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Kapitel 4: Die Transportrevolution der Eisenbahnen
ОглавлениеObwohl man, mit den Fürsprechern dieses Verkehrsmittels, zugeben muß, daß es wirtschaftlicher ist als der Gebrauch von Pferden, muß man doch auch erkennen, daß der Brennstoff, dem diese Maschinen ihre Arbeitsleistung verdanken, tagtäglich jenen natürlichen Lagerstätten entnommen wird, die trotz ihrer großen Ausdehnung doch keineswegs unerschöpflich sind […] Die Verwendung von Pferden bietet demgegenüber ganz andere Möglichkeiten; die Pferdekraft basiert auf den Produkten des Bodens, die die Natur jedes Jahr neu hervorbringt.
Pierre-Simon Girard, Ingenieur und Mitglied der Académie des sciences, 1827
Auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution in England und in Nordamerika und in einem eher frühen Stadium der Industriellen Revolution auf dem europäischen Kontinent erfolgte mit der Eisenbahn eine zweite Transportrevolution. Diese brachte erstmals eine massive Temposteigerung beim Personenverkehr und im Gütertransport mit sich. Die Transportgeschwindigkeiten wurden im Vergleich zu Pferd, Kutsche und zur Kanalschifffahrt versechsfacht.
Am 27. September 1825 wurde in England unter George Stevensons Regie die Eisenbahnlinie zwischen Stockton und Darlington eröffnet. In der offiziellen Geschichtsschreibung handelte es sich um die erste öffentlich betriebene Eisenbahn, was so nicht zutrifft.44 Auch wenn diese Verbindung von vornherein für den Personenverkehr zugelassen war, so standen auch hier – wie bei der Kanalschifffahrt – industrielle Interessen im Vordergrund: Es galt, die Kohlevorkommen im südlichen Durham um das Städtchen Auckland besser zu erschließen und seine Standortnachteile (die verkehrsmäßige Isolation) auszugleichen. Erst recht waren industrielle Interessen ausschlaggebend, als ein Jahr später, 1826, die Bahngesellschaft zum Bau der Verbindung Liverpool–Manchester, die durch das industrielle Zentrum des modernen Kapitalismus verlief, gegründet wurde. Die Strecke verlief parallel zu dem bestehenden Kanal und eröffnete so mit einem Paukenschlag die Konkurrenz zwischen Schiene und Binnenschifffahrt. 1826 wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika die Little-Schuylkill-Eisenbahngesellschaft gegründet. Ihr Eigentümer war Friedrich List, der später als Theoretiker für ein deutsches Schienennetz als Korsett für einen deutschen Nationalstaat hervortrat. Am 28. Dezember 1829 nahm auf der Verbindung Baltimore–Ellicot Mills die erste öffentliche amerikanische Dampfeisenbahn den Betrieb auf. Die erste deutsche Eisenbahnstrecke (eine Märklin-Eisenbahn) zwischen Nürnberg und Fürth wurde erst 1835 eröffnet.
Binnen weniger Jahrzehnte entstand in Europa ein Eisenbahnnetz, das bis 1890 223.700 Kilometer Gesamtstreckenlänge aufwies und in den führenden Industrieländern Großbritannien, Frankreich und Deutschland als flächendeckend bezeichnet werden kann. Dabei kam es zu einem dramatischen, Jahrzehnte hin- und herwogenden Wettlauf zwischen dem Eisenbahnbau in Nordamerika und demjenigen in Europa, bei dem es am Ende jedoch einen eindeutigen Sieger gab: die Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Tabelle 1: Der Eisenbahnbau in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa 1840− 1925 – Netzentwicklung in Kilometern 45
Jahr | Nordamerika | Europa | darunter Deutschland |
1840 | 4534 | 2925 | 462 |
1850 | 14.515 | 23.504 | 5.875 |
1860 | 49.292 | 51862 | 11.157 |
1870 | 85.139 | 104.914 | 18.810 |
1880 | 150.717 | 168.903 | 34.500 |
1890 | 268.409 | 223.714 | 43.000 |
1900 | 311.094 | 283.878 | 51.678 |
1925 | 420.580 | 310.000 | 57.684 |
In den vier Jahrzehnten von 1840 bis 1880 entwickelten sich die Netze auf dem europäischen und dem nordamerikanischen Kontinent noch weitgehend parallel. Und als 1870 und 1880 Nordamerika hinter Europa zurückzufallen schien, war dies vor allem dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861−1865) geschuldet. Danach allerdings beginnt in Nordamerika ein drei Jahrzehnte andauernder Eisenbahnbau-Boom, der auf der Welt einmalig ist und eine Ausdehnung des Streckennetzes mit sich brachte, hinter der das europäische am Ende um rund 100.000 Kilometer Netzlänge zurückblieb. In diesem Zeitraum wurden im Jahresdurchschnitt 7500 km neue Bahnstrecken erstellt. Auch Deutschland, das in Europa ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über das größte Schienennetz verfügte, fiel gegenüber den USA von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich zurück. Während das Schienennetz auf deutschem Boden 1860 noch gut 22 Prozent des US-amerikanischen entsprach, waren es 1925 nur noch knapp 14 Prozent.
