Читать книгу Tempowahn - Winfried Wolf - Страница 9

Kapitel 3: Kanäle und Eisenbahnen als Transportrevolutionen der Industrialisierung

Оглавление

Ein Drahtseil führte von der Vormaststange zu der hundert Meter voraus auf dem Treidelpfad einher stampfenden Maultierkette, und mit gründlichem Schlagen und Fluchen gelang es dem Trupp der Treiber, drei bis vier Kilometer in der Stunde […] aus den Maultieren herauszuholen. Der Neckar ist von jeher als Schifffahrtsweg benutzt worden […] aber nun, da dieser Dampfschlepper mit einer kleinen Besatzung und ein paar Scheffeln Kohle neun Kähne in einer Stunde weiter den Fluss hinaufziehen kann als dreißig Männer und dreißig Maultiere in zwei, glaubt man allgemein, dass die altmodische Treidelindustrie auf dem Sterbebett liegt.

Mark Twain, Bummel durch Europa – Den Fluß hinunter – Heidelberg 187826

Am Morgen des 11. Juni 1859 verabschiedete sich Joanna Franks in Runcorn Terrace von Mrs. Russell. Sie wollte auf dem Wasserweg von Liverpool nach Preston Brook fahren, dem nördlichen Endpunkt des Trent-and-Mersey-Canal, der acht Jahre zuvor eröffnet worden war. Von hier aus nahm sie eines der Express- oder »fliegenden Boote« von Pickford & Co. Der Fahrpreis von 16 Shilling und 11 Pennies war erheblich billiger als der Preis für eine Fahrkarte Liverpool-London mit der Eisenbahn.

Colin Dexter, Mord am Oxford-Kanal, 198927

Das Rad wurde im vierten, möglicherweise sogar im fünften Jahrtausend vor Christus erfunden. Die Domestizierung von Wildpferden zu Hauspferden fand ungefähr zum gleichen Zeitpunkt statt. Das erste nachweisbare Schiff wird auf 6500 vor Christus datiert; erste Segelschiffe gab es spätestens 1000 vor Christus. Seither und bis ins 17. Jahrhundert gab es keine grundlegenden Verbesserungen der Verkehrstechniken mehr, auch wenn es zu bedeutenden Verfeinerungen und Optimierungen kam. Damit bewegten sich die Menschen über fünf bis sechs Jahrtausende hinweg mit vergleichbar geringen Geschwindigkeiten, gewissermaßen mit Bodenhaftung: zu Fuß, mit einem Ochsenkarren, zu Pferde, mit einem von einem Pferd gezogenen Streitwagen, mit Schiffen mit Ruderern beziehungsweise mit Schiffen mit Segeln. Verwandte Transportarten wie der Marsch mit Elefanten über die Alpen im Zweiten Punischen Krieg im Jahr 218 vor Christus nicht zu vergessen.

Der Zeitaufwand spielte bei diesen Formen von Mobilität eine enorme Rolle; der Widerstand des Raums, der örtlichen Gegebenheiten mit den Tälern, Hügeln, Bergen, Flüssen, Furten, Brücken, ergänzt um die Widrigkeiten der Jahreszeiten und des Wetters, waren bestimmend. Das änderte sich mit der Industrialisierung. Im Rahmen der Industriellen Revolution gab es zwei Transportrevolutionen – diejenige des Kanalbaus und diejenige der Eisenbahnen. Der Bau von Kanälen mit seinem Schwerpunkt im 17. Jahrhundert war der Frühzeit der Industrialisierung angemessen. Relativiert wurde dabei bereits die Erdverbundenheit; das Tempo freilich blieb angemessen und entsprach dort, wo getreidelt wurde, einem gemäßigten Schritt. Das erinnert an die enge Verbindung, die damals noch zwischen Manufaktur und früher Industrie einerseits und Landwirtschaft und Landarbeit andererseits bestand. Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich das Geschehen mit den Eisenbahnen, mit denen das Tempo im Verkehr sprunghaft gesteigert wurde. Heinrich Heine stellte fest, dass mit den Eisenbahnen »die Elementarbegriffe von Zeit und Raum […] schwankend geworden (sind)«.28 Das bezog sich gewissermaßen auf die »gefühlte Raum- und Zeitlosigkeit«. In Wirklichkeit bleiben Raum und Zeit feste Bezugsgrößen. Allerdings sind die neuen, schnellen Gangarten mit einer Bewusstlosigkeit hinsichtlich der Zeit und mit einer Rücksichtslosigkeit gegenüber Natur und Klima verbunden.

