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Der Blitz der Verzauberung

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Es folgte eine weitere unangenehme Überraschung.

Hendrik hatte bereits, als er das Auto in Schräglage halb auf dem Gehweg parkte, das ungute Gefühl, dass ihm der rechte Vorderreifen die zügige steile Auffahrt auf die scharfe Bordsteinkante verübelt hatte. Jetzt war es offensichtlich: Der rechte Vorderreifen begann zu schlappern, er konnte das Auto über die nächsten Straßenzüge hin noch gut dirigieren, doch es war absehbar, dass dem Reifen bald vollständig die Luft ausging.

Noch etwa vier Kilometer, dann stoppte er vor einem Eckrestaurant nahe am Main, das sich zugleich als eine kleine Pension erwies.

Er besah den Schaden. Ein Reifenwechsel fällig. Ersatzreifen und Wagenheber - beides befand sich an seinem üblichen Platz. Doch, wie er auch den Kofferraum durchwühlte, der Kreuzschlüssel fehlte. Er erledigte eine solche Montage üblicher Weise in gut zwanzig Minuten. Ohne Kreuzschlüssel war es unmöglich. Gut, jetzt wollte er erst einmal ein richtiges Mittagsessen.

Die vorangegangene Nacht nach der Beerdigungsfeier war kurz gewesen, nach der reichlichen guten Mahlzeit im Eckrestaurant fühlte er plötzlich eine bleierne Müdigkeit, und er bat um ein Zimmer.

Es war bereits kurz vor sechs, als er wieder erwachte. Er sah die Jacke mit dem aufgerissenen Ärmel über die Stuhllehne hängen, und nur ein Weg konnte jetzt sinnvoll sein: der in ein Warenhaus – einmal zum Kauf einer neuen Jacke, zweitens zum Kauf eines neuen Kreuzschlüssels.

Sein dann folgender Weg würde wieder zu Rudmar führen.

Er wählte die Nummer. Niemand meldete sich.

Gut, dann sollte Sigrid jetzt endlich die Erfolgsmeldung hören.

„Hallo Sigrid!

Sigrid – wir haben den Kerl.

Nein: beide Kerle.

Hör dir das einmal an!“

Er spielte ihr vom Handy die Sequenz mit den Sätzen des Anwalts vor.

„Alles auch als Film, mit scharf gestochenen Bildern,“ ergänzte er. „Nun – du sagst nichts?“

„Wirklich – es verschlägt mir ein bisschen die Sprache.“ Man hörte sie schlucken.

„Sag nicht, dass du selbst keinen Verdacht hattest!

Ich hatte ihn gleich vom ersten Moment.“

„Ach Hendrik! Und was willst du jetzt tun?“

„Deinem Ganovenhalbschwager selbst das kleine Interview vorspielen.

Er wird auch das Dokument mit der Kreditsumme und den vereinbarten Raten rausrücken.“

„Du meinst, das wird er?“

„Wird er! Heute noch. Spätestens morgen.“

„Hendrik, sei vorsichtig!“

„Bin ich. Es geht um zweihundertfünfzigtausend.

Das jagt man nicht durch den Schornstein.

Diese Ganovenkröte zahlt es zurück, Cent für Cent.“

„Hendrik! Es ist mein Schwager.“

„Dich stört die ‚Ganovenkröte’? Ich finde, es ist noch geschmeichelt.“

„Hendrik. Ich sage nur noch einmal: Du sollst vorsichtig sein.“

„Bin ich.“

Er schaltete das Handy aus.

Seine Kleidung müffelte, wie Hendrik merkte. Er musste sich duschen. Als er endlich gekämmt auf die Straße trat, war es kurz nach sechs. Zu spät für ein Warenhaus.

Er schlenderte auf die nahe Mainbrücke zu.

Er sah auf die grünen Wellen, er warf ihnen ein weißes Stück Spucke zu und sah die winzige weiße Insel mit den Wellen davon treiben.