Auch wenn heute das Auto als Massenprodukt mit dem US-amerikanischen Kapitalismus verbunden wird, so lässt sich doch sagen, dass am Beginn der US-Hegemonie auf dem Weltmarkt dieses Land über das mit Abstand größte Eisenbahnnetz verfügte und dass diese Eisenbahnen erheblich die Stärke der US-Wirtschaft bestimmten. Autos und auch die Autoindustrie selbst spielten damals, 1925, im Verkehrswesen und insbesondere beim Gütertransport noch eine untergeordnete Rolle.
Der bereits zitierte deutsche Ökonom Werner Sombart machte für die deutschen Eisenbahnen eine Rechnung auf, welche die gewaltige Arbeitsleistung, die in dieser Transporttechnologie steckt, verdeutlicht: »In den 70 Arbeitsjahren [des hier betrachteten Eisenbahnbaus in Deutschland; W. W.] sind jährlich 100 Millionen Arbeitstage auf den Bau von Eisenbahnen verwendet worden, eine Drittelmillion Menschen hat Jahr für Jahr nichts anderes getan, als Eisenbahnen gebaut oder hergestellt, was zum Eisenbahnbetrieb gehört: Bahnhöfe, rollendes Material usw.«46 Es handelt sich im Wortsinn um jene »säkularen«, auf ein Jahrhundert und mehr ausgerichtete Großinvestitionen, von der Joseph Schumpeter beim Kanalbau und beim Eisenbahnbau sprach. Diese gewaltige Leistung – zugleich eine Vorleistung für die Ausweitung der Industriellen Revolution und für einen späteren relativen allgemeinen Wohlstand – wurde zu einem erheblichen Maß »von außen« finanziert: Im Fall Englands und Frankreichs waren die Gewinne, die bei der Ausbeutung der Kolonien erzielt wurden, in den Eisenbahnbau investiert und im Schienennetz »kapitalisiert« worden. In Deutschland hängt der Eisenbahnboom der 1870er-Jahre mit dem siegreichen Krieg gegen Frankreich und den französischen Reparationsleistungen an das neue Deutsche Reich zusammen. Oder, in den Worten von Werner Sombart: »Man kann sagen, daß uns Frankreich als Kriegsentschädigung unser Vollbahnnetz ausgebaut hat.«47 Und nicht zuletzt wurde diese gewaltige Aufbauleistung ermöglich durch die extreme – deutlich überdurchschnittliche – Ausbeutung, denen die Eisenbahnbauarbeiter ausgesetzt waren. Hier erleben wir eine Wiederholung dessen, was beim Bau und Betrieb der Kanäle beschrieben wurde. Die Industrielle Revolution war von der »Vernichtung zahlreicher überkommener Erwerbsmöglichkeiten auf dem Lande« begleitet; es kam zu einer »Bereitstellung besitzloser Menschenmassen« (Sombart). Für die so entwurzelten, einkommenslosen Menschen gab es damals, so Gerald Sammet in einer historischen Untersuchung, nur drei Alternativen: »Amerika, die Eisenbahn oder die Fabrik.«48
Neben den Kanälen waren es nun Dampfeisenbahnen, die den Raum ebenso erschlossen wie sie Räume und regionale Strukturen zerstörten. Die Nationalökonomen des 19. und 20. Jahrhunderts wurden nicht müde, insbesondere die ökonomischen Vorteile der Eisenbahn herauszustreichen. Sie konnten sich dabei auf den deutschen Eisenbahnpionier und Eisenbahnunternehmer Friedrich List beziehen, der bereits 1837 voraussagte: »Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstands und der Zivilisation.«49 Er predigte der Landwirtschaft, welche Vorteile der Schlachtviehtransport über große Entfernungen gegenüber dem bisher üblichen Auftrieb hätte: Die damit ausbleibenden Gewichtsverluste (!) der Tiere würden sich in Mehreinnahmen niederschlagen, ein im Übrigen interessantes Argument beim Blick auf die heutigen europaweiten Viehtransporte hin zu den kostengünstigsten Schlachthöfen. Insbesondere führte List der Industrie vor Augen, dass die Eisenbahn Kohle und Erz so nah zusammenrücken würde, wie dies in England zum Teil von Natur aus der Fall war. Aus diesem Grund würde die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands enorm gesteigert werden.
Tatsächlich brachten die Eisenbahnen eine Preisrevolution mit sich und diese wiederum steigerte und beschleunigte Transporte und Verkehr. Es kam zu einem kontinuierlichen Rückgang der Transportpreise im Güterverkehr. Im Zeitraum 1840 bis 1913 reduzierten sich die Transportkosten auf rund ein Viertel. Gleichzeitig – und teilweise als Folge davon – explodierten die Transportmengen: Während sich die tatsächlichen gesamten Ausgaben der deutschen Industrie und Landwirtschaft für Transporte im Zeitraum 1850 bis 1913 »nur« um das 72-fache steigerten, nahm der stoffliche Gütertransport in diesem Zeitraum um mehr als das 200-fache zu.50 Je dichter das Eisenbahnnetz eines Landes und je niedriger die relativen Transportkosten waren, desto ausgeglichener wurde schließlich das allgemeine Preisniveau innerhalb eines Landes. Der rein physische »Standortvorteil« einer Produktionsstätte wurde zunehmend unwichtig; die Eisenbahnen überrollten eine ganze Schule der Nationalökonomie, die Anhänger der Bodenrente.51 Der Preis einer Ware war am Ort der Fertigung nur noch unwesentlich niedriger als an den verschiedensten Verkaufspunkten des nationalen Marktes. Nun konnten auch Fertigungsstätten weit entfernt von den zur Produktion benötigten Rohstoffen errichtet werden, ohne dass damit größere Wettbewerbsnachteile verbunden waren. Was für die kapitalistische Ökonomie vorteilhaft ist, erweist sich für die Natur und letzten Endes auch für das Klima als fatal – worauf wir zurückkommen werden.
