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Tag X

Lukas hatte endlich die Tabletten zusammen, die den friedlichen endgültigen Schlaf herbeiführen konnten.

Er trat hinaus auf den Balkon, es war Mitte Mai, die Luft vibrierte von Vogelstimmen, die parkenden Autos spiegelten im Licht der Frühlingssonne, die von einem klaren Himmel herabfunkelte, für Lukas doch blieb alles ohne Glanz. Nichts berührte ihn mehr. Die maßlose Trauer, die jetzt über Monate dauerte, hatte ihn von Innen zerfressen. Sein Entschluss stand fest.

Er kehrte in die Wohnung zurück, durchwanderte noch einmal die Zimmer: das Kinderzimmer mit den bunt bemalten Laken an den Wänden, den aufgehängten Kasperlepuppen, den zwei schmalen Betten mit dem Tigerentenüberzug am Fenster; das Zimmer seiner Frau mit dem Flügelspiegel und dem Frisiertischchen, der Vitrine, in der Vasen, Steine und Muscheln gesammelt waren. Schließlich suchte er wieder sein Wohnzimmer auf, wo er seit Monaten auf einer Matratze hauste und ein verwahrloster Schreibtisch mit ungeöffneten Papieren stand.

Alles was sein Interesse hier noch einmal anziehen konnte, war die Wand mit den Fotos. Sie standen auf einem schmalen Brett über den zwei übereinander montierten Synthesizern. Auf diesen Instrumenten hatte er, oben und unten zugleich spielend und improvisierend, häufig ein ganzes Orchester zum Klingen gebracht, Geigen, Oboen, Trommeln, Trompeten und Triangeln. Nicht einmal das reizte ihn noch in den letzten Wochen.

Das eine der Fotos zeigte eine junge dunkelhaarige auffallend schöne Frau, lachend an seiner Seite. Auf einem zweiten Foto blickte sie ernst, was ihre Schönheit fast noch mehr hervorstechen ließ. Das dritte Foto zeigte zwei lachende Kinder, einen Jungen, ein Mädchen, der Junge acht Jahre alt, das Mädchen sechs.

Er hatte alles gut vorbereitet. Das Wasserglas, in dem er die Tabletten gelöst hatte, stand auf dem kleinen Nachttischschrank neben seiner Schlafmatratze. Er musste es jetzt nur trinken, sich dann nach hinten lehnen und er würde nichts spüren, als dass er friedlich einzuschlafen begann.

In diesem Moment läutete das Netztelefon auf dem Schreibtisch.

Es läutete vier- fünf Mal.

Lukas biss in Abwehr die Zähne zusammen. Niemand durfte es wagen, ihn in diesem Moment noch einmal zu stören.

Endlich war Stille. Er griff nach dem Glas.

Da setzte das Läuten wieder ein. Dieser Anrufer war hartnäckig.

Es läutete viermal, fünfmal, ein sechstes Mal.

Lukas stellte das Glas zurück und sprang auf. Dabei verfing er sich in der Schnur der Lampe auf seinem Nachttischschrank, die stürzte und damit rollte auch das Glas, es wanderte an den Rand des Schränkchens, jetzt schlug es klirrend am Boden auf.

Durch Lukas fuhr ein wilder heftiger Fluch. Im selben Moment nahm er den Hörer ab.

„Hallo?“

„Lukas am Apparat?“

Es sprach eine markante Männerstimme, die Vitalität und gute Laune spüren ließ.

„Wen bitte spreche ich?“

„Lukas – altes Haus! Ich erkenne dich doch, deine Stimme.

Wie geht’s dir?“

„Wer bitte ist dort?“

„Keine Ahnung?“

Der Mann stimmte den Beatlesong „Yesterday“ an.

„Noch eine Hilfe: Baseballkappe mit blauen Strei-fen... Dämmert was?“

„Gerd -?“

Der alte Schulfreund. Auch Lukas erkannte jetzt klar die Stimme.

Gerd antwortete mit dem Unterton des Strahlemanns: „Richtig - Gerd! Volle Punktzahl für den Kandidaten! Deinen Spickzettel, den du mir bei der Abi- Klausur in Bio hast rüberwandern lassen, besitze ich noch. Hat einen Ehrenplatz in einer Schublade.“ Er lachte heftig. „Wie geht’s dir, altes Haus?“

Lukas musste sich sammeln. Nichts konnte er als so störend und deplaziert empfinden wie diesen Anruf von Gerd. Und dieser betrachtete ihn offenbar noch immer als Freund, obwohl sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.

„Bin für zwei Tage hier in der Stadt,“ sagte Gerd. „Aus meinem Notebook sprang mir eben deine Adresse und deine Telefonnummer entgegen…“

Eine Stille.

Gerd sprach jetzt mit etwas gedämpfter Stimme: „Sag mal – hattest du da eben geflucht? Gerade als du den Hörer abgehoben hattest…“

„Möglich.

Ein kleines Malheur. Etwas ist umgestürzt.“

Er blickte erneut nach dem Glas. Scherben, zahllose kleinere Splitter. Die Flüssigkeit war als große Pfütze über den Boden verteilt, der größere Teil über den an die Matratze angrenzenden beigefarbenen Teppich, der ihn längst aufzusaugen begann.

„Mein Anruf war schuld?“

„War er.

Nicht mehr zu ändern.

Also, zwei Tage bist du hier in der Stadt...“

„Bis morgen Mittag.