Ein lauer Augustabend. Er konnte nichts damit tun, als ihn zu genießen, zu schlendern, in die roten, an den Rändern wie brennenden Abendwolken über den Dächern zu gucken und nichts zu tun. Wenn er den Arm gegen die Hüfte presste, ließ sich die aufgerissene Stelle am Jackenärmel halbwegs verstrecken.

Er kam an ein lauschiges, von Hecken eingezäuntes indisches Gartenrestaurant. Nur ein Gast, eine junge Frau mit hellem Haar, saß an einem der hinteren Tische. Er überflog mit dem Blick die an der Gartentür ausgehängten Speisekarten. Ein reiches Angebot indischer Speisen, Namen, die ihm so fremd waren wie ein Text aus der Bhagavadgita.

Das reizte ihn jetzt. Er hatte mittags ein üppiges deutsches Hackfleischessen mit einem Berg Kartoffeln und Sauerkraut zu sich genommen. Etwas Exotisches erschien ihm als die willkommene Abwechslung.

Er suchte sich einen Tisch. Die Frau mit dem hellen Haar blickte jetzt ein erstes Mal zu ihm herüber.

Hendrik saß von einer Sekunde zur andern erstarrt.

Der Blick der Frau streifte ihn erneut, jetzt mit einem Lächeln, und Hendrik lächelte unwillkürlich zurück.

Jemand wie er hatte es nicht so sehr mit den romantischen Wörtern, und für Poesie brauchte es bei ihm eine besondere Stunde und Stimmung. Doch in seinem Kopf flüsterte eine Stimme. Sie murmelte Dinge, die sein Mund niemals ausgesprochen hätte.

Es waren Wörter, die alle um ein einziges kreisten: Verzauberung.

Er hatte etwas Ähnliches nie gespürt. Ein Blitz war auf ihn übergesprungen, ein Blitz, der ihn in eine Flamme heller verzehrender Aufregung hüllte.

Er wechselte einen Tisch näher an ihren.

Sie senkte den Kopf, versank in ihr sanftes Lächeln, dann blickte sie wieder auf – direkt zu seinem Tisch, dieses Aufblicken war wie ein Nicken, und wieder zündeten ihre Augen dies Lächeln an: sanft, mit samtenem Glanz, ganz offen, ganz souverän, ganz natürlich und frei.

Hendrik wechselte erneut einen Tisch näher an ihren.

Sie blickte auf, er erkannte erneut ein Nicken darin, er wechselte an den Tisch genau neben ihrem.

„Hallo!“ Er schwenkte die Hand, behutsam, als taste er die Luft dabei ab. Er merkte, dass auch er seit einer halben Minute immer nur lächelte.

Er hob die Speisekarte. „Kennen Sie sich aus mit indischem Essen?“

Sie nickte, lächelnd. Sie sagte: „Gewiss.“

Diese schlanke Gestalt mit dem Zauberlächeln, den Zauberaugen sagte das Wort „gewiss“, und die weiche Stimme klang kompetent. Sie senkte ihr Zaubergesicht mit der leicht gewellten Nase, den Zauberwangen, den Zauberlippen über die eigene Speisekarte und zeigte auf ein Gericht. „Wenn Sie das erste Mal indisch essen, empfehle ich das milde Korma. Suchen Sie Seite drei.“

„Seite drei,“ echote Hendrik.

„Die Zutaten sind Korianderpulver und Zimtpulver und Kreuzkümmel.“

„Zimtpulver und Kreuzkümmel,“ echote Hendrik.

„Sonst Kokosmilch und natürlicher Joghurt.“

„Kokosmilch und natürlicher Joghurt,“ sagte Hendrik.

„Natürlich viel Curry. Kein Fleisch allerdings.“

„Kein Fleisch,“ sagte Hendrik.

Er bemerkte jetzt wieder den aufgerissenen Ärmel. Auch die junge Frau hatte ihn inzwischen gesehen.

„Mein Ärmel ist aufgerissen,“ sagte Hendrik.