Interessant sind natürlich Berechnungen der unterschiedlichen Transportverhältnisse, die zwischen dem Eisenbahnzeitalter und dem Zeitalter der Pferdefuhrwerke existierten. Werner Sombart liefert einen solchen Vergleich: »Im Jahr 1846 mühten sich auf den Straßen des (deutschen) Zollvereins 38.349 Pferde um die Bewältigung des Fracht- und Reiseverkehrs, Meitzen [August Meitzen, ein deutscher Statistiker und Nationalökonom; W. W.] berechnet die Leistungsfähigkeit dieser armen Tiere auf rund 130 Millionen Tonnenkilometer. Dagegen betrug wiederum die Zahl der von den deutschen (Voll-)Eisenbahnen zurückgelegten Tonnenkilometer im Jahr 1910 56.276 Millionen, das ist also etwa die fünfhundertfache Leistung des alten Frachtverkehrs.«52 Wie im vorausgegangenen Kapitel dargestellt, stieg im gleichen Zeitraum auch der Transport auf den deutschen Binnenwasserstraßen massiv an. Damit war der reale Anstieg des Güterverkehrs noch deutlich größer als die hier errechnete Steigerung um das Fünfhundertfache im Zeitraum von rund 65 Jahren.
Ein entscheidender Grund für den Erfolg der Eisenbahnen bestand in der Temposteigerung. Alle bisher genannten Charakteristika der Eisenbahnen – Art der Streckenführung, Preisrevolution und extreme Formen der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – trafen auch auf die Transporte auf Kanälen und auf den schiffbaren Flüssen und Strömen zu. Die qualitative Geschwindigkeitssteigerung allerdings ist ein neues Element in der Verkehrsgeschichte, das erstmals mit den Eisenbahnen auftauchte. Zwei Jahrtausende lang hatten sich die Transportzeiten und Reisegeschwindigkeiten kaum verändert. Die im dritten Jahrhundert vor Christus unter Alexander dem Großen gebauten Straßenverbindungen, die bis nach China reichten, das unter Gaius Julius Cäsar stark erweiterte und bis zu 80.000 Kilometer umfassende Netz römischer Straßen und das unter Napoleon 1811 errichtete System der »routes impériales« wiesen eine vergleichbare Qualität auf. Die Geschwindigkeit des zivilen Verkehrs auf denselben – auch das Tempo beim Vormarsch und Rückzug der Heere – hatte sich über diese zweitausend Jahre hinweg kaum verändert. Entscheidender Grund dafür war, dass die Antriebskräfte beim Personen- und Güterverkehr mit Mensch, Esel und Pferd zu Lande und Mensch, Pferd und Wind zu Wasser dieselben geblieben waren.
Nun kam es mit der Dampfkraft auf den eisernen Schienen (und zeitlich weitgehend parallel auf den Wasserstraßen und den Seewegen) zu einer qualitativen Beschleunigung. Die Eisenbahnen brachten im Vergleich zu den Pferdefuhrwerken eine Steigerung der Geschwindigkeit um das Zehnfache, wenn wir als durchschnittliche Transportgeschwindigkeiten mit Pferdekraft eine solche von fünf Stundenkilometern und im Fall von Eisenbahnen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine solche von fünfzig Stundenkilometern unterstellen.
Das Tempo von Verkehr und Transport wurde noch durch die neue Art der Streckenführung erhöht. Bereits im Kanalbau war versucht worden, natürliche Gegebenheiten zu ignorieren und möglichst kurze Verbindungen zu wählen. Dafür gab es bei dieser Transporttechnologie zwar bereits die notwendigen Mittel (Bau von Schleusen, Tunneln und Aquädukten), allerdings war dafür erst teilweise ein rein technisch bedingter Zwang vorhanden. Bei der neuen Transporttechnologie der Eisenbahnen gab es für die Herstellung möglichst kurzer Verbindungen ebenfalls von Anfang an die entsprechenden Mittel (Tunnel, Brücken, Viadukte, Einschnitte). Nunmehr existierten jedoch für eine direkte Streckenführung auch technische Notwendigkeiten: Eisenbahn-Schleusen oder gar »Schleusenfolgen« (»flights of locks«), um auf kurzer Distanz größere Höhenunterschiede zu überwinden, waren nicht vorstellbar. Eisenbahnen konnten (und können) nur maximale Steigungen von 25 Promille (2,5 Meter auf 1000 Meter) realisieren. Der Charakter des rollenden Materials und die hohen Geschwindigkeiten, mit denen Eisenbahnen betrieben werden, erfordern des Weiteren weite Radien bzw. sie verbieten enge Radien und eine »mäandernde«, stark kurvenreiche Streckenführung, wie sie bei vielen britischen und teilweise auch bei französischen Kanälen noch typisch war. Auf die davon teilweise abweichende Schienen-Streckenführung in Nordamerika kommen wir noch zu sprechen.
