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Das ist vierzig Jahre her

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Jana Wilhelm hört es draußen klappern. Der Briefträger hat die Post in den Kasten geworfen. Sie wird gleich nachsehen. Wenn was im Briefkasten liegt, ist es meistens nur Werbung, aber sie sieht sich trotzdem immer alles durch. Sie braucht neue Bezüge für ihre Gartenstühle, vielleicht ist etwas von Aldi dabei. Kaum dass der letzte Schnee weg ist, werden die Gartenfreunde von den Discountern mit Angeboten geradezu überschüttet. Eine neue Heckenschere könnte sie auch gebrauchen. „Oma, deine Schere ist ja ganz stumpf“ hat die Enkelin gesagt, als Janas Tochter Gabi mit der kleinen Christiane letzte Woche zu Besuch kam.

Im Briefkasten steckt ein ganzes Bündel von Prospekten, unter ihnen auch ein Brief ohne Absender. „Auch nur Werbung“, denkt Frau Wilhelm und will den Brief schon in die Papiertonne werfen, aber dann nimmt sie ihn doch mit in die Küche. Sie sieht, dass ihre Anschrift mit der Hand geschrieben wurde, aber von ihrer Freundin Gerlinde kann der Brief nicht sein, ihre Handschrift kennt sie.

Mit einem Messer schlitzt sie den Umschlag auf. Das ist besser als Aufreißen, sie weiß ja nicht, was drinnen ist.

Es ist nur ein Bogen Papier und oben steht „Hallo Jana“. Unterschrieben hat mit den „besten Grüßen“ ein gewisser Frieder. Sie kannte einen Frieder, das ist vielleicht vierzig Jahre her.

Ja, vor mehr als vierzig Jahren war sie Gruppenleiterin in einem Kinderferienlager an der Ostsee und Frieder hatte damals in Glowe, so hieß der Ort, ebenfalls ein Praktikum abgelegt. Auch er wollte Lehrer werden und nach dem ersten Studiensemester war es angezeigt, mit Kindern praktisch zu arbeiten, am besten in einem Ferienlager.

Jana sieht, wie ihre Hände zitterten. Sie legt den Brief wieder auf den Tisch, nimmt sich ein Glas aus dem Küchenschrank und lässt frisches Leitungswasser ins Glas fließen.

Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört, seit damals. Sie wollte ihm schreiben, ihm alles erklären, aber es war doch nichts zu erklären, oder? Hätte sie schreiben sollen, dass sie sein Handeln verstehen könne?

Ja, heute denkt man anders darüber, da weiß man ja alles besser. Sie geht ans Fenster und ihr Blick geht über die Felder bis hin zum kleinen Kiefernwäldchen auf dem Hügel.

Das Häuschen in Strelow hatten sie sich kurz nach der Wende gekauft. Heinrich war ein Jahr vorher noch zum Oberst befördert worden und sie war Schulleiterin der Clara-Zetkin-Schule in Königswusterhausen. Nach der Wende hatten sie ihr den Postens weggenommen, aber sie war Lehrerin geblieben, man konnte ja nicht alle SED-Mitglieder unter den Lehrern auf einmal entlassen. Seit fünf Jahren war sie pensioniert und seit drei Jahren verwitwet.

Heinrich war bei der Gartenarbeit eines Tages einfach umgefallen. Als sie ihn zum Essen rufen wollte, lag er tot im Garten, einfach so. Für sie allein ist das Haus natürlich zu groß, aber solange ihre Tochter Gabi sie mit ihrer Enkelin besuchen kommt, will sie im Haus bleiben.

Jana Wilhelm stellt ihr Wasserglas in die Spüle und nimmt den Brief wieder in die Hand. „Ich könnte ihn jetzt zerknüllen und einfach in den Mülleimer schmeißen“, denkt sie. „Aber wenn ich ihn wegwerfe ohne ihn gelesen zu haben, bin ich feige und feige war ich nie.“

„Hallo Jana,

ich habe oft an unsere gemeinsame Zeit im Ferienlager an der Ostsee gedacht. Das ist lange her. Vor sechs Jahren hat man mich pensioniert. Da staunst du, nicht wahr? Ja, ich bin doch noch Lehrer geworden, wenn auch mit Verspätung. Nach meinem Freikauf durch die Bundesrepublik ging ich 1974 zu meinem Vetter nach Hamburg. In Hamburg wohne ich bis heute.

In mein geliebtes Erfurt bin ich gleich nach dem Fall der Mauer gefahren, aber dort bleiben wollte ich nicht. 1990 lebten meine Eltern noch in Erfurt. Vater ist vor zwölf Jahren gestorben, Mutter folgte ihm letztes Jahr.

Ich bin glücklich verheiratet und habe zwei Kinder, beide haben ihr Studium schon hinter sich und sind recht erfolgreich in ihrem Beruf.

Wie schnell doch die Zeit vergeht. Du wirst dich jetzt sicherlich fragen, warum ich dir diesen Brief schreibe. Nun, ein Kapitel in meinem Leben ist irgendwie noch nicht zu Ende geschrieben worden und dieses Kapitel hat mit dir zu tun.

Ich habe mir vor einiger Zeit die Mühe gemacht, bei der Stasi-Unterlagen-Behörde Einsicht in meine Akten zu nehmen. Heute weiß ich, dass meine Verhaftung im Ferienlager ganz wesentlich auf deine Angaben bei der Volkspolizei in Sassnitz zurückgeht. Vielleicht hast du damals nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, aber du warst meine Freundin, jedenfalls glaubte ich das. Ich klage dich nicht an, trotzdem will ich mit dir einmal darüber sprechen. Ich möchte verstehen, was damals geschah.

Ich werde nächste Woche am Donnerstag nach Strelow kommen. Wenn du mich nicht sprechen willst, mach einfach nicht auf, wenn ich klingle. Ich ziehe dann wieder ab und lass’ dich in Ruhe.

Wäre aber doch schön, wenn du aufmachst.

Mit besten Grüßen,

Frieder.“

Ferien an der Ostsee

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