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Jess

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Jess nahm ihren Kaffeebecher mit auf die Veranda, um dort das Panorama genießen zu können. Doch Noble lungerte bereits draußen herum.

»Wie weit ist es noch?«, fragte sie ihn.

»Noch gut zehn Meilen, schätze ich. Unser Bergführer hat behauptet, dass es zwei Tage dauern wird. Also werden wir morgen um diese Zeit wahrscheinlich irgendwo dort oben zelten müssen.«

»Hast du ihn schon über unser genaues Ziel aufgeklärt?«

»Nicht im Detail. Nur, dass wir das Tal der träumenden Indianer besichtigen möchten.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Er hat gelacht und erwidert, dass es dieses nur im Märchen gäbe.«

»Er könnte recht haben.«

»Dem würde ich zustimmen, wenn wir nicht diesen Reisebericht und die genaue Ortsangabe darin hätten.«

»Letztere beruht aber auch eher auf Mikes Vermutungen.«

»Du kennst Mike doch. Seine Vermutungen sind immer so nah an der Wirklichkeit, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen passt. Es ist dort oben. Ich habe es im Urin.«

»Ich hoffe es, denn wenn wir ohne Ergebnisse heimkommen, wird dir Hitchins wegen der Kostenabrechnung die Eier abschneiden.«

»Es ist dort oben«, wiederholte Noble flüsternd.

***

So lautete Nobles Mantra schon seit Wochen … seit Mike mit dem Reisebericht aufgetaucht war und ihnen erklärt hatte, worum es sich dabei seiner Meinung nach handelte. Jess hatte diesen speziellen Tag noch vollkommen klar im Gedächtnis, an dem gewaltige Hoffnungen und Träume geboren worden waren und mit ihnen auch das Unternehmen, das die vier zu dieser abgeschiedenen Berghütte gelockt hatte.

»Wir haben es hier mit dem detaillierten Reisebericht einer Gruppe von Minensuchern aus dem achtzehnten Jahrhundert zu tun«, hatte Mike ihnen offenbart, als sie zusammen an einem Tisch im leeren Gemeinschaftsraum der Firma gesessen hatten. Dann hatte er ein zerfleddertes, ledergebundenes Buch in ihre Mitte gelegt. »Ich war unten im Firmenarchiv und habe Nachforschungen über Mineralienfunde in den Rockies angestellt. In der Gegend um Banff, um genau zu sein. Ich habe den Bericht dabei zwischen zwei Schachteln voller Gesteinsproben gefunden. Anscheinend hat sich schon seit Ewigkeiten niemand mehr für diese Proben und Unterlagen interessiert, so verstaubt, wie sie waren.«

»Und wieso bist du deswegen so aufgeregt?«, fragte Noble genervt. »Als wäre es eine verdammte Schatzkarte.«

»Im Prinzip stimmt das sogar. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich auf das eigentlich Wichtige gestoßen bin. Es handelt sich dabei um ein Tagebuch, vollgestopft mit langweiligen Einzelheiten, aber es gelang mir, genug Fakten daraus zu ermitteln, um eine Landkarte zeichnen zu können.«

»Schön für dich«, sagte Noble in einem sarkastischen Tonfall. »Kannst du vielleicht endlich mal auf den Punkt kommen? Ich habe nämlich gleich einen Termin beim Big Boss.«

»Ja, ja, ist schon gut«, murmelte Mike enttäuscht. »Die beschriebene Expedition ist damals gescheitert und es gab nur einen einzigen Überlebenden. Bevor dieser entkommen ist, haben sie allerdings das Gesuchte gefunden … eine leicht abbaubare Goldader in einem Höhental, nordwestlich von Jasper. Falls das wahr ist, was hier steht, werden wir schon bald sehr, sehr reich werden.«

Nobles Unerschütterlichkeit schwand plötzlich, und sie brachten die folgende Stunde nun mit Diskussionen über den Bericht und Mikes Schlussfolgerungen daraus zu. Keiner von ihnen konnte einen Fehler in dessen Ausführungen erkennen und besonders Noble wurde daraufhin von Minute zu Minute enthusiastischer.

Nach dieser schicksalhaften Zusammenkunft debattierten und stritten sie sich wochenlang über die beste Vorgehensweise und fassten schließlich einen Plan. Noble schaffte es, den Trip als Suche nach Uranerz zu tarnen, sodass sie ihn auf Firmenkosten unternehmen konnten. Sollten sie an der von Mike prophezeiten Stelle tatsächlich Gold finden, hatten sie vor, sofort einen Claim abzustecken und ihn auf ihre Namen registrieren zu lassen.

***

Sämtliche Vorstellungen von Glück und Reichtum, denen sie zu Hause nachgehangen hatten, wurden hier draußen in der Natur fast plastisch greifbar.