Boote und Schiffe auf Flüssen – das gab es seit Jahrtausenden. Optimierungen dieser Transportart in Form von Stauungen und kurzen Durchstichen zwischen Seen und Flüssen ebenfalls. Ägyptische Pharaonen haben vermutlich schon im zweiten Jahrtausend vor Christus eine Verbindung vom Nil zum Roten Meer graben lassen. Gesichert scheint ein solcher Kanalbau um die Zeit 600 vor Christus zu sein. Doch ein System kommunizierender Kanäle und schiffbarer Flüsse entstand in Europa und im Mittelmeerraum erst im späten Mittelalter und am Beginn der Industrialisierung. Dabei hat es in anderen Kulturen und auf anderen Kontinenten ein vergleichbares Kanalzeitalter gegeben – so in Thailand, wo im 16. Jahrhundert ein mehr als 2000 Kilometer langes Kanalnetz (als Klong oder Khlong bezeichnet) geschaffen wurde.

Beim europäischen Kanalbau für eine ausgedehnte Binnenschifffahrt handelt es sich um die größten Investitionen, die bis zu diesem Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte in dieser Region getätigt wurden. Es waren – genau wie ein halbes Jahrhundert später bei den Eisenbahnen – säkulare Investitionen, Investitionen mit einer Beständigkeit von hunderten Jahren. Sie veränderten die Landschaft für immer. Die Zehntausenden Menschen, die sie schufen, waren dabei oft kaserniert; vielfach waren es Arbeitskräfte aus dem Ausland, in England vor allem solche aus Irland.

Die Führung der Kanäle erfolgte weitgehend unabhängig von den natürlichen Gegebenheiten, was durch Schleusen, Wassertunnel und große Aquädukte ermöglicht wurde. Die Kanäle brachten, zusammen mit dem weltweiten Seehandel, eine erste Revolutionierung des Verkehrssektors, eine Reduktion der Transportzeiten und damit verbunden eine radikale Reduktion der Transportkosten. Die Zeit, die für den Transport zwischen den großen Wirtschaftszentren aufzubringen war, wurde einerseits durch die gleichmäßige, weil nunmehr fast durchgängig ebenerdige Gangart der Pferde und andererseits durch die Verkürzung der Wegelängen deutlich reduziert.

Interessanterweise wird der Kanalbau als Teil der Industriellen Revolution in den Geschichtsbüchern nicht oder nur am Rande erwähnt. Auch Karl Marx und Friedrich Engels streifen das Thema nur am Rande. Über die Gründe für diese Vernachlässigung mag man spekulieren; zweifellos spielte eine Rolle, dass die späteren Eisenbahnen spektakulärere Wirkung zeigten. Dass die Investitionen in den Eisenbahnbau gemessen an der jeweiligen Wirtschaftsleistung größere als die im Kanalbau waren, darf bezweifelt werden, wenn wir die folgenden Angaben berücksichtigen. Der Kanalbau und die Binnenschifffahrt prägten ein Jahrhundert Wirtschaftsgeschichte von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. In Großbritannien entsprach dies weitgehend dem Zeitalter der Industriellen Revolution. In dem Mutterland der Industriellen Revolution traten die Eisenbahnen erst ein Dreivierteljahrhundert nach Beginn der Industriellen Revolution auf den Plan, und sie waren erst hundert Jahre nach den Anfängen der Industriellen Revolution gut genug ausgebaut, um die Kanäle und die Binnenschifffahrt in ihrer Bedeutung überflügeln zu können. Nicht die Eisenbahnen, sondern die Wasserstraßen bildeten in England, Wales und Schottland – und teilweise auch in Irland – die Adern der Industriellen Revolution. Nicht mit den Eisenbahnen gab es das erste groß angelegte »Spekulationsgelüst« und die ersten Aktiengesellschaften, wie Karl Marx schrieb. Sie existierten bereits beim Kanalbau.29

