Читать книгу Ferien an der Ostsee - Winfried Wolf - Страница 4
Hurra, wir fahren nach Glowe!
ОглавлениеDu bist vor einer Woche 10 Jahre alt geworden und jetzt sind Ferien, endlich. In deiner Schule wirst du Bubi genannt, so rufen dich auch deine Eltern und von denen haben es deine Schulkameraden. Aber eigentlich heißt du Winfried, doch du magst diesen Namen nicht. Es wäre dir lieber, wenn sie dich Volker rufen würden, das ist dein zweiter Vorname. Aber deine Schwester Daggi lachte nur, als du ihr vorschlugst, dich Volker zu nennen. Das ist ja noch blöder als Winfried, sagte sie nur. Sie findet nur den Harald gut, das ist ihr Schwarm, dabei will der gar nichts von ihr wissen, das hat er mir selbst gesagt. Sie hat sich von ihm sogar ein Bild übers Bett gehängt, das hat sie selber gezeichnet, obwohl sie gar kein Talent zum Zeichnen hat. Sie interessiert sich jetzt nur für Jungs, hat deine Mutter gesagt. Wenn Daggi nicht zu Hause ist, dann ist deine Mutter verrückt vor Sorge und läuft von einem Zimmer zum anderen.
Dein Vater arbeitet in einer Produktions-genossenschaft, dort ist er der Chef. Ein oder zweimal in der Woche trägst du ihm im Aluminiumtopf Aufgewärmtes in seine Werkstatt. Da musst du mit dem Kochgeschirr fast durch die ganze Stadt rennen. Dein Vater hat vor dem Krieg das Schneiderhandwerk gelernt, nach dem Krieg sind deine Eltern nach Thüringen gekommen und dein Vater hat zuerst für die Russen geschneidert, dann hat er selber ein Geschäft aufgemacht und aus dem Geschäft ist dann eine Produktionsgenossenschaft geworden. Man nennt das eine PGH.
Deine Mutter arbeitet zuhause, sie kümmert sich um euch Kinder. Du hast noch zwei Schwestern; die Daggi ist sieben Jahre älter als du und die Christel ist sieben Jahre jünger. Als Daggi hörte, dass du in diesem Sommer an die Ostsee fahren darfst, hat sie gleich gemault: „Mensch, der Bubi darf sich in die Sonne legen und ich muss arbeiten.“
„Alles aussteigen!“, ruft Herr Döring. Auf dem Bahnsteig von Bergen herrscht ein ziemliches Durcheinander. Kinder aus allen Teilen der Republik kommen hier zusammen. So viel Durcheinander und Geschrei gefällt dir gar nicht. Die Gruppenleiter versuchen, die ihnen zugeteilten Kinder um sich zu scharen. „Wir bleiben zusammen“, hatte euch Herr Döring noch im Zug eingeschärft, aber es dauert, bis alle sich mit ihren Rucksäcken und Koffern um ihn versammelt haben. Über euch kreischen die Möwen, du musst dich ducken, wenn sie herunterstürzen und knapp an dir vorbeifliegen. Herr Döring sagt: „Bleibt hier stehen, ich komme gleich wieder.“ Er geht zu den anderen Gruppenleitern, um sich mit ihnen zu besprechen. Wie lange müssen wir jetzt wieder warten bis es weitergeht, denkst du? Fahren wir mit dem Zug weiter nach Sassnitz oder holt uns ein Bus ab?
Das Meer hast du schon gesehen, als der Zug über den Rügendamm auf die Insel fuhr. Hier in Bergen ist von der Ostsee weit und breit nichts zu sehen, nur die Möwen verraten die Nähe des Meeres. Eines von den Berliner Kindern hat den Vögeln Stücke von seinem Brot zugeworfen. Das ist doch blöd! Die Möwen werden jetzt immer dreister. Ein Mädchen weint, gerade hat ihr eine Möwe die Wurstschnitte aus der Hand geschlagen und sich dann in sicherer Entfernung darüber hergemacht.
Endlich hebt Herr Döring die Hand, ihr sollt jetzt zu ihm kommen. Seine Tochter zieht dich hinter sich her wie einen kleinen Jungen, aber du willst nicht, dass dir ein Mädchen die Richtung vorgibt, das macht doch gleich einen schlechten Eindruck bei den anderen Jungs. Der Dieter grinst schon so blöde. Du schulterst deinen Rucksack, Vati hat zu dir gesagt, ein Rucksack sei besser als ein Koffer, er hätte im Krieg auch einen getragen.
