Читать книгу Schutzengel im Nahflug - Winfried Paarmann - Страница 6

Der unbekannte Informant

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Die Trauergäste umstanden das offene Grab auf dem Kölner Friedhof. Hendrik hielt die Hand seiner Schwester Sigrid, die sich Stunden zuvor noch so abgeklärt und gelassen gezeigt hatte, nun aber zitterte. Eine grazile Person mit feinen, schon etwas herben Gesichtszügen. Sie war immer seine große Schwester gewesen, zehn Jahre älter als er, nun spürte er zum ersten Mal, dass sie Halt brauchte.

Der Kreis der sonst Versammelten war Hendrik weitgehend fremd, bis auf Rudmar, Sigrids Schwager, der richtiger ihr Halbschwager zu nennen gewesen wäre, denn er war der Halbbruder ihres Mannes gewesen. Sein Vater war ein Südländer und er selbst hätte seinem Aussehen nach einer sein können – mit dem tiefschwarzen Haar, die ein Gel zusätzlich zum Glänzen brachte, und den von Bartstoppeln dunklen Wangen, die auch keine gründliche Glattrasur in ein Weiß verwandeln konnte.

Die Halbbrüder, so wusste Hendrik von Sigrid, hatten häufig Streit, um dann wieder alkoholgeschwängerte lautstarke Versöhnungsfeste zu feiern. Hendrik beschränkte sich auf einen kurzen Handschlag zur Begrüßung, der Mann war ihm vom ersten Moment an nicht sonderlich sympathisch gewesen.

Der Sarg war hinabgelassen und zugeschüttet, die Trauergäste bestiegen ihre Autos und man versammelte sich zum Leichenschmaus. Sigrid hatte in der acht Zimmer großen Villa, die sie nun allein bewohnte, ein großes Büffet aufgebaut, die etwa zwanzig Gäste zogen im Gänsemarsch daran vorbei, und mit jedem Teller, der sich füllte, wuchs der Lärmpegel von fröhlichen Zurufen und verhaltenem, dann auch lautem heiterem Gelächter. Die Stimmung war gut.

Sigrid winkte Hendrik plötzlich von seinem Teller fort und in einen Nebenraum. Sie hatte einen Zettel in der Seitentasche ihres schwarzen Kostüms gefunden, jemand musste ihn ihr während des Begräbnisses zugesteckt haben.

Hendrik las die handgeschriebenen Sätze: „Es läuft ein übles Spiel gegen Dich. Behalte eiserne Nerven! Es gibt ein gefälschtes Dokument und wahrscheinlich ist ein zweites gestohlen. Lass Dich nicht einschüchtern! Es ist alles Betrug.“

Hendrik las die Sätze, noch ungläubig, ein zweites Mal. „Von wem soll das sein?“

Sigrid zuckte die Schultern. „Es befand sich einfach in meiner Tasche.

Habe auch keine Ahnung, worum es sich handeln könnte.“

„Hat Gunnar ein Testament hinterlassen?“

„Nicht dass ich wüsste.

Wer schreibt mit Anfang vierzig sein Testament?

Er war gesund und vital. –

Hör zu, Hendrik, ich werde heute, wenn die Gäste gegangen sind, die Schreibtischfächer von Gunnar durchsehen. Sie waren immer unverschlossen. Er hatte keine Geheimnisse vor mir. So glaube ich jedenfalls.

Ich rufe dich an, wenn ich etwas gefunden habe, das mir merkwürdig erscheint.“

Hendrik reichte ihr den Zettel zurück. „Das klingt nicht nach einem Scherz. Jemand will dich warnen.

Eine Beerdigung ist eigentlich nicht der Tag, an dem man solche Nachrichten weiter gibt…

Wirklich kannst du dir niemanden vorstellen, der so etwas schreibt?“

„Niemanden.“

„Ansonsten will ich Dir sagen, Sigrid: Du machst es grandios. Die Begräbnisfeuer, jetzt die Gäste, die ganze Organisation - es läuft alles perfekt.“

„Du vermisst die trauernde Witwe?“

„Nein – so wollte ich das nicht sagen.“

„Freilich, Hendrik, war es ein Schock, Gunnar tot in der Garage zu finden.

Doch dass ich seit diesem Moment in tiefer Trauer gebeugt gehe – das hätte selbst Gunnar nicht erwartet von mir.

So wenig ich es umgekehrt von ihm erwartet hätte.

Die letzten Jahre lebten wir einfach wie verträgliche Nachbarn zusammen. Manchmal mit Interesse für einander, häufiger ohne jedes Interesse.

‚Schmetterlinge im Bauch’ – das hatte es selbst am Anfang nie gegeben…“

Hendrik hatte sich über die Ehe seiner Schwester nie Illusionen gemacht. Das allerdings war nun doch ein unerwartet offener und trauriger Bericht.

Aus dem Raum der versammelten Trauergäste kam zunehmend munteres Plaudern und heiteres Lachen. Sigrid wollte sich wieder kümmern. Und Hendrik kehrte an seinen Teller zurück.