Wie wär’s? Hast Zeit für mich heute Abend?“

„Heute Abend?“

„Schon anders verplant?

Bin im Adlon.

Kannst einfach herkommen.

Eine schnieke Hotelbar. Ich lade dich ein.“

„Im Adlon?“ Das Nobelhotel. Das klang nach einer glatten gut gelaufenen Karriere.

Lukas sah ihn vor sich: schon als Schuljunge etwas übergewichtig, ein leicht schwammiges Gesicht, das er wie mit einer Gute-Laune-Aufschrift herumtrug, heitere Laune als Dauereinrichtung.

„Exzellenter Zimmerservice…“ Er schnalzte „und bezaubernd weiblich...“ Er lachte wieder, in dieser etwas übertriebenen rundbäuchigen Art, wie Lukas ihn kannte. „Also, wir sehn uns?“

Schweigen.

Gerd nahm es als Zusage. „Irgendwann nach acht. Habe eben noch ein Geschäftsessen.

Dann aber ist Zeit - für alte Paukergeschichten...“ Wieder lachte er. „Lukas! altes Haus!

Was eigentlich hast du selbst so gemacht in den letzten fünfzehn Jahren?“

Wieder kam keine Antwort.

„Also – das packen wir später aus.

Adlon. Nach acht.“

Gerd sah die Abmachung als geregelt.

„Muss jetzt ins Taxi.

Also: War toll, dich wieder mal so zu sprechen, alter Junge. Bis bald!“

Das Gespräch war beendet.

Lukas starrte auf den Hörer.

Er kroch zum zersplitterten Glas und fuhr mit den Fingern durch die Scherben.

Unglaublich. Dieses so kostbare Nass.

Es hatte Wochen gebraucht, bis er ein solches Getränk herzustellen konnte.

Es würde wieder Wochen kosten, noch einmal genau diese Art wirksamer Tabletten aufzutreiben.

In ihm kämpften maßlose Wut und Ratlosigkeit.

Sollte er das verbliebene Nass vom Boden auflecken? Oder absammeln mit einem Schwamm? Nur ein dummer Gedanke. Der größere Teil war versickert im Teppich.

Es gab andere Arten der Selbsttötung: sich vom Balkon stürzen; mit dem Auto gegen einen Brückenpfeiler rasen; sich die Pulsadern aufschneiden – längst dem Adernverlauf und dabei in der Wanne sitzen und langsam verbluten.

Er hatte sie alle durchgespielt.

Alle hatten sie das Risiko, nicht zum Erfolg zu führen. Und außerdem zu einer lebenslangen Verkrüppelung oder Querschnittslähmung. In allen gab es einen Akt der Gewalt.

Er hatte für sich die Art des friedlichen Einschlafens gewählt. Eine Art der Selbsttötung, die viele als zu leicht und feige betrachteten.

Er trat wieder auf den Balkon.

Die Sonne glitzerte auf den Autodächern wie zuvor. Sie glitzerte auf Häuserdächern und Fensterscheiben. Durch die Luft schwirrten Vogelstimmen. Aus einer offenen Kneipentür schwappte jetzt auch eine Welle heißer rhythmischer Klänge und dazu ein heftiges Lachen.

Die Welt, so schien es, vibrierte in Freude.

Wusste er selbst noch, was Freude war?

x x x x

Zur gleichen Zeit saß in einer kleineren Kirche eine Cellospielerin auf der Empore neben der Orgel und begleitete das Largo aus „Xerxes“ von Händel. Eine Trauung fand statt.

Die dunkelhaarige attraktive Frau musizierte auf ihrem Cello mit sattem Klang. Ein hinreißender Vortrag, eine Vollblutmusikerin.

Die Feier in der Kirche war beendet.

Die junge Cellospielerin trat aus dem Kirchenportal, dort empfing sie ein junger Mann. Beide tauschten einen flüchtigen Kuss.

Der junge Mann hatte einen missmutigen Ausdruck auf dem Gesicht. Er blickte auf die Uhr. „Gleich halb drei.“ Der Vorwurf in seiner Stimme war unüberhörbar.

Die junge Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Du hättest hereinkommen können.“

Der junge Mann warf einen abfälligen Blick in Richtung der Kirche. „In diesen Laden -?

Dem Herrn Pfarrer die Hand schütteln...

Ich könnte all diese Kirchen in die Luft sprengen.“ Seine Stimme sparte nicht mit Verächtlichkeit.

„War ein sehr freundlicher älterer Herr,“ sagte sie

„Sind sie alle. Wölfe im Schafspelz,“ sagte der junge Mann

Egal!“ Mit einem Blick auf ihr Cello fügte er an: „Solange sie zahlen.“

Beide liefen zum geparkten Auto. Die junge Frau verstaute ihr Cello auf dem Rücksitz. Plötzlich fand sie etwas auf dem Boden zwischen den Sitzen. Sie hob es auf. Eine angerauchte Zigarette, schmal, selbstgedreht. Sie wusste, womit sie es da zu tun hatte: ein Haschischzigarette.

Nun war sie es, die sichtbar verstimmt reagierte.

Der junge Mann lachte lässig und winkte ab. „Mach kein Drama draus.“

„Hast mir gesagt, das wäre kein Thema mehr.“

„Ein kleiner Joint - dein guter Freund.

Ist doch nur Hasch!“

Sie hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen.

Der junge Mann fuhr los.

Sie kurbelte das Fenster herunter. Die Haschischzigarette flog in hohem Bogen auf die Straße.

Nur ein Wunder ist genug

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