Sabine sieht ein, dass sie dich nicht bei der Hand nehmen kann, wenn man gerade mit seinem Rucksack zu tun hat. Sie hat dich gleich nach Abfahrt des Zuges in Zeulenroda ins Abteil ihres Vaters geholt. Du durftest dann neben ihr sitzen. Immer, wenn der Zug hielt, hat sie das Fenster heruntergezogen, ihren wuscheligen Kopf hinausgestreckt und den Namen der Station laut herausgeschrien. Du denkst, warum schreit die so, man kann doch lesen, wie die Stationen heißen.
Aus falscher Dankbarkeit heraus willst du ihr eines von Mutters Wurstbroten anbieten. Mutter hat sechs Leberwurstbrote in Pergamentpapier eingewickelt und in eine Schachtel aus Aluminium gesteckt. In der gleichen Schachtel hattest du deinem Vater immer sein Pausenbrot in die Arbeit gebracht, wenn er über Mittag nicht heimkommen wollte. Nun bietest du der Sabine eine Schnitte aus dieser Schachtel an, aber sie lacht nur und sagt, dass du dir das für später aufheben solltest. Sabine ist mindestens zwei Jahre älter als du. Du kannst ihre kleinen Brüste unter dem Pullover ahnen.
Mutter hatte dich ganz früh auf den Bahnhof gebracht. Da waren in der Halle schon einige Kinder, aber du kanntest keines von ihnen. Einige standen in Gruppen beieinander, die kannten sich schon. In Gera stiegen weitere Kinder dazu und in Berlin musstet ihr in einen Sonderzug umsteigen. Der Zug war voller Kinder, was für ein Geschrei. Die Sabine hat nur gelacht, der gefiel das. Sie hat immer gefragt, woher die anderen Kinder denn kämen, aber dich hat das genervt, jetzt wolltest du, dass sich Sabine nur um dich kümmert. Du gehörst ja eher zu den stillen und schüchternen Kindern, das sagt jedenfalls deine Mutter, wenn du dich in irgendeine Ecke drückst. Es stimmt schon, manchmal bist du etwas schüchtern, aber wenn es drauf ankommt, kannst du deine Meinung auch vertreten. Du bist nicht umsonst von deinen Klassenkameraden zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt worden.
Mutter hatte dir erzählt, die Eltern der anderen Kinder seien alles Lehrer und Lehrerinnen. Darüber hattest du dich zunächst gewundert, denn dein Vater war Schneidermeister, er war sogar Vorsitzender einer PGH. „Vati unterrichtet auch an der Berufsschule“, hatte Mutter aber erklärt. Dein Vater war also nicht nur Handwerker, sondern auch Lehrer. Wie du später erfuhrst, brachte dieser Umstand einige Vorteile mit sich. Als Kind eines Lehrers durftest du in ein Kinderferienlager der Gewerkschaft „Unterricht und Erziehung“ fahren und als Kind eines Mitarbeiters in einer Produktionsgenossenschaft standen dir die Türen einer Ferienwohnung des Betriebes offen.
Es war übrigens nicht das erste Mal, dass du an die Ostsee fahren durftest. Schon oft hatte man dich zur Kur in ein Kinderheim geschickt. Es war erst zwei Jahre her, dass du wegen deines Keuchhustens ein Kindererholungsheim in Wiek auf Rügen besuchen durftest. „Der Junge muss an die See“, hatte Dr. Thilo gesagt. „Die Luft wird seinen Bronchien gut tun“, hatte Mutter zu Vater gesagt. „Das Salz und die frische Luft sollten den schlimmen Husten bezwingen“, hatte Dr. Thilo ergänzt.