Es versetzte ihn in Verlegenheit, er zog ihn mit der Hand des anderen Arms wie mit einer Klammer zusammen. „Da war ein Zaun – und plötzlich tauchte dieser Bullterrier auf. Er war nicht einmal groß. Ich hatte eine Heckenschere. Ich hätte ihn mit dieser Schere leicht in die Flucht schlagen können. Doch ich wollte über den Zaun zurück. Der Sprung war etwas zu flach angesetzt, etwas überhastet - da ist es passiert…“

Er blickte wieder auf die Speisekarte. „Also, das milde Korma empfehlen Sie mir.

Was ist ein Aloo Gobi? Verbessern Sie mich, wenn meine Aussprache nicht richtig ist.“

„Aloo Gobi?“ sagte die junge Frau, die Aussprache hatte keinen Unterschied. „Es besteht vor allem aus Kartoffeln und Blumenkohl. Sonst Chilischoten, Ingwer und Kurkuma.“

„Chilischoten, Ingwer und Kurkuma,“ sagte Hendrik.

„Sehr würzig, etwas scharf.“

„Sehr würzig, etwas scharf,“ sagte Hendrik.

„Was ist Kurkuma?“

„Ein indisches Gewürz.“

„Ein indisches Gewürz,“ sagte Hendrik. „Ich hatte irgendwie die Vermutung.“

Er wechselte jetzt ganz an ihren Tisch, hielt den aufgerissenen Ärmel umklammert. „Also, ein indisches Gewürz. Genau wie ich dachte.“

Er lächelte sie an.

Sie hatte ein kleines Muttermal gleich neben dem linken Ohr, wie er jetzt entdeckte.

„Ich heiße Hendrik.“ Er rückte nochmals wenige Zentimeter näher.

Sie lächelte, nickte.

„Ich bin das erste Mal hier in diesem Restaurant,“ sagte Hendrik. „Eigentlich war ich unterwegs, um einen Kreuzschlüssel zu besorgen. Sie verstehen? Man braucht ihn, um die Schrauben an einem Reifen zu wechseln. Durch die beiden Kreuzarme hat man eine starke Hebelwirkung damit.

Plötzlich stand ich vor diesem Gartenrestaurant.

Ja.“ Er rieb sich über das Kinn. „Also, ich heiße Hendrik.

Wollen wir nicht einfach ‚du’ zueinander sagen?“

Sie nickte, lächelte.

Er wartete.

Unverändert lag dieses Lächeln um ihr Gesicht, ausgebreitet noch darüber hinaus, ein eigener Glanz, von dem die Luft des warmen Augustabends heimlich zu funkeln schien.

„Es ist hübsch – dieses kleine indische Restaurant,“ sagte Hendrik.

Noch vor ein paar Tagen bin ich in Indien gewesen. Eine Geschäftsreise. Ein Geschäftsfreund wollte mich anschließend eine Woche lang bei seiner Familie einquartieren, jeden Tag Urlaub, jeden Tag indisches Essen.

Dann kam es anders. Ich musste zurück.

Ja. Und nun sitze ich hier. In einem indischen Restaurant.

Darf ich dich etwas fragen?“

Der Kellner näherte sich von der Restauranttür. Ein schlanker junger Inder mit etwas hohlen Wangen doch durchgebogenem Rückgrat und kerzengeradem Gang.

„Mildes Korma,“ sagte die junge Frau.

„Mildes Korma,“ sagte Hendrik.

Der Kellner notierte es.

„Zum Nachtisch Rasgulla, mit viel Zitrone.“

„Zum Nachtisch Rasgulla,“ sagte Hendrik.

„Etwas zu trinken?“ fragte der Kellner.

„Mangosaft,“ sagte die junge Frau.

„Mangosaft,“ sagte Hendrik.

Der Kellner entfernte sich.

„Ob auch ich Indien kenne – das wolltest du fragen?“ sagte die junge Frau.

„Genau. Eben das wollte ich fragen.

Woher wusstest du das?“

„Ich las es in deinem Kopf.

Doch es war nicht schwierig. Du wolltest nur eine Antwort darauf, warum ich mich so gut auskenne mit indischen Speisen.“

„Das war es, ja.