Mit den Kanälen blühte in England und in einer Reihe anderer Länder das Bankgeschäft auf, und in diesem Rahmen trieb die Spekulation ihre ersten fantastischen Blüten. Eine Canal-Mania brach aus. Selbst nach dem Aufkommen der Eisenbahnen blieb die Binnenschifffahrt in England mehr als 100 Jahre, bis Anfang des 20. Jahrhunderts, gegenüber dem Schienenverkehr auf wichtigen Verbindungen konkurrenzfähig. Der wichtigste und profitträchtigste Kanal in England war der Leeds and Liverpool Canal: 116 Meilen lang, exakt 877.616 Pfund Sterling teuer, im Wesentlichen zwischen 1770 und 1790 erbaut. Es handelte sich um eine Bonanza: Bei der Beantragung der Konzession gingen die Konzessionäre und die Regierung von einer erwarteten jährlichen Leistung von 300.000 Tonnenmeilen30 aus. Bei Fertigstellung wurde bereits die achtfache Tonnage (2,5 Millionen Tonnenmeilen) erbracht. Die Company, die diesen Kanal betrieb, eine Aktiengesellschaft, erbrachte folgenden Rekord: »… from 1786−1919 it never failed to make profit«, im beschriebenen Zeitraum von über 130 Jahren warf sie Jahr für Jahr Dividenden ab, und zwar meist 15 bis 20 Prozent.31

Auf dem Höhepunkt der Canal-Mania, Mitte des 19. Jahrhunderts, ging in England der Satz um: Es gibt keine Stadt von Bedeutung, die mehr als zwölf Meilen von dem nächsten Schifffahrtsweg entfernt liegt. 120 Jahre später sollte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt eine vergleichbare Zielsetzung verkünden – für den Anschluss der westdeutschen Wohnbevölkerung an die nächste Autobahnauffahrt.

Eine »Allgemeine Geschichte der Technik« fasst die sprunghafte Entwicklung des britischen Kanalbaus wie folgt zusammen: »Bis zum Bau der ersten Kanäle betrug die Länge der schiffbaren Wasserwege [und das waren damals vor allem natürliche Wasserwege, also Flüsse, Seen und der Strom Themse; W. W.] in Großbritannien etwa 1500 Kilometer. 100 Jahre später, im Jahr 1850, gab es – noch ohne Irland – 7000 Kilometer Binnenwasserstraßen.«32 Dies entsprach der Länge, die das westdeutsche Autobahnnetz 140 Jahre später, im Jahr 1990, erreichte. In Großbritannien gab es zwei Durchquerungen der gesamten Insel: eine erste, 1777 eröffnete Wasserstraße, den Grand Trunk Canal, der, indem er die Flüsse Trent und Mersey miteinander verband, eine Wasserstraße durch ganz Mittelengland von der Irischen See bis zur Nordsee eröffnete; und eine zweite mitten durch Schottland, welche heute noch in den Sommerloch-Geschichten über »Nessie« Erwähnung findet: der 1822 eröffnete Caledonian Canal, der Loch Ness passiert.

