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Paul als Detektiv
ОглавлениеEs war wirklich ärgerlich. In der Sakristei wurde gestohlen. Aus Jacken und Mänteln wurde seit Wochen Geld entwendet. Die Messdiener beklagten den Verlust eines Teils ihres Taschengeldes. Pfarrer Schulte-Westernkotten, der nie genau im Bilde war, wie viel Geld er eigentlich in seiner Geldbörse bei sich trug, vermisste eines Tages einen druckfrischen Hundertmarkschein. An den konnte er sich allerdings genau erinnern. Er hatte ihn eigens in die Tasche gesteckt, um ihn unauffällig an Frau Baum weiterzugeben. Die hatte zwar ihre drei Kinder für das Ferienlager angemeldet, aber Pfarrer Schulte-Westernkotten wusste, dass Adolf Baum seit über einem Jahr arbeitslos war.
Genau dieser blaue Schein fehlte nun nach der Acht-Uhr-Messe. Wie bei den vorhergegangenen Diebstählen war nicht das ganze Geld aus der Börse genommen worden, sondern nur ein Teil. Eben einhundert Deutsche Mark.
„Katholisch muss er sein, der Dieb“, knurrte der Pfarrer.
Paul schaute ihn groß an. Der Pfarrer als messerscharfer Krimidenker, das war ein bisher unentdeckter Zug an dem geistlichen Herrn.
„Wieso?“, fragte er also und kam sich vor wie Dr. Watson vor Sherlock Holmes.
„Der hat noch einen Rest von Gewissen. Sonst nähme er doch alles. Der muss also katholisch sein.“
Paul schüttelte den Kopf und dachte: „Ich kann verstehen, dass er sich ärgert. Ärger fördert Vorurteile. Daher also.“
Paul hatte Erfahrung mit Vorurteilen, die aus Ärger geboren wurden. Wenn sein ältester Sohn Hermann für ein kurzes Wochenende von der Universität nach Hause kam, dann ging es Paul ähnlich wie dem Pfarrer. Der Küster ärgerte sich über die Ansichten des Herrn Studenten, und wenn Hermann das Wort „Amtskirche“ benützte, dann war Paul nur zu leicht geneigt, die „Jugend von heute“ in Bausch und Bogen zu verdonnern.
„Müssten wir nicht längst die Polizei verständigt haben?“, fragte Paul.
Pfarrer Schulte-Westernkotten wies diesen Vorschlag weit von sich. „Ich meine, das sollten wir im eigenen Hause regeln. Außerdem, was sollen die Beamten da schon unternehmen?“ Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: „Stellen Sie sich vor, Paul, die Herren von der Kripo fänden wirklich heraus, wer der Dieb ist, und es wäre dann einer unserer Messdiener.“
„Na, und?“, sagte Paul.
„Ich bitte Sie!“ Der Pfarrer schaute ihn empört an. „Das wäre ja ein Gemeindeskandal. Unser guter Ruf wäre ruiniert.“
„Na, und?“, murmelte Paul vor sich hin. Er wusste, dass Pfarrer Schulte-Westernkotten auf den guten Ruf seiner Gemeinde äußerst bedacht war. Schon manche krumme Sache hatte er, wie er sagte, bereits im eigenen Haus geradegebogen oder auch ganz einfach unter den Teppich gekehrt.
Zu Hause grollte Paul: „Der gute Ruf, der gute Ruf! Dabei ist das mit den hundert Mark ein starkes Stück.“
Am nächsten Morgen war der Pfarrer, der sonst meist im letzten Augenblick vor der Messe in die Sakristei stürmte, schon zeitig gekommen.