Es verblüffte mich.

Ich hatte drei Geschäftsessen. Doch meinst du, es hätte mir jemand gesagt, was wir da essen?

Einmal vertat ich mich mit den Gewürzen. Mein Rachen brannte, dass ich minutenlang hustete.

Ich wollte mir das Gewürz merken, um es für mich auf eine schwarze Liste zu setzen. Doch ich hab keinen Schimmer mehr, was es war.

Du warnst mich – wenn etwas sehr Scharfes, Gefährliches kommt?“

Die junge Frau lächelte, nickte.

„Ich habe vergessen, dich nach deinem Namen zu fragen,“ sagte Hendrik. „Du sagst mir deinen?“

„Gern,“ sagte die junge Frau. „Doch eigentlich ist es ganz leicht. Du musst ihn nur lesen.

Er ist schon in deinem Kopf.“

„In meinem Kopf?“

„Ich habe ihn dir schon vor Minuten geschickt.

Ich schicke ihn dir ein zweites Mal.“

„Du meinst, weil auch du es konntest – eine Frage in meinem Kopf lesen?“

„Du kannst es ebenfalls.

Ich weiß es.“

Sie meinte es ernst.

„Namen sind etwas anderes.“ Hendrik schüttelte den Kopf. „Es können Tausende sein.“

„Doch nur wenige gibt es, die passen.

Versuch es einfach!

Du wirst erstaunt sein über dich selbst.“

Hendrik schüttelte noch immer den Kopf.

„Du hast einen Stift?“ fragte sie.

„Einen Kugelschreiber.“ Er zog ihn aus der Jacke.

Sie reichte ihm eine der roten Servietten. „Schreib zehn Namen auf, die du kennst.

Dann sage ich dir, welcher der richtige ist.“

„Er wird dabei sein?

Es werden alle die völlig verkehrten sein.“

„Schreib einfach, was dir so durch die Hand strömt. Grüble nicht.

Du kannst es. Du musst nur einfach den Mut dazu haben.“

Hendrik begann einen ersten Namen zu schreiben. Dann einen zweiten. Dann einen dritten. Einen vierten. Einen fünften.

Es war nur ein wirres Kritzeln, so fühlte er. Es strömte nichts. Er schob die Serviette zur Seite. Er war nicht gemacht für ein solches Spiel.

„Gut. Ändern wir es,“ sagte die junge Frau. Sie griff eine neue Serviette. „Gib mir den Stift.

Ich schreibe zehn Namen. Und du kreuzt den einen an, der der richtige ist.“

„Du glaubst, so wird es funktionieren?

Bitte, können wir es auf sechs Namen beschränken?“

„Gut. Dann sechs Namen.“

„Nein, besser nur vier.

Ich bin grottenschlecht im Gedankenlesen, besonders wenn es um Namen geht.

Können wir es nicht beschränken auf zwei?“

„Gut, zwei Namen.

Dann nehme ich zwei Servietten.

Auf jede schreibe ich einen Namen und du wählst die, die die richtige ist.“

Sie begann zu schreiben. Kein Winkelzug in ihrem Gesicht gab den leisesten Hinweis.

Der Kellner kam mit einem kleinen Tablett.

Henrik streckte die Hand nach der einen Serviette aus, einen Moment lang meinte er, sich seiner Sache sicher zu sein, dann trat Verwirrung in seine Hand.

Wieder wollte er zugreifen, als ein plötzlicher Windstoß sie erfasste und vom Tisch trug.

Der Kellner stellte die Gläser mit dem Mangosaft ab.

Hendrik griff nach der liegengebliebenen Serviette, er drehte sie um und las den Namen „Iris“.

Er hielt ihr die Serviette mit dem Namen hin.

„Das Essen kommt in wenigen Minuten,“ sagte der Kellner. „Wollen Sie viel Curry und scharf? Oder wenig Curry und wenig scharf?“

„Ein bisschen scharf,“ sagte die junge Frau, „nicht zu sehr scharf.“

„Nicht zu sehr scharf,“ sagte Hendrik.

