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Eine Übung in Geduld und Demut

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Es ist so schön dunkel. Nur die Lichter der Stadt bemühen sich nach oben durch mein Fenster im 5. Stock und werfen von weit unten graues Licht an die Decke. Der Nachbar schnarcht leise. Es liegt nicht an ihm, dass ich nicht schlafen kann. Wer den ganzen Tag im Bett liegt, schläft nachts schlecht. Oder gar nicht. Aber es ist nicht schlimm. Mir tut nichts weh, wenn ich so liege. Darüber bin ich froh. Das ist ein Privileg in diesem Haus.

Ihm hat es wehgetan, heute, von halb fünf bis halb acht. Herbert heißt er, ist über siebzig. Seine Nichte war bei ihm, Gott sei Dank. Irgendwas beim Klogang passiert, Blut im Urin. Schmerzen. Der Praktikant kam, sah entsetzt das Rot im Beutel und rief die Schwester. Herbert jammerte, tapfer, nicht laut. Schwester Britta kam nach zwanzig Minuten, da könne sie nichts machen, und rief den Bereitschaftsarzt. Der kam nicht, war auf einer anderen Station. Ist schließlich Wochenende, da heißt es: Sparflamme, wollen doch keine Ressourcen verschwenden. Herbert jammerte weiter. Die Nichte hielt die Hand. Fragte nach Schmerzmitteln. Ohne Arzt keine Veränderung der Medikation. Das ist Vorschrift, so die Schwester, übrigens habe sie auch noch andere Patienten. Herbert klammerte sich an die Hand seiner Nichte. – Schätzken, dass du da bist. Wenn ich dich nicht hätte. Das tut so weh – . Nach einer Stunde tauchte ein junger Mann in Weiß auf, fragte, was uns denn fehle, und verschwand gleich wieder, den Urologen holen. – Ein Schmerzmittel, Herr Doktor? – Zu spät, die Tür war schon zu. Herbert jammerte lauter, aber immer noch tapfer. Eine Übung in Geduld und Demut. Um kurz vor halb acht kam der Urologe, zog den Katheder. Herbert atmete auf.

Ein Fenster ist auf Kipp, leise rauscht die Großstadt. In den letzten Tagen hatte ich eine wunderschöne Aussicht über das Viertel, dahinter die bunten Wälder. Goldener Oktober. Wäre gerne spazieren gegangen. Bleibe so liegen, genau so, auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch abgelegt, atme ruhig. Hat was von Meditation. Eine Übung in Geduld und Demut.

Vorher hab ich auf der Sechs gelegen. Als Vierter auf einem Dreibettzimmer. Böse Blicke der anderen drei, als sie mich hineinrollten. Man duzte sich gleich. Die Distanzlosigkeit der Leidensgenossen.

Josef war Rentner und verloren wie ein Baby, ohne seine Frau. Die lag eine Etage tiefer und hatte was Schlimmes. Er ging jeden Tag zu ihr hinunter. Dauerte höchstens eine halbe Stunde, der Besuch. War immer deutlich erleichtert, wenn er wieder da war. Er ist nur hier wegen seiner Zuckerwerte, müssen neu eingestellt werden, und weil er alleine zu Hause nicht klarkommt. Josef ist alt, um die achtzig. Aber fast kerngesund und schimpfte wie ein Rohrspatz. Ließ mich nicht in Ruhe, fragte immer, ob er denn recht habe, rotzte und rülpste und spuckte und schaute mich an. Unentwegt. Ein Mann ohne Manieren. Saß ich im Bett und las, schaute Josef mich an. Schaute ich auf, grinste er und sagte etwas, was ich unbedingt bestätigen musste, sonst wiederholte er es. Schaute ich nicht auf, fragte er, was ich da lese, ob das spannend sei, er lese nie, manchmal mache er Kreuzworträtsel, aber hier nicht, habe ja keine, seine Frau könne ja keine holen. Der Vorwurf war unüberhörbar. Ein alter Mann mit dem Wesen eines dreisten, verwöhnten und verzogenen Kindes. Arme Frau. Für sie: eine Übung in Geduld und Demut.

Gut, dass ich da weg bin. Ich liege ganz still, höre die Stadt und sehe ihren Schein an der Decke. Bruno atmet schwer, japst, setzt aus, ein lauter Schnarcher und wieder Ruhe. Er liegt wie ein Berg hinter Herbert. Die beiden sind wie eine Landschaft: Herbert ist der Fluss, weil seine Sauerstoffmaske so gluckernde Geräusche macht und Bruno ist der Berg dahinter. Was bin ich in dieser Landschaft? Der gefällte Baum?

