Читать книгу Muskelkater vom Leben - Winfried Thamm - Страница 10

Notgedrungen eingedrungen

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Es ist mir noch nicht passiert, aber die Vorstellung, jemand dringt in meine Wohnung ein, mit Gewalt oder mit Geschick, egal, jemand dringt in meine Wohnung ein, schaut sich um, schnüffelt herum, öffnet Schränke und Schubladen, wühlt in meiner Wäsche, liest meine Tagebücher und Briefe, diese Vorstellung erschreckt mich, jagt mir Angst ein, macht mich wütend. Es würde mich aus meiner Ruhe bringen, mein Menschenvertrauen ankratzen, meine Seele verletzen. Auch wenn der Eindringling nichts stiehlt, nichts verwüstet, nichts schändet.

Nun ja, es ist mir bisher auch nicht passiert, habe Glück gehabt, bis jetzt, darf mich sicher fühlen in meinem Zuhause.

Nur: Jetzt sitze ich hier, schon seit anderthalb Stunden, und warte. Ich warte darauf, dass jemand eindringt. In mein Haus? In meine Wohnung? In mein Zimmer? Nein! In mein Herz!

Ich habe sogar mit ihm gesprochen, mit dem Eindringling, mit dem Einbrecher. Er hat mir auch noch erklärt, wie er hineinkommt, in mein Herz. Durch die Kellertür, eine Vene in meiner Leiste. Scheißfreundlich hat er’s mir beschrieben, wie er das Schloss aufbohrt, mit einer Nadel, direkt neben meinen Hoden. Wieso soll ich dem vertrauen, ich kenne ihn doch gar nicht. Nur, weil er einen weißen Kittel anhat? Den kann er sich besorgt haben. Ich sag nur: Berufsbekleidungsgeschäft! Vielleicht bohrt er sie ja an, meine Eier, bläst sie aus und hängt sie bunt bemalt an einen Strauch blühender Forsythien in seinem Garten. Und lacht sich tot, die Schweinebacke, erzählt seiner Frau und seinen Kindern: „Das da sind die Eier von Herrn T. Der hat doch tatsächlich geglaubt, ich würde ihm seine Stromleitungen im Herzen reparieren. Ich bin doch kein Elektriker, ich bin ein Eierdieb.“

Halt! Stopp! Meine Fantasie geht mit mir durch. Auf dem Teppich bleiben, die Kirche im Dorf lassen, ruhig durchatmen. Freud würde sich freuen über meine Fantasien: Klassischer Fall von Kastrationsängsten, würde er sagen.

Nein, der Einbrecher in Weiß mit dem Doktortitel, hoffentlich nicht durch Plagiat, will in mein Herz, mit einem langen Katheder will er es durchsuchen. Und der Durchsuchungsbefehl trägt meine Unterschrift. Er hat sie mir abgepresst, der Gauner. Wenn ich die Erlaubnis verweigert hätte, hätte er mich für verrückt erklärt und mein Über-Ich hätte mich in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen: Klapse zu, Seele tot.

Nach zwei Stunden und fünfzehn Minuten werde ich aufgerufen. Mein Feind in Weiß gibt mir die Hand. Ich muss freundlich tun. Jetzt erläutert er mir seinen Einbruch noch einmal, der Sadist, in allen Einzelheiten, der Hund. Er nennt seinen Übergriff Ablation, das hört sich vornehmer an, klingt ein wenig nach Absolution, der Zyniker. Er wird in mein Innerstes einbrechen, in dem für ihn kein Platz ist, wird die Bewohner stören, die ich liebe, die mir ans Herz gewachsen sind.

Der freundliche Feind sagt, wenn er käme, werde ich gar nichts merken, werde ich gar nicht zu Hause sein, weil er mich auf eine Reise schicken werde. Aber das stimmt gar nicht. Ich werde mich schlafend stellen und mit einem halben Auge auf meine Lieben aufpassen, damit er ihnen nichts tut. Er soll nur das defekte Kabel suchen und stilllegen, sonst nichts. Er sagt „veröden“ dazu. Unverschämtheit, als hätte Ödnis Platz in meinem Herzen! In seinem vielleicht! Er schaut mich an, als habe er meine Gedanken lesen können und sagt: „Keine Bange, Herr T., ich schau nur nach dem Sinusknoten, nicht in Ihre Schubladen und bin in einer Stunde wieder weg. Versprochen.“

Jetzt muss ich lächeln, ob ich will oder nicht, und antworte: „Na, dann reparieren Sie mal schön. Und grüßen Sie meine Lieben von mir.“ Nach vier Stunden und dreißig Minuten werde ich in den OP geschoben. Gut Ding muss Weile haben.

Muskelkater vom Leben

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