Er winkte Paul in die Ecke, weit weg von den Ohren der Messdiener, und flüsterte: „Ich habe gestern die hässliche Angelegenheit der Diebstähle mit meiner Haushälterin, Fräulein Siebenbaum, besprochen. Sie hat eine gewisse Weltklugheit, wissen Sie.“
Paul musste das anerkennen. Fräulein Siebenbaum war es zu verdanken, dass Pfarrer Schulte-Westernkotten in finanziellen Dingen nicht den Boden unter den Füßen verlor und vorzeitig in himmlische Gefilde entschwebte. „Was schlägt sie vor?“, fragte Paul.
„Fräulein Siebenbaum hat in ihrer Verwandtschaft einen Polizeikommissar. Den will sie ganz unverbindlich um Rat fragen. Sie meint, sie habe gehört, dass die Polizei in solchen Fällen ein Pulver verwendet. Kommt der Dieb mit dem Pulver in Berührung, dann färben sich seine Finger kräftig rot, und das lässt sich acht Tage lang nicht mehr abwaschen.“
„Aha“, sagte Paul interessiert. „Wir stäuben dann den Inhalt einer Geldbörse mit dem Pulver ein, und es wird sich bald herausstellen, wer der Rabe in unserem Nest ist.“
„Gut ausgedrückt“, lobte der Pfarrer. Ein Lob kam sonst selten über seine Lippen. Seine Stimmung war gut und voll Hoffnung auf kriminalistischen Lorbeer. Auch Gret fand den Plan nicht schlecht und sagte: „Das ist gar keine schlechte Strafe, wenn der Dieb immer wieder gefragt wird, woher er die roten Finger hat.“
Am Morgen fuhr Fräulein Siebenbaum in ihr Heimatstädtchen und redete mit ihrem Kommissar. Als sie am Mittwoch wieder in der Gemeinde angekommen war, trug sie in ihrer Handtasche, säuberlich in weißes Papier eingeschlagen, das besagte Pulver.
Der Pfarrer bat Paul ins Pfarrbüro. „Wie früher die Apotheker ihre Pülverchen eingepackt haben“, sagte Paul, als Pfarrer Schulte-Westernkotten das winzige Päckchen vorsichtig entfaltete. Knapp ein halber Teelöffel eines weißlich-grauen Staubes lag vor ihnen. „Mit einem weichen Wasserfarbenpinsel sollten Sie die Scheine einpudern, hat der Kommissar gesagt“, erklärte Fräulein Siebenbaum, zog sich aber dann wieder in die Küche zurück.
Paul versprach, eine ausgediente Geldbörse und den weichen Pinsel zu beschaffen. Der Pfarrer schlug vor, zwei Zehnmarkscheine, ein Fünfmarkstück und einige kleine Münzen in die Geldbörse zu legen und diese in einem Anorak am Kleiderhaken in der Sakristei zu deponieren.
„Nur Ihre Frau, meine Haushälterin und wir beide wissen von dieser Aktion“, sagte er mit Verschwörermiene. „Bald werden wir diese unangenehme Sache im eigenen Haus geregelt haben.“
Sie vereinbarten, dass sie am Samstag nach der Abendmesse die Diebesfalle aufstellen wollten. „Ab acht Uhr läuft dann der Krimi im Fernsehen, und bei uns geht es genauso“, lachte er.
Ohne Schwierigkeiten kramte Paul aus dem Keller eine geeignete Geldbörse und einen Wasserfarbenpinsel hervor.
„Manchmal ist dein Aufbewahrtick doch zu etwas nütze“, gab Gret zu.