Bei dem britischen Kanalnetz handelt es sich um keinen Sonderfall. Große und technisch hoch entwickelte Kanalnetze, deren Ursprünge teilweise deutlich früher lagen, die jedoch alle am Beginn der Industriellen Revolution massiv ausgebaut und mit moderner Technik versehen wurden, gab es in vielen anderen Ländern, so auf dem Gebiet der späteren Vereinigten Staaten von Amerika, in Frankreich, Italien, Preußen bzw. Deutschland oder in der Habsburgermonarchie bzw. in Österreich.33

Das Kanalzeitalter wird in der Wirtschaftsgeschichte oft auch deshalb vergessen, weil es, anders als die Epoche der Eisenbahnen, in seinen ersten Jahrzehnten von traditionellen Techniken, wie es sie seit dem Mittelalter gab, geprägt war. Die Transportkähne wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts von Pferden, die auf den Treidelpfaden neben den Kanälen gingen, gezogen. Trotz dieser jahrhundertealten Technik gab es mit dem Kanalbau und mit dem Ausbau der Flüsse eine enorme Steigerung in der Produktivkraft der Transportorganisation: Die Nutzlast, die zu dieser Zeit von einem Pferd auf der Straße transportiert werden konnte, betrug zwischen 600 und 700 Kilogramm. Mit einem Kahn, lediglich von einem Pferd gezogen, ließen sich Lasten von bis zu 50 Tonnen Gewicht befördern.

Mitten im Kanalzeitalter kam es mit der Entwicklung der Dampfmaschine zur bahnbrechenden technischen Revolution. Diese wurde im Transportsektor in größerem Umfang und zu gewerblichen Zwecken zuerst auf Wasserwegen und nicht wie in der Regel berichtet zuerst bei den Eisenbahnen eingesetzt. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte man in Frankreich erste Prototypen von Dampfschiffen. Sie kamen dann in den USA und dort in der Binnenschifffahrt in größerem Umfang zur Anwendung. 1807 wurde in den USA das von dem Franzosen Robert Fulton konstruierte Dampfschiff Claremont in Betrieb genommen. Mitte des 19. Jahrhunderts verkehrten allein auf dem Mississippi und seinen Nebenflüssen bereits eintausend Dampfschiffe – das waren mehr als es zum gleichen Zeitpunkt Lokomotiven im Land gab.

Der Bau von Kanälen brachte bereits, ähnlich wie später der Eisenbahnbau, eine gewaltige Veränderung der Landschaft und der Art und Weise ihrer Besiedelung mit sich. Fabriken, die früher auf und an den Berghängen standen (um Wind- und Wasserenergie auszunutzen), wurden mit dem Aufkommen der Binnenschifffahrt an die Wasserstraßen verlegt; Transportweg waren nun die Kanäle, die wiederum ideal waren, um die entscheidenden Ressourcen Kohle und Erze zu befördern und die Fabriken mit Dampfenergie zu versorgen. Die Arbeitersiedlungen entstanden um die Fabriken herum, woraus wiederum die großen Städte der Industriellen Revolution hervorgingen: Manchester, Liverpool, Birmingham, Leeds. »Jetzt zogen es die Reichen vor, auf die Hügel zu ziehen, oberhalb der Arbeiterklasse-Gegenden mit ihrem Dauer-Smog«, so eine Beschreibung des Kanalzeitalters von Ron Freethy und Catherine Woods.34 Friedrich Engels hat dies am Beispiel der Stadt Manchester konkretisiert, wo »die östliche und nordöstliche Seite (der Stadt) die einzige ist, an welche die Bourgeoisie nicht angebaut hat – aus dem Grunde, weil der hier zehn oder elf Monate im Jahr herrschende West- und Südwestwind den Rauch aller Fabriken – und der ist nicht gering – stets nach dieser Seite hinübertreibt. Den können die Arbeiter allein einatmen.«35

