war es gut, wieder zu Hause zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Zumal er wusste, dass er mit sehr viel mehr Geld abreisen würde, als er mitgebracht hatte. Nur von Paddy Collins keine Spur.

Er ging zur »Royal Scot Bar« in der Bahnhofshalle und durch die Glastür. Auf den orangefarbenen Plastikschalen, die wohl das waren, was sich irgendein Designer mal unter einem Stuhl vorgestellt hatte, saßen drei oder vier Leute. Sie hatten nichts miteinander zu schaffen und wirkten dabei irgendwie abwesend, wie aus sich selbst vertrieben oder im Übergang zwischen zwei Inkarnationen. Hier herrschte die düstere Unaufgeräumtheit eines Ortes, der niemandem gehört, ein Abfalleimer verschwendeter Zeit.

Aber die Gespräche am Tresen – wo er nicht vergaß, ein Pint »Heavy« und kein »Bitter« zu verlangen – ließen vermuten, dass dies die Stammkneipe nicht weniger war. Die Barfrauen mochten die Erklärung dafür sein. Die eine war jung und hübsch und so bunt geschminkt wie ein Schmetterling. Die andere älter. Früher musste auch sie hübsch gewesen sein. Jetzt war sie besser als das. Dem Aussehen nach musste sie Mitte oder Ende dreißig sein, hatte anscheinend aber keine Zeit verschwendet. Ihre Augen suggerierten, Ali Babas Höhle könne sich dahinter verbergen, vorausgesetzt, man kannte das Passwort und kam den vierzig Dieben zuvor.

Mickey ließ sich sein Bier schmecken und dachte an Paddy. Er hätte hier sein müssen. Kein guter Anfang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es zu Komplikationen gekommen war, denn die Sache schien so riskant wie ein Überfall auf ein Baby im Kinderwagen.

Ein Mann mit Brille am Tresen war betrunken genug, um sich einzubilden, er habe einen privaten Draht zu der Barfrau mit den Augen. Auf dem Grund seines Glases hatte er magische Kräfte entdeckt, und nun starrte er sie auf eine Weise an, der keine Frau widerstehen konnte. Jedenfalls glaubte er das. »Das ist die Wahrheit«, sagte er. »Wenn ich’s dir doch sag. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.« Sie blickte stumpf an ihm vorbei und stülpte ein Pintglas über die Spülbürsten. Er hätte genauso gut geniest haben können.

»Ich sag’s dir. Die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.«

Sie schaute ihn an.

»Verrätst du mir den Namen deines Optikers? Dann schick ich meinen Mann hin.«

Mickey fand, es reichte. Er trank aus und nahm seine Reisetasche. Anschließend ging er runter zu den Toiletten und knurrte, weil er am Drehkreuz zahlen musste. Heutzutage kostet alles. In der Kabine machte er die Tasche auf, kramte darin nach dem lose verpackten Messer, dessen Klinge keinen Griff hatte, sondern nur mit schwarzem Klebeband umwickelt war. Er steckte es in die Innentasche seines Jacketts. Dann zog er die Spülung.

Als er herauskam, sah er einen Mann, der wie ein Ölarbeiter aussah und seinen heftigen Bartwuchs gerade mit einem kleinen elektrischen Rasierer bändigte. Wie Sandpapier auf Rauputz. Ballater gab seine Tasche an der Gepäckaufbewahrung ab und trat hinaus auf die Gordon Street.

Das Gewicht des Messers fühlte sich gut an, ohne dieses Argument begab er sich nicht gerne an unvertraute Orte. Aus seiner anderen Innentasche zog er einen Zettel und las die Adresse. Am besten ging er die West Nile Street rauf und dann immer weiter.

Der Abend war angenehm. Vorbei am Empire House, das ihm gut gefiel, und zwei Männern, die sich unterhielten. Der eine erzählte von den Trinkgewohnheiten seiner Frau. »Davon würden einer Natter Titten wachsen«, sagte er.

Der Eingang war schäbig. Den italienischen Namen, den er suchte, fand er im dritten Stock. Er drückte auf die Klingel. Der Elektrorasierer von vorhin hatte dagegen melodiös geklungen. Nichts passierte. Er drückte noch einmal, lange, und lauschte. Stöckelschuhe in einem teppichlosen Flur. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Die Frau wirkte unkonzentriert, als wäre sie noch nicht vollständig von dort wieder zurückgekehrt, woher sie kam.

»Kannst du später noch mal kommen?«

Tatsächlich ein italienischer Akzent.

»Nein«, sagte er und stieß die Tür auf.