Der Keller entfernte sich wieder.

Die junge Frau lächelte die Serviette an.

„Also – ich habe es richtig getroffen?

Ich spürte es. Zunächst bevorzugte ich die andere Serviette. Aber da war ein falsches Kribbeln in meinen Finger. So habe ich noch einmal gewechselt.

Gut. Jetzt weiß ich, dass du Iris heißt.

Und auch in Indien bist du gewesen.

Hast du indische Freunde dort?“

„Viele und gute Freunde, ja.

Meine Mutter ist Inderin.“

„Oh! Warum sieht man es nicht?“

„Du meinst –: die braune Haut und die dunklen Haare? – Nein, die habe ich nicht abgekommen.“

„Dein Vater ist deutsch?“

„Meinen Vater kenne ich nicht.“

„Du sprichst ein perfektes Deutsch.“

„Das spricht auch meine indische Mutter.“

„Und du – sprichst du indisch mit ihr?“

„Beides. Wir wechseln, immer nach Stimmung.“

Sie trug eine Bernsteinkette, in die eine Feder eingearbeitet war. Eine eher schmucklose Feder, weiß mit kleinen Punkten von Grau und Rot. Hendrik entdeckte eine solche Feder jetzt auch in ihrem Haar, etwas versteckt, von einer kleinen Spange gehalten.

„Du trägst eine Feder im Haar?“

„Ja, eine Feder.“

„Kann man fliegen damit?“

„Gewiss.“

„Braucht man zum Fliegen nicht eine Ganzfederausstattung? von Kopf bis Fuß?“

„Nein, es genügen zwei.“

„Davon habe ich immer geträumt,“ sagte Hendrik.

„Vom Fliegen?“

„Ja, vom Fliegen.“

„Mit dem Träumen fängt alles an.“

„Du heiratest mich?“

„Wann?“

„Morgen?“

„Morgen? – Das ist sehr bald.“

„Ist es zu rasch?

Ich warte auch eine Woche.“

Sie wiegte den Kopf. Wieder dies Lächeln, ein unwiderstehlicher, sie umströmender Duft.

„Wenn du ein halbes Jahr sagst, warte ich auch ein halbes Jahr.

Auch ein Jahr, wenn du sagst: ein Jahr.“

Er saugte sich an seinem Mangosaft fest, den Strohhalm umklammernd. „Meine Frage ist verrückt, ich weiß es, doch ich musste sie einfach stellen.“

„Verrückt? Warum meinst du, dass sie verrückt ist?“

„Doch ich hätte sie besser vielleicht erst in einer Stunde gestellt…

Oder nach zwei.“

Er zog an einer seiner welligen Haarsträhnen über dem Ohr. „Versteh – auch wenn du mich auslachst: Ich musste dir diese Frage stellen.

Ich malte mir eben aus, wir verabschieden uns, später nach dem Essen – und ich hätte die Frage nicht gestellt! ich hätte sie in der Aufregung einfach vergessen…! Ich würde es für den ganzen Rest meines Lebens bereuen.

Du lachst mich nicht aus?“

„Dich auslachen? Warum sollte ich das?“

Sie saß eingehüllt in dies Lächeln, es war kein Lachen, schon gar kein Auslachen. Was immer er fragen würde – ein Auslachen kannte sie nicht.

Der Kellner brachte das Tablett mit dem Essen, wieder mit kerzengeradem Gang. Neben den Tellern baute er eine ganze Batterie von Gewürzen auf und murmelte jeweils einen Namen dazu.

Iris nickte jedes Mal und bedankte sich.

Hendrik ruckte auf seinem Stuhl in die Höhe, es war ein Versuch, sich wieder auf seinen klaren Verstand zu besinnen.

Das Essen war gut gewürzt. Doch jede der kleinen Gewürzdosen verbarg ein weiteres eigenes Duftgeheimnis, es wäre Verschwendung gewesen, es nicht auszuprobieren, Hendrik ließ auf jeden Löffel einen neuen kleinen Duftregen nieder.