Die Arbeit der Bootsleute im 18. und 19. Jahrhundert war hart. Pferde waren vielfach wertvoller als Arbeitskräfte. Noch 1903, so zitiert eine andere Studie eine zeitgenössische amtliche Schrift, wurden ein »Bootscaptain, sein Bruder und deren Gehilfe von Boot Nr. 186 zu einem Monat harter Arbeit verurteilt, weil sie das Pferd Nr. 111 der Company schlecht behandelten und überbelasteten«.36 Spezifische Jobs der Binnenschifffahrt wie das »legging« sind charakteristisch für die unmenschlichen Beschäftigungsformen jener Zeit: In vielen eng gebauten Tunnels konnten die Boote nicht mehr mit Pferdekraft gezogen werden; die Pferde führte man während der Tunnelpassage um oder über den Berg. Im Tunnel selbst wurden die schweren Boote durch Arbeiter, die ausschließlich diese kurzstreckenbezogene Tunneltransportarbeit verrichteten, wie folgt vorwärtsbewegt: Zwei Arbeiter legten sich am Bug auf das Bootsdeck, mit den Schultern in der Bootsmitte gegeneinander, wobei sie den Kahn mit den Beinen an den beiden Tunnelaußenwänden vorwärts stemmten.

Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich mit der Verbreitung der Eisenbahnen eine harte und volkswirtschaftlich oftmals absurde Konkurrenz zwischen den beiden Verkehrsträgern Wasser und Schiene. In Großbritannien bauten die Railway Companies ihre Strecken bevorzugt parallel zu den Kanälen. In den Vereinigten Staaten betrieben die Eisenbahngesellschaften eine gezielte Politik, um die Binnenschifffahrt und die Kanäle im Wortsinne auszutrocknen; es war ausgerechnet Henry Ford der eine entsprechende Klage führte: »Mit das erste, was die Eisenbahnen taten, war, alle übrigen Transportmittel zu erdrosseln. […] Die Eisenbahnen kauften die Kanalgesellschaften auf und ließen die Kanäle versanden und mit Unkraut und Abfällen verstopfen.«37 Die konkrete Form des Eisenbahnbaus bedeutete, dass damit gewaltige Doppelinvestitionen im Transportsektor und eine groß angelegte Entwertung von früher verausgabter Arbeit verbunden waren. Preiskriege dominierten das Business – und führten zu massiven Lohnsenkungen und zu einer ständigen Arbeitsintensivierung für die in der Binnenschifffahrt und bei den Eisenbahnen Beschäftigten. Dabei wurde das vordergründig einleuchtende Argument, die Eisenbahn garantiere gegenüber der Binnenschifffahrt einen schnelleren Transport, in der Praxis oft relativiert. Indem die großen industriellen Ballungszentren und die Fabriken, Kohlegruben usw. direkt an die Kanäle grenzten und oft erst errichtet worden waren bzw. die Kanäle zu diesen geleitet wurden, indem die Wasserstraßen vielfach sogar in die Kohle- und Erzgruben hineinführten, war ein Haus-zu-Haus-Transport garantiert. Auf der anderen Seite konnten die Eisenbahnen vielfach nur einen gebrochenen Verkehr – mit Umladen von Schiene auf Schiffe oder Schiene auf Chausseen – realisieren. Darüber hinaus konterten die Kanalgesellschaften die höheren Geschwindigkeiten der Eisenbahnen, indem sie »flying boats« einsetzten, Boote, die Tag und Nacht ohne Unterbrechung fuhren und denen an Schleusen und Schwingbrücken der Vorrang vor anderen Booten zustand. Diese flying boats wiederum dienten auch dem – eher preiswerten, mit der Eisenbahn konkurrierenden – Personenverkehr.