»Warte.«

Aber er war schon drin. Erschrocken hatte sie die Tür zuhalten wollen, dabei war ihr rosa Morgenmantel kurz aufgegangen. Darunter trug sie nur einen schwarzen Strapsgürtel, Strümpfe und Schuhe mit Stilett-Absätzen. Wer auch immer im Schlafzimmer wartete, er stand auf Schuhe. Mickey schloss die Tür.

»Ich bin ein Freund von Paddy Collins«, sagte er. »Wenn du keine Zeit hast, nimm dir welche.«

Er ging den Flur entlang ins Wohn- und Esszimmer, das irgendwann einmal mit guten Absichten eingerichtet worden war. Hier gab es einen Korbstuhl mit roten Kissen, einen bunt gemusterten Sessel und ein dazu passendes Sofa. Außerdem einen weißen, runden Tisch mit passenden Stühlen. Es war unaufgeräumt und staubig. Auf dem Tisch standen schmutzige Tassen, eine Kante vertrocknetes Brot lag daneben.

Sie war ihm gefolgt, hatte den Gürtel ihres Morgenmantels fest zugezogen, sie wirkte beunruhigt.

»Ich kann nicht«, sagte sie und glaubte ihren eigenen Worten nicht.

»Oh doch, du kannst.«

Ein Mann erschien im Türrahmen. Er hatte sich die Hose hochgezogen und sein Bauch schwabbelte über dem Bund. Seine nackten Füsse wirkten verletzbar. In seinem Gesichtsausdruck lag die Gereiztheit eines Kunden, der guten Service gewohnt und jetzt enttäuscht worden war.

»Verdammt«, sagte er. »Was ist hier los?«

»Zieh dich an«, sagte Mickey.

»Ich hab aber bezahlt.«

»Du willst doch nicht ramponiert nach Hause. Deine Frau wird sich fragen, was passiert ist.«

»Hör zu …«

»Ich hab zugehört, jetzt reicht’s. Schwing dich aufs Fahrrad. Sofort. Es sei denn, du willst deine Fresse im Taschentuch nach Hause tragen.«

Mickey setzte sich in den Korbsessel. Der Mann verschwand im Schlafzimmer. Die Frau wollte ihm hinterher, sah aber Mickey an. Er nickte sie zu dem bunten Sessel. Sie setzte sich. Nicht schlecht für eine Nutte, dachte Mickey, allmählich wird sie fett, aber aus dem Leim ist sie noch nicht. Die Schuhe taten ihren Beinen gut, sonst wären sie zu schwer gewesen. Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Wohnzimmertischchen neben ihrem Sessel und bot es Mickey an. Er schüttelte den Kopf. Sie nahm sich Feuer und beide hörten, wie sich der Mann im Schlafzimmer anzog.

Dann tauchte er wieder im Türrahmen auf. Mit Kleidern wirkte er beeindruckender. Anscheinend hatte er mit ihnen auch Empörung angelegt.

Er sagte: »Ich denke …«

»Schön für dich«, erwiderte Mickey. »Weiter so. Jetzt verpiss dich.«

Der Mann ging. Mickey wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann sprach er.

»Du bist also Gina.«

Sie nickte nervös.

»Ich bin Mickey Ballater.«

Sie riss die Augen auf und überschlug die Beine. Der Morgenmantel rutschte und Mickey ließ den Blick auf ihrem Schenkel ruhen.

»Wo ist Paddy Collins? Er wollte sich mit mir treffen.«

Sie zuckte mit den Schultern und blickte zur Decke. Mickey stand auf, ging zu ihr, beugte sich über sie und schlug ihr fest ins Gesicht. Sie fing an zu weinen. Dann ging er zurück und setzte sich wieder. Während sie sich langsam fing, sah er sich im Raum um.

»Wo ist Paddy Collins?«

»Im Krankenhaus.«

»Wieso?«

»Wurde niedergestochen.«

»Von wem? Weißt du das?«

»Sein Schwager war gestern da. Sehr wütend. Sagt, Paddy ist verletzt. Schlimm. Glaubt, Paddy wird sterben.«

Es dauerte nicht lange, bis der Gedanke an Paddy Collins Mickeys Bedauern in Energie verwandelte, wie wenn man alte Fotos ins Feuer wirft. Starb Paddy Collins, würde mehr für ihn abfallen, sobald er Tony Veitch gefunden hatte. Aber ganz unproblematisch war das nicht.