Schon fast gegen Mitternacht rief Sigrid ihren Bruder an.

Sie war fündig geworden.

Es betraf ihren Schwager Rudmar.

In einer Mappe mit Gunnars Unterlagen befand sich tatsächlich ein Testament. Es war mit einem Datum versehen, das knapp über ein Jahr zurücklag, es trug Gunnars und Rudmars Unterschrift, und es war von einem Notar beglaubigt. In diesem Testament wurde verfügt, dass im Todesfall von Gunnar die Hälfte seines Erbes Rudmar zufallen solle.

Im Weiteren lag ein Brief von Gunnar dabei, der diese Entscheidung begründete: Rudmar hatte vor Jahren einen Prozess erfolgreich zu Ende geführt, der die Halbbrüder vor einem Konkurs rettete, als für ein gemeinsames Projekt das plötzliche Aus drohte.

Sigrid konnte sich dunkel an den Plan einer gemeinsamen Firmengründung erinnern, die allerdings ihres Wissens nie wirklich zustande kam.

Woran sie sich nun allerdings gut erinnerte, war, dass Rudmar von ihrem Mann vor drei Jahren einen Kredit in der Höhe von einer Viertelmillion erhalten hatte, zu äußerst günstigen Zinsbedingungen. Seit Monaten waren die Rückzahlungsraten fällig. Dazu existierte, da war Sigrid sicher, gleichfalls ein Dokument, doch sie konnte es in Gunnars Unterlagen nirgends finden.

Sie hatte sich um die meist gut laufenden Geschäfte ihres Mannes in der Regel wenig gekümmert. Doch hin und wieder erwähnte er manches davon.

An den Kredit an Rudmar konnte sie sich ohne jeden Zweifel erinnern. Und auf den Kontoauszügen ihres Mannes erschienen nirgends Rücküberweisungen seines Halbbruders.

Hendrik horchte auf, immer aufmerksamer mit jedem weiteren Satz. „Könnte es sein, dass während deiner Abwesenheit jemand in Gunnars Zimmer war und sich dort über seine Unterlagen hergemacht hat? Du sagst, er hielt sie üblicher Weise nicht verschlossen.

Der Zettel, den man Dir zusteckte, spricht von einer Fälschung. Dann einem zweiten Dokument, das wahrscheinlich entwendet wurde…

Das alles passt. Es passt alarmierend genau.

Sigrid – ich fange jetzt auch an, über Gunnars Tod nachzudenken, der ein Unfall gewesen sein soll…“

„Hendrik – jetzt gehst du zu weit!

Rudmar ist ein Schlitzohr. Doch dass er etwas wie eine solche Tat verübt, am eigenen Bruder…

Noch vor sechs Jahren haben wir zu dritt eine Italienreise gemacht. Wie gesagt: Ein Schlitzohr ist er schon. Doch sonst… Er isst gern und reichlich, er trinkt, er raucht. Er hat seine Polteranfälle. Doch ein Mörder?

Nein, Hendrik, so etwas erkenne ich, wenn in der Seele eines Menschen ein Mörder steckt.“

„Das Büro des Notars, in dem das Testament beglaubigt wurde, ist mit der vollen Adresse genannt?“

„Ein Notariat in Frankfurt. Adresse, Telefonnummer, ja.“

„Sigrid, ich komme morgen früh noch einmal vorbei. Ich will das Testament sehen. Vor einem Jahr unterschrieben, sagst du? Ein Datum lässt sich beliebig einsetzen.

Ich werde den Anwalt aufsuchen und ihn mir vornehmen – bis er die Wahrheit ausspuckt über dieses Dokument. Etwas ist faul daran. Ich spüre es. Was sollte sonst dieser Zettel mit der Warnung an Dich?“

„Langsam, Hendrik, langsam. Ich fände es korrekt, erst mit Rudmar zu sprechen. Mein Mann und Rudmar – manchmal schlugen sie sich, manchmal waren sie dicke Kumpel. Das Testament muss keine Fälschung sein.

Freilich, dass auch die Unterlagen über jenen Kredit verschwunden sind…

Irgendwie macht es mir schon Gedanken.“

„Sigrid, lass Rudmar noch aus dem Spiel.

Der meldet sich früh genug mit dem Testament.

Ich bin morgen da.

Ich habe noch eine ganze Woche für mich – da ich nun nicht Urlaub in Indien mache.

Ich habe Zeit, viel Zeit.

Nach Frankfurt zum Anwaltsbüro – das ist doch ein Katzensprung.

Versuch gut zu schlafen!

Und morgen gibt’s erstmal ein gemeinsames Frühstück - mit allen Resten vom kalten Büffet.“

„Da würdest du dir den Magen verderben.“

„Immerhin sind wir zu zweit.

Und ein Kummerfasten – das ist bei dir nicht angesagt, wenn ich es richtig verstanden habe.

Ganz sicher hast du keinen Schimmer, wer dir diesen Zettel zugesteckt haben könnte?“

„Nein, keine Ahnung.“

Schutzengel im Nahflug

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