„Wer weiß, wozu das nochmal gut ist“, war ein von Paul oft gebrauchtes Wort. Für Gret war es eine Quelle häufigen Ärgers, dass ihr Mann sich nur schlecht von „all dem alten Kram“, wie sie sagte, trennen konnte. Nach einem heftigen Streit hatten sie sich dann darauf geeinigt, dass Paul einen Kellerraum für die Gegenstände seiner Sammelleidenschaft zugesprochen bekam. Gret hatte diesen Keller seitdem nie mehr betreten. Ihr Ordnungssinn hätte sich empört, wenn sie gesehen hätte, was sich dort in Regalen, die bis an die Decke reichten, alles stapelte. Paul gab selbst insgeheim zu, dass er nur höchst selten auf das Klamottenmagazin zurückgriff; einerseits wurde nur in wenigen Fällen irgend etwas von den alten Besenstielen, den Schrauben, Zeitschriften, Flaschen, Gläsern, Blechschachteln, Zigarrenkisten, Staubsaugerteilen, Fassungen für elektrische Lampen und Brillengestellen gebraucht; andererseits förderte im Bedarfsfall selbst langes Suchen nach dem Motto „Das muss hier irgendwo liegen“ den gewünschten Gegenstand meist nicht ans Tageslicht, und Paul gab nach verbissenem Herumkramen endlich wütend auf.
Aber, wie schon gesagt, Geldbörse und Wasserfarbpinsel waren am Samstagabend zur Stelle. Zu viert saß die Sonderkommission „Sakristeiverbrechen“ um Pfarrer Schulte-Westernkottens Schreibtisch. Fräulein Siebenbaum und Gret beschränkten sich auf gute Ratschläge, die sich unter „Vorsicht mit dem Zeug“ einordnen ließen. Der Pfarrer bestäubte behutsam und gründlich die Scheine und Münzen, und Paul legte sie mit spitzen Fingern in die Börse. Während der Pfarrer schließlich den Rest des Pulvers sorgsam in das Papierchen einschlug, drückte Paul befriedigt den Verschluss der Börse zu. „Da liegt der Köder“, sagte er. „Hoffentlich beißt der Räuber an.“
Am späten Abend noch steckte Paul die Börse in die Tasche des Anoraks und hängte diesen, gut sichtbar, an den Kleiderhaken in der Sakristei.
Noch etwas später versuchte er die strahlend roten Flecken von den fünf Fingerspitzen seiner rechten Hand mit Seife und Nagelbürste abzuschrubben. Vergebens. Sein heftiges Bemühen schien die Leuchtkraft der Farbe noch zu erhöhen.
„Macht nichts“, tröstete ihn Gret. „Der Pfarrer wird dich gewiss nicht für den Täter halten.“
Der Pfarrer bemerkte an eben diesem späten Abend an seinem eigenen Unterarm pfenniggroße, sehr rote Flecken, und er war sicher, dass es sich diesmal nicht um eine gelegentlich auftretende Allergie handelte, sondern um einen chemischen Umwandlungsprozess winziger, grau-weißer Stäube.
Am selben späten Abend jammerte Fräulein Siebenbaum über das verdorbene weiße Oberhemd des Pfarrers, das sie im Wäschekorb entdeckte und das ein unregelmäßiges Sprenkelmuster roter Punkte auf den Manschetten zeigte. Weltklug, wie sie nun einmal war, entschloss sie sich, bei Gelegenheit die Ärmel so weit abzuschneiden, dass ein kurzärmeliges Sommerhemd daraus wurde.
Wie die Mitglieder eines Geheimbundes blinzelten sich der Pfarrer und der Küster am Sonntagmorgen in der Sakristei zu. Ihre Blicke schweiften immer wieder mit Wohlgefallen über den Anorak am Kleiderhaken. Nach der Frühmesse warteten sie, bis sie allein in der Sakristei zurückblieben. Paul griff nach der Börse. Er öffnete sie, und Pfarrer Schulte-Westernkotten fuhr leicht mit der Fingerspitze über die Scheine. Pauls Warnruf kam zu spät. Er deutete auf des Pfarrers Finger. Noch war nichts von einer Rotfärbung zu erkennen. „Das ganze Geld ist noch drin“, sagte der Pfarrer enttäuscht. Und so war es auch nach den anderen Sonntagsmessen. Im Laufe des Vormittags färbten sich auch die Finger des Pfarrers scharlachrot. Bei der Predigt hielt er die Hände fest auf das Pult gepresst, und die Gläubigen wunderten sich, weil er sonst stets mit weit ausladenden Gesten seinen Worten größeres Gewicht zu verleihen suchte.