Entsprechend unterschieden sich die Eisenbahnnetze qualitativ von den Straßennetzen der damaligen Zeit. Die Eisenbahnen waren, sobald die ersten Teilstücke verbunden wurden und sich ein Netz herausbildete, für den fließenden Verkehr gebaut; sie verbanden nicht, wie dies bis dahin bei den Landstraßen der Fall war, Stadt mit Stadt. Entsprechend lagen die neu erbauten Bahnhöfe zunächst meist am Rande der Städte. Sie wurden später durch die Ausdehnung der Städte wieder in diese »zurückgeholt«. Teilweise entstanden auch neue Bahnhöfe völlig außerhalb der Städte – der Hochgeschwindigkeitsbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe spielte in Westdeutschland in den 1980er-Jahren eine entsprechende problematische Vorreiterrolle. Für die Bahnhöfe in den beherrschenden Zentren wurde ein spezifisches Bahnhofsmodell der Entschleunigung entwickelt: Da in diesen Knotenbahnhöfen mehr als 90 Prozent der Fahrgäste ihre Reise beenden oder die Eisenbahnfahrt beginnen (und damit weniger als zehn Prozent die Stadt passieren), gibt es in Europa und in Nordamerika ein paar Hundert Kopfbahnhöfe. Die englischen beziehungsweise französischen Bezeichnungen für diese Art Bahnhof (terminus bzw. gare terminus) sind diesbezüglich treffender: Hier enden und beginnen die meisten Fahrten. Die neueren Versuche des Baus unterirdischer Durchgangsbahnhöfe als Ersatz der Kopfbahnhöfe (wie in den Fällen Stuttgart 21 und des Fernbahntunnels Frankfurt/M.), mit denen solche Kopfbahnhöfe ganz oder teilweise aufgelöst werden, ignorieren die geniale Grundidee dieser Bahnhöfe. Wolfgang Schivelbusch hat dem Thema in seinem wunderbaren Buch »Geschichte der Eisenbahnreise« ein erhellendes Kapitel gewidmet.53
Zwischen Europa und Nordamerika gab es einen wichtigen Unterschied im Eisenbahnbau. In Europa war im 19. Jahrhundert die Arbeitskraft preiswert, Kapital in großem Umfang vorhanden und der Boden in Privatbesitz, also teuer. In Nordamerika dagegen war Arbeit knapp und, soweit es weiße Arbeitskräfte betraf, relativ teuer. Kapital war zunächst knapp und teuer. Preiswert gestaltete sich jedoch der Grund und Boden, da er zu einem großen Teil durch die Gewalt des Faktischen niemand mehr gehörte – er war widerrechtlich angeeignet, geraubt: Die indigene Bevölkerung war in den vorausgegangenen drei Jahrhunderten getötet, vertrieben oder in Reservaten zusammengepfercht worden.
Der gegenüber einem hohen Material- und Arbeitskraftaufwand billigere Raubbau an der Natur führte in den USA zu einem gegenüber Europa stark vereinfachten und billigen Streckenbau. Die nordamerikanischen Eisenbahnstrecken wurden weniger nach dem Prinzip der geraden Linie als nach Art eines Flusslaufs – um Hindernisse herum anstatt hindurch – geführt. Schwellenmaterial war genügend vorhanden, Land kostete so gut wie nichts. Dies heißt allerdings auch, dass die Radien der Schienenkurven enger sind als bei den europäischen Eisenbahnen. Dies stellte eine technische Herausforderung dar, da die in Europa üblichen, mit zwei starren Achsen versehenen Wagen bei dieser Streckenführung aus den Gleisen gesprungen wären. Es kam zur Entwicklung des »Bogie«-Fahrgestells.54 So entwickelten sich zwei höchst unterschiedliche Eisenbahnwagen-Kulturen: In Nordamerika etablierte sich der Durchgangswagen, der faktisch eine Nachbildung der dort seit langem vorherrschenden Fluss- und Kanalfahrt mit Kabinenschiffen darstellte. In Europa war der Abteilwagen vorherrschend. Diese Waggonform reproduzierte die dort vorherrschende Transportform und stellte die auf die Schienen gehobene Kutsche dar. Der Abteilwagen blieb in Europa knapp eineinhalb Jahrhunderte lang die vorherrschende Eisenbahnwagen-Form.
Die privaten Bahnbaugesellschaften erhielten in den USA vom Staat enorme Vergünstigungen, vor allem in Form der »grants«, der Landschenkungen. Dabei vergab der Staat Land, das ihn nichts kostete und das andere reich machte. Dokumentiert ist, dass mittels der Landschenkungen im Zeitraum 1850 bis 1871 rund 210 Millionen Acres oder rund 850.000 Quadratkilometer Grund und Boden in das Eigentum der Eisenbahngesellschaften übergingen. Das entsprach rund 18 Prozent der Fläche des Staatsgebiets im Jahr 1871 und entspricht elf Prozent der Fläche der heutigen USA. Berücksichtigt man frühere Landschenkungen an erste Eisenbahngesellschaften, solche an die privaten Straßenbahngesellschaften und die Tatsache, dass die Kanalgesellschaften ebenfalls mit gewaltigen Landschenkungen bedacht worden waren, dann dürfte binnen weniger Jahrzehnte ein Fünftel bis ein Viertel des Bodens der USA in die Hände einiger weniger privater Kanal- und Bahngesellschaften gelangt sein. Diese Gesellschaften kontrollierten einen großen Teil des fruchtbaren Bodens bzw. des Bodens im Umkreis der Besiedelungen durch die weißen Einwanderer. Eisenbahnen in Privateigentum und Bodenspekulation in großem Maßstab gingen damit bald Hand in Hand – was den Niedergang der US-Eisenbahnen ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begünstigte.