Als Jess ihren Becher geleert hatte, ging sie in die Hütte zurück, in der der Jüngere ihrer beiden Führer, Danny, gerade am Ofen damit beschäftigt war, zwei Dosen Eintopf in einen Topf zu kippen. Dabei strahlte er sie von einem Ohr zum anderen an.

Ich habe die ganzen Strapazen doch nicht auf mich genommen, um hier oben so einen Fraß zu essen, dachte sie und drehte sich zu Mike um, der dem älteren Bergführer gerade den Reisebericht zeigte.

»Ich habe es Noble schon gesagt und ich sage es jetzt auch Ihnen«, grummelte der breit gebaute Hüne. »Reiseberichte und irgendwelches altes Minensuchergarn, das Sie irgendwo aufgestöbert haben, gehen mir am Allerwertesten vorbei. Das ist doch bloß irgendein Märchen, eine Lagerfeuergeschichte, die jemand erfunden hat, um anderen Leuten einen Schrecken einzujagen. Das ist derselbe Blödsinn wie Bigfoot.«

Mike wedelte aufgeregt mit dem Bericht vor Gus Gesicht herum. »Das dachten wir am Anfang auch, aber das hier ist wirklich authentisch. Das Alter der Tinte und des Papiers stimmen haargenau überein. Außerdem habe ich die Sterbeurkunde des Verfassers in Banff aufgespürt. Es gibt sogar einen kleinen Ausschnitt aus einer zeitgenössischen Lokalzeitung, der über die drei Jäger berichtet hat, die den Verfasser halb tot herumirrend am Fuß der Berge aufgegabelt haben.«

»Na klar doch und vollkommen verrückt war er garantiert noch dazu. Unsere Gipfel hier haben manchmal einen merkwürdigen Einfluss auf die Menschen. Das habe ich schon mit eigenen Augen gesehen. Ich sage es Ihnen also gern noch einmal: Es gibt kein Tal der träumenden Indianer, denn ich kenne jeden Fleck hier oben in- und auswendig.«

Noble fischte Mike den Bericht aus den Händen und zog die Karte heraus, die die vier mithilfe verschiedener Bucheinträge angefertigt hatten. Er deutete auf einen bestimmten Punkt auf der Karte und fragte: »Wir sind doch jetzt hier? Richtig?«

Gus schob den Finger zwei Zentimeter nach links. Als er die Route, die Nobles Finger auf der Karte beschrieb noch einmal begutachtete, weiteten sich unwillkürlich seine Augen.

»Da müssen wir rauf«, behauptete Noble.

»Das ist viel zu steil«, widersprach ihm Gus. »Außerdem liegt Ihre Endstation deutlich oberhalb der Schneegrenze und der Weg ist selbst zu dieser Jahreszeit absolut unpassierbar. Dort oben lebt nichts, also geht dort auch niemand auf die Jagd. Ich kenne keinen, der je versucht hat, dort hinaufzukommen. Wahrscheinlich war dort noch nie irgendjemand.«

Noble grinste triumphierend. »Doch! Die besagte Expedition vor knapp hundertfünfzig Jahren. Mit unserer Ausrüstung und Ihrer Erfahrung schaffen wir diese Strecke auch.«

»Sie haben vorher nie etwas davon gesagt, dass Sie so hoch rauf wollen«, protestierte Gus. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Auftrag gar nicht erst akzeptiert. So etwas ist selbst für Leute, die oft in den Bergen sind, äußerst riskant. In dieser Höhe kann ich einfach nicht für Ihre Sicherheit garantieren.«

»Ich verrate Ihnen etwas«, erwiderte Noble. »Wenn Sie uns in das Tal bringen, haben Sie für Jahre finanziell ausgesorgt, denn wenn wir finden, was wir suchen, werden die Leute scharenweise dort hoch und runter wollen … und für diese Leute ist ein versierter Bergführer von Ihrem Format absolut unentbehrlich.«

Jess konnte die Registrierkasse, die in Gus Gehirn losratterte, fast hörten. Noble bekleidete nicht umsonst den Chefposten in der Verkaufsabteilung. Er konnte einem Trottel das letzte Hemd abschwatzen, oder auch einen Bergführer dazu überreden, ein Wagnis einzugehen, auf das er sich normalerweise nie einlassen würde.

»Was meinst du, Danny?«, fragte Gus. »Bist du bereit für ein Himmelfahrtskommando? Für dich würden vierzig Prozent rausspringen.«

Der Jüngere der beiden Bergführer lächelte. »Mehr Kohle für Bier hat doch noch niemandem geschadet.«

Geht doch, dachte Jess.

***

Nachdem sie den schwer verdaulichen Eintopf gegessen und einiges mehr an Kaffee heruntergeschüttet hatten, schien Gus immer noch über den Deal nachzugrübeln.