Jedenfalls wurde noch vor dem Mittagessen ein weiteres Oberhemd zum kurzärmeligen Sommerhemd degradiert.
Es war wie verhext. Fräulein Siebenbaum hatte des Pfarrers Schreibtisch mit einem feuchten Tuch abgewischt. Als ihre jungfräulichen Hände ebenfalls deutliche Spuren des sich anbahnenden Martyriums zeigten, warf sie erbost die Reste des Pulvers in die Mülltonne. Das war am Montag.
Der Dieb blieb abstinent.
Am Dienstag wunderten sich die Arbeitskollegen über Pauls rote Hände. Er murmelte etwas von einer gewissen Medizin.
Der Dieb hielt sich auch am Dienstag bedeckt. Am Donnerstag rief Fräulein Siebenbaum verzweifelt den Kommissar in seiner Dienststelle an. Der jedoch hatte wenig Trost für sie bereit. Er gab freundlich Bescheid, dass das Pulver todsicher wirkte und durch nichts, aber auch gar nichts aus Haut und Hand zu löschen sei, außer durch die Zeit. Nach einer Woche etwa würden die verräterischen Male auf der Haut verblassen und allmählich völlig ausbleichen …
Da hatte Fräulein Siebenbaum den Hörer enttäuscht aufgelegt. Dem Kommissar blieb keine Gelegenheit, daran zu erinnern, dass er nachdrücklich darauf hingewiesen habe, dass man mit der Chemikalie vorsichtig umgehen müsse.
Sicher, am Freitag hatten die Hobbykriminalisten ein Verfahren entwickelt, das sie vor den Wirkungen des Staubes sicher sein ließ. Paul hatte aus seinem Keller eine große Pinzette geholt, mit der sich die Geldbörse ohne Übertragung weiteren Farbstoffes öffnen ließ. Aber alle listigen Pläne führten nicht zum Erfolg. Die fünfundzwanzig Mark fünfunddreißig blieben unberührt. Auch wurden keine weiteren Diebstähle mehr gemeldet. Zwölf Tage war der Köder in Griffnähe. Aber kein Langfinger wurde gekrümmt.
Als die Pastoralassistentin fragte, wem eigentlich der Anorak gehöre, der schon über eine Woche am Kleiderhaken hing, und sie verstünde die Eltern nicht, denen es nicht auffiele, wenn ihr Junge einen Anorak vergessen habe, und überhaupt, diese Wegwerfgesellschaft …, da nahm Paul den alten Anorak vom Haken, entstaubte mit Gummihandschuhen an den Händen die Scheine und Münzen, warf den Anorak fort und die Geldbörse hinterher, schweren Herzens, und seufzte: „Wer weiß, wozu man das alles noch gebrauchen könnte.“ Es blieb ein Rätsel, warum der Dieb seine Gewohnheiten geändert hatte. Paul nahm an, er hätte vielleicht doch aus den Mienen und Blicken der Eingeweihten herausgelesen, dass irgend etwas im Busch sei. Der Pfarrer vermutete, dass Gret oder Fräulein Siebenbaum vielleicht ein Wort zuviel entschlüpft war. Gret hatte den Verdacht, die roten Hände der Männer hätten ihm einen Hinweis gegeben, dass „nichts mehr geht“.
Fräulein Siebenbaum glaubte, dass plötzliche Bekehrungen nicht nur beim heiligen Paulus oder beim heiligen Norbert möglich gewesen seien, sondern mitten in unserer Welt immer wieder Menschen von der bequemen Straße des Lasters auf den schmalen Pfad der Tugend zurückfänden.
Alle jedenfalls hatten die Überzeugung gewonnen, dass Detektiv ein gar nicht so leichter Beruf ist und das Sprichwort „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ zumindest hier eine gewisse Berechtigung hatte.