Der auch heute noch vorherrschende rücksichtlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen in den USA hängt eng zusammen mit der Art und Weise, wie sich in Nordamerika die neuen Transportarten Binnenschifffahrt und vor allem Eisenbahnen durchsetzten. Es kommt zu einer spezifischen Ökonomie von »nature for capital«, des Einsatzes von Natur anstelle von Kapital. Ein Jahrhundert lang – in jenem Jahrhundert, in dem sich in dieser Region die neue Nation der Vereinigten Staaten von Amerika herausbildete – wurde die Ideologie genährt, der Preis für den Verbrauch natürlicher Ressourcen tendiere gegen Null und diese natürlichen Ressourcen seien unendlich ersetzbar. Der Begriff »Land der unbegrenzten Möglichkeiten« beinhaltet die Negation der Maxime der Nachhaltigkeit. Gleichzeitig erfolgte ausgerechnet im Eisenbahnland Nummer eins der Schienenwegebau aus den beschriebenen Gründen auf einem äußerst primitiven Niveau. Da auch Dampfenergie aus Kohle – die es in den USA ausreichend gab – preiswert war und da die auf Kohle und Dampf folgende Energieform der US-Eisenbahnen, Diesel-Kraftstoff, aufgrund großer eigener Ölvorkommen ebenfalls zu niedrigen Preisen genutzt werden konnte, gab es im 20. Jahrhundert kaum einen Stimulus für eine Optimierung des Eisenbahnsystems. Das im 19. Jahrhundert und bis 1910 aufgebaute Eisenbahnstreckennetz, das in seinen Grundzügen sich nicht wesentlich verändert hat, bestand zu einem erheblichen Teil aus viel zu langen – und damit energie- und zeitintensiven – Verbindungen mit gewaltigen Umweg-Verkehren. Zu einer Elektrifizierung kam es nur ausnahmsweise; es gab keinen Sprung in der Energieeffizienz. Damit aber befanden sich die US-amerikanischen Eisenbahnen gerade zu dem Zeitpunkt in einer schwachen Position, als es am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Herausforderung durch die aufkommende neue Transporttechnologie des Pkw- und Lkw-Verkehrs kam.
Die Gründe, die für einen zentralisierten Betrieb, für eine gesamtnationale, wenn nicht für eine supranationale Planung und Organisation des Eisenbahnverkehrs sprechen, sind zahlreich und zwingend. Da ist zunächst die Notwendigkeit eines einheitlichen (nationalen oder supranationalen) Fahrplans. Im Gegensatz zum Individualverkehr existiert beim Schienenverkehr eine kaum auflösbare Einheit zwischen Transportmittel und Verkehrsweg. Wird diese Einheit nicht beachtet, existiert kein Fahrplan für den Verkehr, sind Chaos und Unfälle nicht fern. Nun steht dieses Erfordernis im Schienenverkehr in einem offenen Widerspruch zu einem grundlegenden Prinzip des Kapitalismus: dem der Konkurrenz. Während im »normalen« Kapitalismus eine Produktvielfalt als sinnvoll und für »das Geschäft belebend« angesehen wird, erweist sich diese im Fall des Schienenverkehrs als äußerst unproduktiv. Die Natur der Sache erfordert beispielsweise eine Normierung der Spurbreiten, der Wagentypen und der Loktypen. Ein Schienenverkehr, der bei Existenz konkurrierender privater Unternehmen betrieben wird, tendierte damals (und auch heute!) zu nicht kompatiblen technischen Standards. Doch all diesen zwingenden, für die menschliche Ratio unabweisbaren Erfordernissen wurde nicht Rechnung getragen – jedenfalls ein halbes bis ein Dreivierteljahrhundert lang nicht. Die Eisenbahnen wurden entgegen den sachlichen Notwendigkeiten privat, durch verschiedene, miteinander in Konkurrenz stehende Unternehmen betrieben. Das schloss die Existenz mehrerer, miteinander konkurrierender Eisenbahngesellschaften in einem Land, sogar auf ein und derselben Strecke und zeitweise auf ein und demselben Schienenstrang mit ein.55 Es gab bis Ende des 19. Jahrhunderts auch keine verallgemeinerte Normierung und Standardisierung für die Gleise.56
Vor allem liegt auf der Hand, dass ein Eisenbahnverkehr, sobald er über eine einzelne kurze Verbindung, etwa Nürnberg–Fürth oder Liverpool–Manchester hinausgeht und zu einem nationalen Netz zusammenwächst, eine einheitliche Zeit notwendig macht. Und auch hier versagte die kapitalistisch organisierte Eisenbahn: Mehr als ein halbes Jahrhundert lang gelang eine solche Vereinheitlichung nicht. Hunderte höchst unterschiedliche Bahnen ratterten jahrzehntelang durch eine Landschaft mit dutzenden buntscheckigen Lokalzeiten. Mit dem Eisenbahnverkehr verlieren Landschaften, Orte, Städte und Länder ihr Jetzt in einem ganz konkreten Sinn. Wolfgang Schivelbusch: »Solange sie voneinander isoliert waren, hatten sie ihre individuelle Zeit. Londoner Zeit war vier Minuten früher als die Zeit in Reading, siebeneinhalb