»Sein Schwager, Cam Colvin? Bist du sicher?«

»Mr Colvin.«

»Das hat uns noch gefehlt. Woher wusste der von dir?«

»Paddy hatte meine Adresse dabei.«

»Praktisch. Was hast du ihm gesagt?«

»Dass Paddy Tony Veitch sucht.«

»Sieht aus, als hätte er ihn gefunden. Was noch?«

»Sonst nichts. Ich weiß sonst nichts.«

Mickey fand die schottische Färbung ihres italienischen Akzents sexy. Allmählich nahm er sie wahr.

»Hast du ihm von mir erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sicher?«

»Paddy hat gesagt, ich darf nichts sagen. Sonst.«

Sie machte eine halsabschneidende Geste. Beinahe hätte Mickey gelacht. Das klang auf jeden Fall nach Paddy, Frauen einschüchtern, das konnte er, und zwar immer noch genau auf dieselbe Tour wie im Drehbuch eines alten Films mit Edward G. Robinson.

»Was hat Paddy noch gesagt?«

»Wenn ich mache, was er will, wird alles gut.«

Klang überzeugend. Paddy hatte auch Mickey nicht viel erzählt. Er wusste nur, dass Veitch Hook Hawkins’ Bruder kannte. Und so wie es aussah, würde Paddy Geheimnisse künftig noch viel besser für sich behalten können.

»Wo ist Tony Veitch?«

»Niemand weiß das.«

»Komm schon. Cam Colvin war doch im Krankenhaus.«

»Er liegt im, wie sagt man? Im Com-Como?«

»Verfluchte Scheiße. Was soll das heißen?«

»Como? Komma?«

Mickey starrte sie an.

»Koma. Du meinst, Paddy liegt im Koma?«

»Kann nicht reden.«

»Aber du kennst Tony Veitch.«

»Nicht gesehen seit dem Ärger mit Paddy. Seit zwei Wochen hat ihn niemand gesehen.«

»Ach!« Ballaters Augen bohrten sich in die Decke. Er zeigte auf sie.

»Hör zu, ich bin nicht wegen der schönen Aussicht hier. Egal, was du weißt, erzähl’s mir lieber.«

»Für Tony bist du mein Mann.«

Er betrachtete sie ganz genau. Sie wirkte nicht abgebrüht, eher wie eine Amateurin, die immer noch staunte, dass sie Geld dafür bekam. Als sie Veitch geködert hatte, muss sie sich schön gewundert haben, dass Paddy ihr plötzlich auch noch einen vermeintlichen Ehemann verpasste, von dem Veitch sie freikaufen sollte. Wahrscheinlich hatte sie am Anfang gar nichts davon gewusst.

Aber viel Zeit blieb nicht. Wenn Veitch Paddy auf dem Gewissen hatte, konnte der Erwerb einer Schachtel Streichhölzer schon eine unverantwortlich langfristige Investition für ihn sein. Mickey würde schnell, aber vorsichtig handeln müssen. Er kannte sich in der Stadt gut genug aus, um zu kapieren, dass er sich nicht mehr auskannte. Zwei weitere Zeilen des Songs kamen ihm in den Sinn:

They’re nice until they think that god has gone a bit too far

And you’ve got the macho chorus swelling

Out of every bar.

Durch Minenfelder hüpft man nicht. Er brauchte einen Sprengstoffdetektor. Ihm ging auf, dass Cam Colvin dafür infrage kam.

»In welchem Krankenhaus liegt Paddy?«, wollte er wissen.

»Victoria Infirmary.«

Ein Baby fing an zu weinen. Gina drückte die Zigarette aus, achtete dabei auf ihre Nägel. Sie stand auf und er hörte ihre Schritte auf dem Boden im Flur draußen, dann die vertrauten Geräusche, mit der eine Mutter ihr Kind beruhigt, als könne sie ihm ein Geheimnis verraten, das es beschützen wird, auch wenn sich die ganze Welt gegen beide verschwört.

Er verließ den Raum und fand das Telefon im leeren Schlafzimmer, wo das Licht noch brannte und das Bett zerwühlt war. Die Stimme am Telefon im Victoria Infirmary erklärte ihm, Mr Collins’ Angehörige seien bei ihm. Er rechnete sich aus, dass er noch ein bisschen Zeit hatte.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand sie unsicher am Kamin. Als er auf sie zuging, drehte sie sich um und zuckte leicht zusammen, als habe er sie schlagen wollen. Dann öffnete er den Gürtel ihres Morgenmantels und ließ ihn zu Boden gleiten. Er zeigte Richtung Schlafzimmer. Als sie unbeholfen dorthin stakste, fiel ihm auf, dass sie zitterte.

»Wenn du schon angeblich meine Frau bist«, sagte er. »Können wir auch in die Flitterwochen fahren.«

Die Suche nach Tony Veitch

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