Bruno ist ein gutmütiger Berg, zweihundert Kilo bestimmt, wenn nicht mehr. Er kriegt dauernd Besuch. Immer, durchgehend, ist jemand da, manchmal auch viele – außer nachts. Sie reden immer irgendwas völlig Belangloses und lächeln sich an. Sie lächeln sich immer an und reden immer. Ein ruhiges Krankenzimmer ist etwas anderes. Für mich: eine Übung in Geduld und Demut. Wenn sie endlich weg sind, will Herbert immer die Aktuelle Stunde gucken, dann die Tagesschau. Dabei schläft er meist schon ein. Schnell schalte ich den Fernseher wieder aus. Der Berg will nichts sehen. Er will liegen.

Jetzt kommt wieder ein Flieger am Fenster vorbei, im Anflug auf Düsseldorf. Er schwebt mehr als er fliegt, ganz langsam. Nicht, dass er herunterfällt? Auf uns drauf! Hätten’s dann nicht weit zum Krankenhaus. Ha ha, Klinikwitz. Ich erkenne nur die Scheinwerfer und höre die Motoren, weit weg. Da oben drin will ich sitzen, nach langer Reise nach Hause kommen, exotische Abenteuer und Geschenke im Gepäck, erwartet werden von meiner Frau am Flughafen, Umarmungen, Küsse und – dass du wieder da bist, ich kann es kaum fassen – in strahlende Augen sehen.

Auf dem Zimmer mit dem greisen Egoistenkind lag noch Andreas. Lustiger Kerl. Haut wie Teig. Ihm stand das Wasser bis zum Hals. Fast. Er wäre beinahe in sich selbst ertrunken. Sein Herz arbeitet nicht richtig. Das Wasser im Körper hatte sich zuerst in den Füßen und Beinen gesammelt und stieg dann immer höher in den Bauch. Was es nicht alles gibt. Dass er erst so spät eingeliefert wurde, lag daran, dass er nicht versichert war. Er traute sich nicht, dachte, er müsse die Behandlung selber zahlen. Und weil er kein Geld hatte, müssten das seine Eltern übernehmen. Die zahlen ja eh alles und haben selbst nicht viel. Er wohnt noch zu Hause, liegt ihnen auf der Tasche. Eine Übung in Geduld und Demut.

Morgen soll es wieder schön werden. Die Sonne wird wieder das bunte Laub vergolden. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich wieder laufen kann. Dann wird nur kalter Regen durch die Straßen fegen und der November all die Farben aus der Welt gesogen haben. Das Leben in Schwarz-Weiß, lange, bis zum Frühling. Eine Übung in Geduld und Demut. Das schmerzt. Heute habe ich eine Kinderseele.

Andreas ist Großhandelskaufmann. Nach der Lehre wurde er nicht übernommen. Nach drei Jahren ohne Arbeit besuchte er einen Umschulungskurs vom Arbeitsamt als Communication-Assistent, fand einen Job und war glücklich. Nach knapp einem Jahr machte die Firma Pleite. Er hatte sich dann nicht mehr arbeitslos gemeldet, weil er meinte, es hinterließe einen schlechten Eindruck bei der Arbeitssuche. Nach 237 Bewerbungen in vier Jahren hatte er aufgegeben. Seine Eltern lieben ihn. Er sie auch, mit viel Scham. Das merkt man, wenn sie ihn besuchen. Er ist zweiunddreißig. Netter Kerl, kennt sich gut aus mit Kabarett und Filmen. Hier macht er eine Entwässerungstherapie. Kriegt vielleicht einen Schrittmacher. Seine Waden sind violett. So viel Wasser haben seine Adern nicht vertragen. Manchmal schmerzen sie, manchmal jucken sie. Immer cremen, viel cremen, sagt der Arzt.

Einmal bekam er den ganzen Tag kein Essen, weil er zu einer Untersuchung musste, die dann aber auf den nächsten Tag verlegt worden war. Er sagte, er habe Hunger, traute sich aber nicht nachzufragen. Ich klingelte, erklärte und klingelte noch einmal. Dann bekam er sein Essen. Er sagte Danke, ohne mich anzusehen. Dann aß er, drehte sich in seinem Bett zur Seite und weinte. Arme Sau.

Ich möchte jetzt einschlafen. Genug Melancholie genossen. Möchte nicht, dass sie kippt, so wie frischer Wein kippt, wenn man ihn zu lange lagert. Umkippt in tintenschwarze Traurigkeit. Die Melancholie, nicht der Wein. Oder noch schlimmer, in Angst. Im Krankenhaus ist es ganz superleicht Angst zu bekommen. Da muss man sich gar nicht anstrengen und schon hat man sie im Kopf. Jeder eine für sich. Meine heißt: Amputation. Ist zwar nur eine dicke, heiß-rote Entzündung im Fuß, aber das Wort ist im Kopf, kam gleich bei der Einlieferung, quasi mitgeliefert: Amputation. Ist hartnäckig, schwer zu vertreiben, gerade nachts. Aber geht schon wieder. Muss. Mach dich nicht verrückt, sag ich mir dann immer. Eine Übung in Geduld und Demut.

Muskelkater vom Leben

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