»Okay«, sagte er schließlich. »Wir klettern da hoch, aber dann muss ich auch wissen, wieso. Was gibt es dort so gottverdammt Wichtiges, dass ihr Städter ein so gefährliches Abenteuer in der Wildnis wagen wollt?«

Mike öffnete daraufhin den Reisebericht und las eine Passage vor, die Jess schon beinahe auswendig kannte.

An der Stelle, an der die Goldader am Eingang des Stollens zutage tritt, ist sie fast zwei Meter dick und sie scheint tiefer im Felsen noch mehr anzuschwellen. Mit dem richtigen Werkzeug und tauglicher Ausrüstung könnten wir einen Reichtum erlangen, der sogar den legendären Krösus armselig wirken lässt.

Gus dröhnendes Lachen hallte von den Wänden wider. »Und ich habe gedacht, ihr wollt Bigfoot einfangen. Hier in den Bergen gibt es mehr vergessene Minen, als ich in meinem Leben an Mahlzeiten verputzt habe.« Er tätschelte seinen Bauch. »Und das waren etliche, wie ihr sehen könnt.«

»Der Bericht ist wahr«, insistierte Noble trotzig. »Wir haben ihn zur Genüge überprüft.«

Gus lachte wieder. »Sie wiederholen sich. Vielleicht ist er das ja auch, aber der Kerl, der ihn geschrieben hat, hatte im Hirnkästchen eindeutig einige Schrauben locker. In den Bergen haben schon etliche Männer den Verstand verloren. Wer weiß denn, ob er nicht einfach irgendwelche Hirngespinste in sein Buch gekritzelt hat … irgendwelche verrückten Einbildungen.«

»Die Mine ist real«, beharrte Noble.

Die Aussicht auf Reichtum verdrängte alle anderen Gedanken in Nobles Kopf. Jess war sich hingegen durchaus im Klaren darüber, dass der Bericht auch andere Passagen enthielt, die Gus Skeptizismus untermauerten. Derart verrückt, wie diese waren, hatten sie sich in einer Endlosschleife in ihrem Gedächtnis eingenistet und weigerten sich nun von dort zu verschwinden.

Der Tiger hat letzte Nacht Franks geholt, während er gemeinsam mit Jeffries Wache geschoben hat, obwohl die beiden ein beachtliches Lagerfeuer entfacht hatten. Die Bestie scheint keinerlei Angst zu fühlen, weder vor uns noch vor den Flammen. Sie hat Franks einfach gepackt und ihn in die Finsternis der Nacht gezerrt, bevor Jeffries ihr Auftauchen überhaupt bemerkt hat. Franks laute Schreie und deren Echo von den Bergwänden raubten uns allen den Schlaf. Seine Leiden währten aber glücklicherweise nur kurz.

»Das muss ein Berglöwe gewesen sein«, hatte Noble damals behauptet. »In der Dunkelheit hat sie halt das große Nervenflattern überfallen, das ist alles.« Im Anschluss daran hatte er sich die Lektüre der merkwürdigen Inhalte der Notizen einfach gespart und sich sogar geweigert, darüber zu diskutieren.

Sobald Noble weg gewesen war, hatten Jess, Mike und Erik neugierig darin gelesen und versucht die reale Bedeutung der ihrer Meinung nach fantastischen Begebenheiten zu erfassen. Lediglich die Tatsache, dass Mike die Lage des Tals punktgenau hatte bestimmen können und die Kohärenz der vorderen Seiten des Berichts, erlaubten es Jess, ihre Zuversicht aufrechtzuerhalten. Denn die hinteren Seiten, die mit einer Mischung aus zusammenhanglosen Fragmenten mit wenigen Sätzen und selbst angefertigten Skizzen des Autors vollgeschmiert waren, boten genug Gründe, trübe Gedanken zu wälzen.

Johnson will die Höhle nicht mehr verlassen. Das Goldfieber hat ihn vollständig erfasst, aber er fürchtet auch die Schrecken, die das Tal für uns bereithält. Wir müssen ihn zurücklassen. Wir sind hier unerwünscht.

Sie haben Williamson aufgefressen. Er hat noch gelebt, als sie seine Leber herausgerissen haben. Ich konnte ihm nicht helfen. Ich bin einfach davongerannt. Gott vergib mir.

Der Tiger hat mittlerweile meine Witterung aufgenommen. Ich kann hören, wie er mir folgt. Ich habe mich mit dem Kot der Waldelefanten beschmiert, um meinen Geruch zu überdecken. Großer Gott, ist das ekelhaft.

Mir bleibt wenig anderes übrig, als zu klettern und mich zu verstecken … klettern … und … verstecken. Es ist bitterkalt und über mir kreisen unentwegt die Adler und beobachten mich. Zumindest sind mir die anderen Bestien nicht nach hier oben gefolgt. Bis jetzt zumindest … noch haben sie unten genug Fleisch zum Fressen. Gott verzeih mir, denn ich habe sie im Stich gelassen.

DAS VERGESSENE TAL

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