Das Kanalzeitalter mit der Binnenschiffsfahrt hat einen gewaltigen Beitrag zur Revolutionierung des Transportsektors geleistet. Bis dahin hatten sich nach Karl Marx die Transportmittel als »unerträgliche Hemmschuhe für die große Industrie mit ihrer fieberhaften Geschwindigkeit der Produktion […], ihrem beständigen Werfen von Kapital- und Arbeitermassen aus einer Produktionssphäre in die andere und ihren neugeschaffenen weltmarktlichen Zusammenhängen« erwiesen.38 In Großbritannien waren vor dem Kanalzeitalter die Wege so schlecht, dass man beim Befahren mit schwer beladenen Wagen vielfach Achsbrüche riskierte. In Österreich lagen Ende des 18. Jahrhunderts die Transportkosten vieler Waren so hoch wie die Herstellungspreise der Waren selbst.39

Voraussetzung für die enorme Steigerung der Transporte und für die Preisrevolution war zunächst eine Standardisierung, wie sie für die spätere moderne Industrie charakteristisch wurde. Bereits früh kam es im Mutterland der Industriellen Revolution zu einer Normierung der Transportgefäße und der Transportwege. James Brindley hatte diese bei der Projektierung des 1777 fertiggestellten Trent and Mersey Canals, des ersten »Narrow Canal«, durchgesetzt. Waren bisher die Kanäle für verschiedene, bereits existente Bootsgrößen ausgelegt, so wurden nun maximale Abmessungen für einen Standard-Bootstyp vorgegeben, was gleichzeitig entscheidend für die Größe der zu bauenden Schleusenkammern war. Die Maximalmaße für die ab diesem Zeitpunkt verwendeten »Narrow Boats« waren 72 Fuß (ca. 22 Meter) Länge, dabei aber nur 7 Fuß (etwa 2,2 Meter) breit, womit sie eine Ladung von 20 bis 25 Tonnen, bewegt von einem einzelnen Treidelpferd, transportieren konnten.40 Diese Maße besitzen auch heute noch einige Tausend auf den britischen Kanälen verkehrende narrow boats im Tourismus-Geschäft, etwa auf dem Llangollan-Kanal, der wohl am meisten beeindruckenden Kanalstrecke: Sie verbindet England mit Wales und führt über das Chirk-Aquädukt und dann über das von Thomas Telford 1805 eröffnete 304 Meter lange und 40 Meter hohe Pontcysyllte Aquädukt.41

In Preußen kam es ein halbes Jahrhundert später ebenfalls zu einer entsprechenden Normierung aller Schleusen zwischen Elbe und Oder. Hier waren die Maximalmaße bereits großzügiger bemessen, was sich für die spätere Entwicklung des Transports auf den deutschen Binnenwasserstraßen als vorteilhaft erweisen sollte.42 Diese Standardisierungen folgten der gleichen Logik wie die ein halbes Jahrhundert später erfolgte Festlegung der Eisenbahnspurweite durch Robert Stephenson auf umgerechnet 1435 Millimeter oder wie die 200 Jahre später erfolgende Standardisierung der Wechselbehälter (Container) mit der Einführung des Standardcontainer-Maßes TEU (Twenty Foot Equivalent Unit).

Das volkswirtschaftlich entscheidende Ergebnis der mit dem Kanalzeitalter verbundenen Transportrevolution waren eine deutliche Verkürzung der Transportwege, eine Reduzierung der Transportzeiten, eine radikale Senkung der Transportpreise und, als logische Folge von diesen Veränderungen, ein immenser Anstieg des stofflichen Austausches bzw. des Handels.

Die Transportkosten sanken auf ein Drittel bis ein Sechstel des bisherigen Niveaus beim Transport mit Pferdekarren auf Wegen und Chausseen. Der Preis der Waren reduzierte sich dabei enorm. In einem Bericht heißt es beispielsweise: »Als der Kanal Manchester 1761 erreicht hatte, reduzierte sich der Preis für Kohle in der Stadt auf die Hälfte.«43 Der stoffliche Warenaustausch steigerte sich in der Folge enorm; er dürfte sich mit Beginn des Kanalzeitalters und bis zu seinem Höhepunkt, was zugleich der Beginn des Eisenbahnzeitalters war, mehr als verdreifacht haben.