Minuten früher als in Circencester, 14 Minuten früher als in Bridgewater. Diese buntscheckige Zeit störte nicht, solange der Verkehr zwischen den Orten so langsam vor sich ging, dass die zeitliche Verschiebung darin gleichsam versickerte. Die zeitliche Verkürzung der Strecken durch die Eisenbahn konfrontiert nun nicht nur die Orte miteinander, sondern ebenso ihre verschiedenen Lokalzeiten. Unter diesen Umständen ist ein überregionaler Fahrplan unmöglich, da Anfahrts- und Abfahrtszeit jeweils nur für den Ort gelten, um dessen Lokalzeit es sich handelt. Für die nächste Station mit ihrer eigenen Zeit gilt diese Zeit schon nicht mehr. Ein geregelter Verkehr erfordert eine Vereinheitlichung der Zeit, ganz analog wie die technische Einheit von Schiene und Wagen den Individualverkehr desavouierte und das Transportmonopol erzwang.«57
Doch selbst die Herstellung einer Einheitszeit ließ sich erst ein halbes Jahrhundert nach Eintritt in das Eisenbahnzeitalter verwirklichen. In England führten in den 1840er-Jahren zunächst die Bahngesellschaften unabhängig voneinander eigene, für die gesamte Linie gültige Zeiten ein. Der Prozess zur Herstellung dieser Einheitszeit einer einzelnen Eisenbahngesellschaft wird für die Gesellschaft Grand Junction wie folgt beschrieben: »Jeden Morgen händigte ein Bote der Admiralität dem diensttuenden Beamten des Postzugs (Irish Mail) von Euston [Kopfbahnhof in London; W. W.] nach Holyhead [Hafenstadt auf der walisischen Insel Anglesey, Irland gegenüberliegend; W. W.] eine Uhr mit der genauen Zeit aus. In Holyhead wurde die Uhr den Beamten der Kingston-Fähre übergeben, die sie nach Dublin brachten. Auf dem Rückweg wurde die Uhr in Euston erneut dem Boten der Admiralität übergeben.«58
Die privaten Eisenbahngesellschaften hatten 1842 ein Railway Clearing House gebildet. Dabei handelte es sich um eine Art Verbindungsbüro, das elementare Fragen des Rechts, der Fahrplanabstimmung und technische Standards abstimmte. Diesem Clearing House gelang es, 1847 eine Einheitszeit auf Basis der Greenwich Mean Time – die bereits im Seeverkehr eine wichtige Rolle spielte – durchzusetzen. Doch auch diese Zeit blieb bloße Bahnzeit; sie hatte weitere drei Jahrzehnte nur Gültigkeit für den Eisenbahnverkehr. Im Alltag blieb es bei den unterschiedlichen Lokalzeiten, die nun jedoch in dem Maß, wie der Eisenbahnverkehr zur vorherrschenden Verkehrsform wurde, in immer kurioserem Widerspruch zur Eisenbahnzeit standen. 1880 wurde dann die Eisenbahnzeit zur allgemeinen Standardzeit in England.
1884 kam es in Washington zu einer internationalen Standardzeit-Konferenz, auf welcher die Welt in vier Zeitzonen eingeteilt wurde. In Deutschland wurden die unterschiedlichen lokalen Zeiten 1893 aufgehoben, und die Zonenzeit offiziell eingeführt.
In den Vereinigten Staaten, wo der Kapitalismus nochmals ungezügelter herrschte, konnten sich die privaten Eisenbahngesellschaften ein halbes Jahrhundert lang nicht auf eine Einheitszeit einigen. Bis 1883 gab es ebenso viele Eisenbahnzeiten wie es große private Bahngesellschaften gab. »An Bahnhöfen, die von verschiedenen Linien benutzt werden, finden sich Uhren mit verschiedenen Zeiten, z. B. in Buffalo drei, in Pittsburgh sechs.« Erst 1883 trat ein im Wesentlichen bis heute gültiges System von vier Zeitzonen in Kraft – erneut als reine Eisenbahnzeit, wenn auch meist auch die Alltagszeit bestimmend. Die allgemeine Standardzeit wurde in den USA erst 1918 gesetzlich vereinbart.
Die enorme Temposteigerung in großen Teilen des Verkehrs, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Eisenbahnen die Gesellschaften in Europa und Nordamerika erreichte, hatte eine ambivalente Wirkung: Einerseits wurden weit entfernte Räume zueinander gebracht. Andererseits wurden regionale Räume entwertet und regionale Strukturen vielfach zerstört. Der Verlust von Nähe oder die »Entwertung« von Nähe und Regionalem dürfte in Europa noch nicht als große Zerstörung wahrgenommen worden sein. Und viele großangelegte Umgestaltungen von Landschaften sind heute verwachsen, teilweise wurden sie auch von der Natur zurückerobert. Die Begriffe Umweltzerstörung und Klimaveränderung spielten noch keine Rolle. Und im Vergleich zu den Eingriffen in Natur und Umwelt, zu denen es im 20. Jahrhundert mit dem Autoverkehr und der Luftfahrt kam, waren der Bau von Eisenbahnen und die ergänzenden Strukturen möglicherweise weniger dramatisch. Wohlgemerkt: Der Flächenverbrauch im Fall des Straßenverkehrs liegt bei mindestens dem Vierfachen im Vergleich zu Schienentransporten.