Alles war Seligkeit.

Der Mangosaft war es und diese Gewürze waren es. Die milde Augustabendluft war es.

Die Augen von Iris waren es.

Ihr Nicken. Ihr Lächeln.

Durch den vorderen Garten war eine Schnur mit Lampions gespannt, jetzt in der zunehmenden Dämmerung des Augustabends hatte der Kellner sie angezündet und die bunten Lichter wiegten im Wind.

Von der halb offenen Restauranttür kam Musik: meist der Gesang einer hohem Frauenstimme mit den leicht verzitternden Tönen eines indischen Gesangs, manchmal in ein dunkles geheimnisvolles Timbre wechselnd.

Hendrik und Iris sprachen im Flüsterton. Ihre Köpfe waren näher und näher zusammengerückt.

„An diesen zwei Federn kannst du mich immer erkennen,“ sagte sie.

„Ja. An diesen zwei Federn.

Und an den Augen.“

„Und an den Augen.“

Er hatte ihr von all seinen Reisen erzählt, durch Europa, durch Asien, durch Nordamerika. Nach dem Abitur hatte er zwei Jahre als Weltenbummler verbracht. Iris lauschte mit wachen leuchtenden Augen. Er berichtete auch von den traurigen Dingen: dem frühen Tod seiner Großeltern bei einer Bergwanderung. Er berichtete vom Tod seines Schwagers. Und dass er jetzt nach Frankfurt gekommen sei, um aufzuklären, was tatsächlich passiert sei. Es war da ein übles Spiel gegen seine Schwester in Gang, er habe es bereits aufgedeckt und er werde jetzt für Gerechtigkeit sorgen.

Vier Stunden waren inzwischen vergangen. Fünf Mangosaftgläser hatten sie leer getrunken.

Hendrik spürte keine Zeit. Seine Sätze sprudelten. Immer wieder tauchte er ein in diese Glocke von Seligkeit und von Trance, die über ihnen lag. Es gab keine Zeit.

Der Kellner meldete sich. Er kündigte an, das Restaurant werde in Kürze geschlossen.

Hendrik wollte für Iris zahlen, doch sie wehrte ab.

Seine Finger spielten auf ihren, ihre spielten auf seinen. Über ihnen lag diese Glocke von Trance.

„Gib mir deine Telefonnummer,“ sagte er jetzt. Er schob ihr die Serviette mit dem Namen ‚Iris’ zu.

Sie nickte, lächelnd, schrieb die Nummer auf die Serviette.

Hendrik griff die Serviette und las die Nummer laut vor sich hin.

„Hendrik.“ Ihre Stimme hatte plötzlich einen ernsten Unterton. „Du sprichst von deinem Aufenthalt hier in der Stadt – dass du für Gerechtigkeit kämpfen willst, für deine Schwester.

Ich will dich nicht unnötig ängstigen. Doch sei vorsichtig bei dem, was du tust.

Ich will dich nicht ängstigen. Doch die Gefahr könnte größer sein, als du annimmst.“

„Ich habe ein Beweisstück, ich habe es bei mir.“ Er griff nach dem Handy in seiner Jacke. „Die Sache ist bereits so gut wie gewonnen.

Du meinst, ich könnte leichtsinnig sein?“

Der Kellner mahnte wieder zum Aufbruch, den Satz zweimal mit einer Entschuldigung unterbrechend.

Hendrik hätte sie gern mit seinem Auto zu ihrer Wohnung gefahren. Doch dieses Auto stand mit plattem Vorderreifen vor einer fremden Pension.

Iris nahm ihr Handy aus der Jackentasche und rief ein Taxi.

„Ich erkenne dich,“ sagte Hendrik. „Mit oder ohne Feder. Ich erkenne ich, weil du du bist.

Ich werde dich überall und immer erkennen.“

Er zog den Kopf aus der großen gemeinsamen Glocke der Trance zurück.

Das Taxi war eingetroffen.