26 Hier zitiert nach: Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S. 17.

27 Colin Dexter, Mord am Oxford-Kanal, Hamburg 1990, S. 41. Original: The Wench is Dead, London 1989.

28 Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, Band 5, München und Wien 1984, S. 449.

29 »Hier (beim Bau von Eisenbahnen; W. W.) fand das Spekulationsgelüst der Fabrikanten und Kaufleute zuerst Befriedigung.« Karl Marx, MEW 25, S. 421.

30 Die Tonnage (das Gewicht der transportierten Waren) multipliziert mit der zurückgelegten Entfernung. Früher in Meilen, später in Kilometern gemessen. Daher werden inzwischen entsprechende Angaben in »Tonnenkilometer – tkm« angegeben.

31 Mike Clark, Leeds and Liverpool Canal. A History and Guide, Aston 1990 (Carnegie Press), S. 139.

32 Allgemeine Geschichte der Technik von den Anfängen bis 1870, herausgegeben von Semjon W. Schuchardin, Nikolai K. Laman, Alexander S. Fjodorow, Leipzig 1981, S. 261.

33 Das französische Kanalnetz erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Gesamtlänge von gut 5000 Kilometern. Das US-amerikanische Kanalnetz hatte auf seinem Höhepunkt eine Länge von 8000 Kilometern. Im Deutschen Reich umfasste das Netz von Kanälen und schiffbaren Flüssen 1880 sogar eine Länge von 12.400 Kilometern. In der Habsburgermonarchie betrug die gesamte Länge der Wasserstraßen (einschließlich der Donau) im Jahr 1880 rund 3900 Kilometer. Ausführlich bei: Winfried Wolf, Eisenbahn und Autowahn, Hamburg 1992, S. 95ff.

34 Ron Freethy und Catherine Woods, Discovering the Leeds to Liverpool Canal, ohne Ort und Jahr (printed by Tamley-Reed-Limited), S. 9.

35 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW 2, 291.

36 Mike Clark, Leeds and Liverpool Canal. A History and Guide, Aston 1990 (Carnegie Press), S. 31.

37 Henry Ford, Mein Leben, München 192, S. 182 (Originalausgabe »My Life and my Work, New York 1922).

38 Karl Marx, Das Kapital Band 1, MEW 23, S. 405.

39 Allgemeine Geschichte der Technik …, a. a. O., S. 256.

40 Vgl. Sven Pieper, Die Ära der Kanäle, in: Bauwelt 14 vom 12. April 1991 (82. Jahrgang), S. 724. Die heute touristisch befahrbaren britischen Kanäle weisen weiterhin überwiegend diese relativ kleinen Maße auf, was ihnen ihren besonderen Charme verleiht.

41 Gemeinsam mit Freunden befuhr ich in den 1980er- und 1990er-Jahren ein Dutzend dieser britischen Kanäle mit narrow boats (und später auch mit Penichette-Booten ihre Pendants in Frankreich). Diese Erfahrungen veranlassten mich dazu, in der 1992 erschienenen Neufassung des Buchs »Eisenbahn und Autowahn« ein neues Kapitel mit der Überschrift »Canal-Mania. Oder: Marxens Irrtum« einzufügen.

42 Nach: Hans-Joachim Uhlemann, Berlin und die märkischen Wasserstraßen, Berlin 1987, S. 41.

43 Michael E. Ware, Canals and Waterways, Aylesbury 1987, S. 6. Bei Mike Clark heißt es, dass die Kosten des Transportguts Lehm sich nach Fertigstellung eines Kanals um ein Drittel reduziert hätten (M. Clark, Leeds and Liverpool Canal, a. a. O., S. 40). Immanuel Wallerstein beziffert die Reduktion der Transportkosten durch die Kanäle auf »50 bis 75 %«. Nach: I. Wallerstein, die große Expansion – Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, Wien 2004, S. 97.

Tempowahn

Подняться наверх