Oft wurden damals in erster Linie die kulturellen Aspekte wahrgenommen. Der französische Romancier Victor Hugo hat die veränderten Wahrnehmungsformen bei hoher Eisenbahngeschwindigkeit literarisch wie folgt auf den Punkt gebracht:
Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, vielmehr rote oder weiße Streifen. Es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont; ab und zu taucht ein Schatten, eine Figur, ein Gespenst an der Tür auf und verschwindet wie ein Blitz, das ist der Zugschaffner.59
Interessanterweise sah der bereits kurz angeführte deutsche Dichter Heinrich Heine die Veränderung, die das Eisenbahnzeitalter mit sich brachte, in einem weit größeren Zusammenhang. Und er tat dies in einer ausführlichen Betrachtung, aus der wohl das folgende – wie wir sehen werden: aus dem Zusammenhang gerissene – Zitat allgemein bekannt ist: »Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.«
Dieses Zitat wird allerdings immer in der Form, wie hier wiedergegeben, ohne die eigentlich erforderlichen Auslassungszeichen zwischen den beiden Sätzen, angeführt. Und genau dies ist falsch, ja eigentlich eine Fälschung. Das vollständige Zitat macht einen hoch politischen und weiterhin aktuellen Text daraus. Im Original heißt die komplette Passage wie folgt:
Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch die letztere anständig zu töten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebenso viel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee.60
Bereits bei Einfügung des ausgelassenen Satzes wird klar, dass weit mehr hinter dieser Betrachtung steckt. Das gilt vor allem dann, wenn Heines Überlegungen in dem betreffenden Artikel als Ganze gewürdigt werden. Er stellt dabei zunächst die Niederungen der französischen Politik im Jahr 1843 dar, in denen »die Gegner des Zuckerrohrs« und die »Freunde der Runkelrübe« sich absurde Debatten liefern, so wie man in Deutschland »einst für die deutsche Eiche und den Eichelkaffee« geschwärmt habe. Tatsächlich befände man sich an einer Zeitenwende, in der »die Zeit rasch vorwärts (rollt), unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen«. Dies erkennt Heine vor dem Hintergrund der Inbetriebnahme der »beiden neuen Eisenbahnen, wovon eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt«. Und dann beschreibt Heine in wunderbaren Worten das Neue, Aufbrechende wie folgt:
Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem anderen den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, dass unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, dass neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muss unseren Vätern zumute gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebögen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providencielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt. [...] Es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte und unsere Generation darf sich rühmen, dabei gewesen zu sein. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden.
Wobei hier erst – im Folgenden in Heines Text – das bereits ausgeführte Zitat folgt.
Die Aussage »Hätten wir nur Geld genug, um auch die letztere« – also die Zeit – »anständig zu töten!« wird von Heine bereits in dem Sinne beantwortet, dass bereits viel Geld und wohl auch ausreichend Kapital vorhanden sei, dass also mit diesen Geldsummen und Projekten auch »die Zeit getötet« werden würde. Er geht in seinem Text auf die großen Aktiengesellschaften ein, die die Eisenbahn-Projekte aufgriffen, wobei »Bajazzo auf dem Balkon einer Marktbude das verehrungswürdige Publikum zum Hereintreten« einladen würde – gemeint: das gemeine Volk zur Zeichnung von Aktien und zur Spekulation einladen würde. Nachdem er darauf zu sprechen kommt, welchen Charakter die Vorstände und die Aufsichtsräte der neuen privaten Eisenbahngesellschaften hätten – es befänden sich bekannte »Admiräle und Marineoffiziere« darunter –, und dass sich in diesen neuen Unternehmungen »die herrschende Geldaristokratie« konzentrieren würde, verallgemeinert Heine wie folgt: »Jene Leute (in den Führungskreisen der neuen Eisenbahngesellschaften; WW) werden bald nicht nur das comité de surveillance (Aufsichtsrat; W. W.) der Eisenbahnsozietät, sondern auch das comité de surveillance (Überwachungskomitee; W. W.] unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft bilden, und sie werden es sein, die uns nach Toulon oder Brest schicken«61 – auf dass die Angesprochenen in den dortigen Häfen, im Fall der Pleite der Gesellschaften, »zum Rudern auf den Galeeren verurteilt« werden würden.
44 Tatsächlich fuhr bereits im Februar 1804 ein erster mit Dampfkraft betriebener Eisenbahnzug auf der Hüttenwerksbahn der Firma Merthyr Tydfil in Südwales. Erfinder und Erbauer war Richard Trevithick. Die Erprobung der Eisenbahn erfolgte öffentlich, beladen mit 10 Tonnen Eisen und achtzig Passagieren an Bord. Die Fahrt wurde in den Zeitungen begeistert gefeiert. Es gibt also kaum einen Grund, diese Rekordfahrt klein zu reden und Stevensons 22 Jahre später realisiertem Projekt den Vorzug zu geben. Ausführlich bei: W. Wolf, Eisenbahn und Autowahn, a. a. O., 1992, S. 24 und derselbe, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, a. a. O., 1992, S. 31ff.
45 Angaben nach: Ralf Roman Rossberg, Geschichte der Eisenbahn, Künzelsau 1977, S. 89 u. 151.
46 Er argumentierte dabei wie folgt: »Die deutschen Eisenbahnen haben bis zum Schluß des Jahres 1910 rund 17 Milliarden Mark gekostet. Rechnen wir davon auf Arbeitslohn nur drei Viertel, so ergäbe das einen Betrag von zwölf bis dreizehn Milliarden Mark. Nehmen wir einen Jahresverdienst von fünf- bis sechshundert Mark im Durchschnitt an (was sehr hoch gegriffen ist …), so würden wir auf eine Arbeitsleistung von rund 25 Millionen Arbeitsjahren oder etwa 7 ½ Milliarden Arbeitstagen kommen. Es hätte also eine Million Arbeitssklaven 25 Jahre lang, 100000 Sklaven hätten zwei und ein halbes Jahrhundert lang zu bauen gehabt. Auf die geschichtliche Zeit berechnet: …!« Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 240f.
