Читать книгу Harras - Alles wird böse - Winfried Thamm - Страница 17
Kapitel 10
ОглавлениеEin vertrauliches Gespräch
Helen saß um kurz vor zwölf im Café „BarCelona“ am Kennedyplatz in der Innenstadt von Essen. Das war eines der jetzt angesagten neuen Lokale, die Restaurant, Café und Kneipe gleichzeitig waren und sich gerne Lounges nannten wegen ihrer Kuschelecken mit bequemen Couchen, niedrigen Tischen und weichen Kissen. Am Abend gehörte noch sanftes Kerzenlicht dazu. Die coole Romantik der entspannten, jungen Leute mit dem entsprechenden Portemonnaie. Helen gehörte nicht mehr dazu. Sie war zu alt und im Augenblick überhaupt nicht entspannt. Ein windiges Gefühl steckte in ihr, nicht richtig zu benennen. Ihre Hände waren kalt und feucht und sie konnte nicht ruhig sitzen. Immer wieder schaute sie zur Tür und drehte sich um, als ob sie die anderen Gäste sondieren müsste. Sie hatte keine Angst, wovor auch. Aber es war ihr, als täte sie etwas Unrechtes. Vor ihr einen Latte macchiato, unberührt.
Endlich sah sie Harras’ schwarze, krummbeinige Gestalt. Nach freundschaftlicher Umarmung saßen sie sich gegenüber.
„Hallo Harras, schön, dass du kommen konntest“, begann sie.
„Ist was Schlimmes passiert? ,Dringend‘, hast du geschrieben. Was ist denn los?“
„Ach ja, ich habe vielleicht übertrieben, aber ich finde es eher seltsam, dass Henning diese Anmeldung von dir fordert.“
„Na ja, es ist lästig, aber so ganz fremd ist mir das nicht. Er will mich ärgern, ein wenig bluten lassen für das Krankenhaus, die OPs und die Verletzungen. Das stecke ich schon weg. Aber wenn du mit ihm redest, hebt er vielleicht diese … na ja, Regel auf. Das würde er sowieso nicht lange durchhalten. Er ist dafür zu nett“, sagte er mit einem entspannten Lächeln.
Helen wurde langsam ruhiger. Der Anflug von schlechtem Gewissen war vorbei.
„Du kennst ihn wirklich gut. Genau so schätze ich das nämlich auch ein. Aber da ist noch etwas Anderes. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne Henning zu beschuldigen. Nein, das ist das falsche Wort. Ohne ihn ungerecht zu behandeln, vielleicht. Seit er aus dem Krankenhaus heraus ist, ist er mir fremd. Er fühlt sich anders an, weniger vertraut in unseren Gesprächen. Er blockt mich häufig ab, hört nicht richtig zu oder ist ungeduldig und fahrig. Das war in der Klinik noch nicht so, obwohl da seine Situation doch viel schlimmer war, alles in allem. Und das spüre ich auch körperlich. Wir gehen nicht mehr so gelassen und selbstverständlich miteinander um, also …, wenn du verstehst, was ich meine.“ Helens Wangen waren gerötet, sie schaute auf das kalt gewordene Kaffeegetränk, mied Harras’ Blick.
„Im Bett meinst du.“ Harras lächelte wieder.
„Du darfst mich jetzt nicht auslachen. Das kann ich jetzt nicht vertragen, Harras!“
„Nein, das tue ich auch gar nicht. Du kennst Henning besser als mich. Mein Lächeln war lieb gemeint, vielleicht etwas väterlich. Was erwartest du von ihm? Er ist jetzt zu Hause, bei seiner Familie und geht wieder seiner Arbeit nach. Das heißt aber doch nicht, dass jetzt alles wieder so wie früher ist. Ihm ist das erste Mal in seinem Leben etwas richtig Schlimmes passiert. Das macht unsicher, das zerrt am Selbstvertrauen, das bringt seine Welt ins Wanken. Gottlob ist sie nicht zerbrochen, sie wird sich schon wieder einpendeln, seine Welt. Aber lass ihm Zeit. Auch für mich, also für unsere Freundschaft braucht er Zeit. Er wird mir noch einige Streichhölzer unter die Fingernägel stecken, damit rechne ich. Das habe ich auch verdient. Aber die Zeit spielt für uns, für uns alle drei. Das ist doch erst mal ein gutes Gefühl, oder.“ Und wieder sein sanftes Lächeln, sein fester, klarer Blick.
„Danke, Harras. Das hab ich jetzt gebraucht. Ich glaube, du hast recht. Vielleicht verlange ich zu viel von Henning, oder besser gesagt, von uns. Ich will eben so schnell wie möglich wieder die heile Welt: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch immer glücklich und zufrieden.“ Sie lächelte verlegen. „Ich bin eben ein Prinzesschen. Daran ist mein Vater schuld. Der hat mich immer so umpuschelt.“ Sie grinste. „Umpuschelt, das ist ein prima Wort. Das merke ich mir. Aber dass du so scharf auf einen Märchenwelt-Dauerzustand bist, das nehme ich dir nicht ab. Das wäre doch Stagnation und pure Langeweile. Du willst doch mehr vom Leben. Ein Dauerglück ist doch nichts Anderes als eine Talfahrt in eine Katastrophe, weil du dann das Glück nicht mehr spürst. Es verkümmert zu so was wie Lebensstandard. So bist du nicht Helen. Das nehme ich dir nicht ab“, ereiferte sich Harras.
„Was ist das überhaupt, Glück?“, sinnierte Helen.
„Ach, komm mir jetzt bitte nicht so! Willst du jetzt in den Philosophen-Kindergarten und mit Sokrates Sandkuchen backen?“
„Sei nicht so frech!“, fauchte sie mit einem schiefen Grinsen. „Ich habe das ernst gemeint. Darf man denn so eine Frage nicht stellen? Hältst du mich für blöd?“
„Nein Helen, weil ich dich nicht für blöd halte, möchte ich auf einer anderen Ebene mit dir reden, nicht so simpel, so pauschal.“
„Führst du mit Henning auch solche Gespräche? Bist du auch so frech zu ihm, so scheißarrogant?“
„Ja natürlich, das ist doch der Höllenspaß, den wir miteinander haben.“
„Langsam verstehe ich. Das hat was.“
„Das ist das, was was hat. Genau“, lachte Harras und klang dabei wie ein altes Pferd. Er sah auf die Uhr und sagte: „Ich muss jetzt los, Termine, Termine. Und mach dir keine Sorgen. Er braucht Zeit und du Geduld, auch wenn’s schwerfällt.“
Sie umarmten sich und hielten sich für einen Moment, der sich dehnte und an Vertrautheit wuchs. Er strich ihr über den Rücken. Sie zog ihn an sich. Es tat ihr gut und endete in einem leichten, entspannten Kuss auf seinen Mund. Sie hatte sich getraut und fühlte sich wohl, wie lange nicht mehr. So gingen sie auseinander, gelassen und lächelnd.
Außen, vor der großen Fensterfront des Cafés „BarCelona“, stand Heiner, ein alter Freund Hennings und sah den beiden zu. Ach du heilige Scheiße, dachte er, schüttelte den Kopf und ging weiter am Café vorbei durch die schmale Gasse, die auf die Limbecker Straße führte. Er wollte sich Schuhe kaufen.