Iris stand auf, ihre Blicke schweiften zum Taxi, dann trat sie dicht neben ihn und umarmte ihn.

Lange. Innig. Fest.

Sie löste sich und ging auf das Taxi zu.

Hendrik spürte, er müsse etwas tun, um diesen Augenblick festzuhalten.

Er zog sein Handy.

Es sollte unbemerkt geschehen.

Er wollte allein dieses Bild: Wie sie mädchenhaft leicht und grazil auf das Taxi zulief.

Da, als er abdrückte, drehte sie sich ihm noch einmal zu. Der Fotoblitz des Handys leuchtete voll in ihr Gesicht.

Das hatte er nicht zu fragen gewagt: ob er zum Abschied ihr Gesicht fotografieren dürfe.

Jetzt war es passiert.

Ihr Gesicht war ins Handy gebannt.

Er prüfte es gleich: Kein Ausdruck von Überrumpelung oder Abwehr hatte sich eingeschlichen. Sie lächelte frei und offen in sein Handy hinein.

Jetzt hörte er, wie sie dem Taxifahrer das Wort „Eschborn“ zurief. Die Tür schlug zu.

Hendrik griff die Serviette, faltete sie klein zusammen und verstaute sie in seinem Portmonee. Nie war etwas ähnliches Kostbares dort verwahrt worden, und er allein wusste es.

Hinter dem Taxifenster winkte eine Hand. Das Taxi verschwand im Dunkel der Nacht.

x x x x

Hendrik lehnte glücklich, wie benommen noch eine Zeit lang am Zaun.

Er trat den Weg zurück zur Mainbrücke an, er schwebte fünf Zentimeter über dem Boden dabei, immer nach wenigen Schritten machte er Halt und ließ auf dem Display seines Handys das Gesicht von Iris aufleuchten.

Er tanzte, taumelte durch die nächtlichen Straßen. Er war das personifizierte Glück.

Jetzt stand er am Brückengeländer, unter ihm rauschte Väterchen Main, das Licht der Straßenbeleuchtung versilberte die Wellen, manche funkelten sogar geheimnisvoll auf, dazwischen gab es Oasen von lichtlosem Schwarz, doch es überwogen die versilberten Wellenstraßen.

Die Straße war um diese Zeit schon menschenleer, nur im Minutentakt kreuzte nochmals ein Auto auf und war mit schnellem Rauschen verschwunden.

Er fasste den Entschluss, die Telefonnummer auf der Serviette in sein Handy zu übertragen. Er hatte eben das Portmonee aus seiner Tasche gezogen und es auf dem Brückengeländer abgelegt, als auf seiner Straßenseite hinter ihm zwei grölende Motorradfahrer auftauchten. beide mit einer Flasche am Mund, aus der sie jetzt einen letzten Schluck nahmen.

Sie hatten sich die Mainbrücke ausgeguckt, um sich der Flaschen zu entledigen, der eine ließ sie in hohem Bogen über das Geländer fliegen, das versuchte mit fröhlichem Grölen jetzt auch der andere, wobei seine Flasche nach dem niedrig angesetzten Wurf doch nur ans Geländer prallte und dort zersplitterte. Hendrik hob schützend die Hand vors Gesicht, sein rechter Ellbogen war auf das Geländer gestützt, instinktiv machte er einen Schritt zurück, der Ellenbogen schob das Portmonee mit sich, dann hörte Hendrik seinen platschenden Aufschlag auf den Fluten des Mains. Er blickte hinab. Noch etwa eine halbe Minute hielt sich das Portmonee auf den Wellen, trieb mit der Strömung fort. Dann war es verschwunden.

Hendrik stand erstarrt.

Er glaubte lange, dass nicht wirklich sein könne, was eben geschehen war.

Die Bilder wirbelten in seinem Kopf, wie er vom Geländer in die Tiefe des Mains springen würde und dort mit tiefen Taufgängen den Boden absuchte.

Es war hoffnungslos.