47 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 242.
48 Gerald Sammet, Das Klassensystem der Beweglichkeit, in: Sonderbeilage der Nürnberger Nachrichten vom 10. 5. 1985.
49 Friedrich List im Staatslexikon von Rotteck Welcker, erschienen 1837. Wiedergegeben in der Einleitung zu Lists maßgeblicher Schrift: Über ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-System, Leipzig o. J., S. 10. (Erstveröffentlichung 1833). Die DDR-Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« Dresden hatte sich der Wahrung und Weiterentwicklung des Erbes dieses Theoretikers und Praktikers des Schienenverkehrs verschrieben. Der Autor dieses Buches erhielt im Dezember 1989 von dieser Hochschule die (wohl letzte) »Friedrich-List-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik«.
50 Der Transportpreis pro Tonnenkilometer betrug 1840 16,9 Pfennig; 1900 waren es 3,7 und 1913 3,6 Pfennig. Wird die Inflation berücksichtigt, dann ist die Reduktion nochmals größer. Ausführlich: W. Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima, a. a. O., S. 48.
51 In seiner Theorie von der Bodenrente ging der deutsche Nationalökonom J. H. von Thünen (1783−1850) davon aus, dass der Standort der landwirtschaftlichen Produktion entscheidend für die Intensität ist, mit welcher der Boden bearbeitet wird. Je näher eine bestimmte landwirtschaftliche Produktion am Absatzmarkt (Konsumzentrum) ist, desto intensiver wird der Boden bearbeitet, je weiter entfernt davon sie sich befindet, desto niedriger die Bodenkultur. Als Ursache für die so entstehenden »Thünenschen Kreise« werden die hohen Transportkosten (vor dem Aufkommen der Eisenbahnen) gesehen, die ab einer gewissen Entfernung vom Absatzmarkt eine (arbeits- und kapital-)intensive Produktion nicht rentabel erscheinen lassen.
52 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft …, a. a. O., S. 245.
53 »Eintritt in die Stadt: der Bahnhof«, Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1977, a. a. O., S. 152ff.
54 Das Bogie-Fahrgestell, das nach dem Ersten Weltkrieg auch in Europa breitere Anwendung fand, besteht aus zwei starren Achsen, die auf einem Fahrgestell mit sehr engem Abstand zusammengefügt sind, während das Fahrgestell selbst mittels eines Drehzapfens mit dem Wagenchassis verbunden ist. Ein Eisenbahnwaggon verfügt an beiden Enden über je ein Bogie-Fahrgestell, also über vier Achsen. Indem diese Bogie-Fahrgestelle sich unabhängig vom Wagenchassis bewegen, können sie sich dem Kurvenverlauf anpassen; die Waggons können enge Radien beschreiben bzw. lange Waggons können enge Kurven durchlaufen.
55 Bis in die 1860er-Jahre hinein, noch vier Jahrzehnte nach Aufnahme des Linienverkehrs zwischen Stockton und Darlington, existierte zwischen London und dem englischen Norden keine einheitliche Linie. Stattdessen gab es mehrere Parallelbahnen, die sich heftige Konkurrenzkämpfe lieferten. Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt in England über 300 private Eisenbahngesellschaften aktiv.
56 Die sogenannte Normalspur mit 1435 Millimetern, die heute in Mitteleuropa dominiert, konnte zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine klare Vormachtstellung erobern. Allerdings gab es selbst in England einen langen und teuren Prozess, bis sich diese Standardspurweite durchsetzte. Auch heute noch stehen in Europa der Normalspur im mittleren Europa die Breitspurbahnen im Westen (in Spanien und Portugal) und im Osten (in Russland und in den aus der UdSSR hervorgegangenen übrigen Staaten) gegenüber. In Nordamerika existierten bis 1865 sechs unterschiedliche Spurbreiten; erst der amerikanische Bürgerkrieg war wesentlicher Promoter zur Durchsetzung der Normalspur.
57 Schivelbusch, a. a. O., S. 44. Das weltweit für die Einheitszeit zuständige Observatorium musste 1954 wegen der Luftverschmutzung seinen Sitz von Greenwich bei London nach Schloß Herstmonceaux ins südenglische Sussex verlegen, behielt jedoch den Namen Royal Greenwich Observatory bei. Ab 1966 sorgten sechs Atomuhren für exaktere Zeiten. Im November 1985 wäre eine grundlegende Erneuerung der Anlagen erforderlich gewesen. Das war der britischen Regierung zu teuer. Seither wird die Greenwich Mean Time (GMT) vom Internationalen Büro für Maße und Gewichte in Paris gemessen.
58 P. S. Bagwell, The Transport Revolution from 1770, London 1974, S. 124, zitiert bei Schivelbusch, a. a. O., S. 44.
59 Zitiert bei Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise – Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.–Berlin–Wien 1979, S. 54. Brief von V. Hugo vom 22. August 1837 nach: Baroli, Le train dans la litérature francaise, Paris 1964, S. 58.
60 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Band V, Lutetia, S. 449. Hervorgehoben von mir.
61 A. a. O., S. 450.