Der Fluss hatte die Serviette mit der Telefonnummer verschluckt. Das Portmonee konnte noch viele Meter weiter getrieben sein. Jetzt lag es irgendwo auf dem Grund des Mains

Er blickte starr in die Tiefe, die versilberten Wellen rauschten wie immer, eng an einander geschmiegt, die Motorradfahrer waren längst davongefahren, kein Auto störte die Nachtruhe.

Die Nachtruhe: sie war eine Grabesstille.

Hendrik hockte, gegen das Geländer gelehnt, am Boden: ein Sack voll Elend.

Keine Katastrophe konnte vernichtender sein als diese es war.

Als er in der Pension eintraf, sah er, wie die Dame von der Rezeption eben in einen Krankenwagen transportiert wurde. Es hieß, sie habe einen Schwächeanfall erlitten.

In der Ferne tönte die Alarmsirene eines Polizeiwagens.

Hendrik griff seinen Schlüssel und ging die Treppe hinauf zu seinem Zimmer, in dem er seinen Nachmittagsschlaf verbracht hatte.

Er blickte auf die Uhr. Es war Viertel vor vier.

Er wusste nicht, was sich vor einer Viertelstunde in dieser Pension ereignet hatte.

Immer wieder sah er sich am Geländer der Mainbrücke stehen und von dort in die Tiefe springen.

Das kalte Nass schlug über ihm zusammen und seine Finger wühlten im Grund.

Ein unerschrockener, todesmutiger Schatzsucher.

Während das Portmonee doch immer weiter auf Wanderschaft ging mit den Strudeln und Schnellen des Flussbodens, ihm immer einige Meter voraus, vielleicht schon mehr als hundert Meter inzwischen.

Noch im Einschlafen sah er sich wieder aufspringen, ein von widersinniger Hoffnung gejagter Jäger, der das absolut Vernunftlose versuchte.

Nachts, drei Uhr dreißig:

Zwei Männer, beide dunkelhaarig, südländischer Typ, klingelten am separat gelegenen Eingang der Pension, kaum hatten sie die Rezeption betreten, legten sie der älteren Dame, die dort um diese späte Nachtzeit noch Buch führte, ein chloroformgetränktes Tuch über den Mund, kurz darauf war sie am Stuhl gefesselt, und die zwei Männer bemächtigten sich sämtlicher sechs Schlüssel, die in die Pensionsräume führten.

Nur zwei schienen gebucht, in einem befand sich ein schon älterer grauhaariger Herr, in einem anderen lagen in schummrigem Licht ein jüngerer Herr und eine grell geschminkte Dame in enger Verschlingung, beide vollkommen nackt. Der eine der dunkelhaarigen Männer zog eine Pistole und verlangte vom Mann die Herausgabe seines Handys.

Der hob, bleich vor Schrecken, die Hände, sprang nackt aus dem Bett und wühlte aus einer Innentasche seines über einen Stuhl gehängten Jacketts sein Handy hervor. Zitternd lieferte er es aus.

Die beiden Männer kehrten zurück in die Rezeption, banden die Empfangsdame von ihrem Stuhl los und waren verschwunden.

Bei Rudmar klingelte das Telefon.

Wir haben das Handy.

Allerdings – es gibt keine Aufnahmen aus dem Büro des Notars.“

Keine Aufnahmen?“

Vielleicht schon auf einen Stick übertragen und auf dem Handy gelöscht.

Auch den Namen Hendrik oder den Namen einer Schwester Sigrid konnten wir nirgends entdecken. Haben jede Mail durchgecheckt.“

Nirgends sein Name?

Nirgends der Name Adork?“

Vielleicht dass er ein Pseudonym benutzt?“

Ihr Hornochsen – habt ihr den richtigen Mann erwischt?“

Es war der einzige in der Pension, der einzige jüngere.

Sein Wagen steht vor der Pension. Exakt sein Nummernschild.“

Ihr Hornochsen, es ist der falsche Mann!

Könnt ihr nie etwas richtig machen?

Bringt mir das richtige Handy, sofort!“

Schutzengel im Nahflug

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