Vielleicht hatte dein Vater genau dieses Argument benutzt, als er für dich im Büro der Gewerkschaft den Antrag für ein Kinderferienlager in Glowe abgab. Es kann aber auch sein, dass Herr Albrecht, der erste Sekretär des Zentralkomitees der Stadt Zeulenroda ein gutes Wort für dich einlegte. Er war ein guter Kunde deines Vaters und sein Sohn Harald war nicht nur der Schwarm deiner älteren Schwester Daggi, sondern auch dein bester Freund. Er schenkte dir einen roten Stern zum Anstecken. Und das rote Halstuch der russischen Pioniere hattest du auch von ihm, aber das war kein Geschenk, sondern redlich verdient. Harald hatte dir aus Versehen mit einer Haselnussgerte einen blutenden Striemen quer über die rechte Wange zugefügt. Du solltest zuhause nicht sagen, dass er der Verursacher war. Du versprachst hoch und heilig, ihn nicht zu verpetzen. Dafür bekamst du dann das rote Halstuch, das die Brüder aus dem Osten trugen.
Aber das ist jetzt schon Geschichte. Du stehst immer noch auf einem zugigen Bahnsteig in Bergen auf der Insel Rügen. Du beobachtest mit Sorge die aggressiven Möwen und versuchst zu verstehen, was Herr Döring zu zwei jungen Leuten sagt, die zu euren Betreuern gehören sollen. Sie sind in Berlin zugestiegen. „Die Kinder gehen in Gruppen. Frieder und Jana, ihr geht mit den Kleinen, Sabine und ich bleiben bei den Größeren.“
Du gehörst also mit deinen zehn Jahren noch zu den Kleinen. Zu deiner Gruppe zählen 14 Kinder. Alle Kinder, die über 12 Jahre alt sind, gehören zur Gruppe der Großen. Die Einteilung gefällt dir nicht, du wärst jetzt doch gerne bei der Sabine geblieben.
Der Frieder trägt eine Brille mit runden Gläsern und hat ganz schmale Lippen, die am Ende ein bisschen nach oben gehen. Du weißt schon jetzt, dass du den Typen nicht leiden kannst. Die blonde Jana hat eine gewisse Ähnlichkeit mit deiner kleineren Schwester Christel. Ihr Pferdeschwanz wippt lustig hin und her, wenn sie den Kopf bewegt. Sie schaut nacheinander allen Kindern ihrer Gruppe ins Gesicht. Sie will sich schon jetzt jeden von uns genau einprägen. Du wirst rot, als sie deinen Namen von der Liste abliest, die ihr der Herr Döring gegeben hat. Sie schaut in die Runde und wartet bis der Junge, der auf den Namen Winfried hört, die Hand hebt. Sie lächelt dich an und du denkst, dass man mit Jana bestimmt gut auskommen kann.
Mit der Bahn geht es jetzt nicht weiter, einige Gruppen rücken bereits ab. Vor dem Bahnhof stehen Busse und Lastwägen mit aufmontierten Sitzbänken auf der Ladefläche. Die Gruppenleiter halten Pappschilder hoch, wir gehören zur Gruppe „Thüringen“, sagt Herr Döring. Wir steigen in einen Bus vom Typ Ikarus. Du kennst diese Marke, einen solchen Bus hatte dir Tante Gretel letzte Weihnachten für deine Modelleisenbahn geschenkt.
Am späten Nachmittag kommt ihr in Glowe an. Der Bus hält an der Hauptstraße in Höhe des Ferienlagers. Du kannst die weiß gestrichenen Baracken und die Fahnenstangen schon sehen. Dieter beschwert sich: „Warum fährt uns die Karre nicht bis vor die Unterkunft, jetzt müssen wir unser Gepäck selber schleppen.“ Über diesen Ausruf kannst du nur den Kopf schütteln. Der Bus würde auf den Sandwegen im Lager sicher steckenbleiben. Viel wichtiger ist doch jetzt die Frage, wo man euch unterbringt. In den Baracken oder in den weißen Zelten, die hinten im Gelände zu sehen sind. Herr Döring scheint Bescheid zu wissen; er steuert mit uns ein Zelt am hinteren Ende des Lagers an. Jana weist auf einen Fahnenmast, an dem ein länglicher Kasten hängt: „Toll, wir haben unseren eigenen Lautsprecher, hier geht alles über Durchsage.“
Wir stellen unser Gepäck zu einem Haufen zusammen. Es wird spannend: Herr Döring geht mit den Gruppenleitern ins Zelt, um mit ihnen die Verteilung der Liegeplätze zu besprechen. Einige Kinder wissen jetzt schon, neben wem sie schlafen wollen. Dieter nimmt dir jede Entscheidung ab. Er hängt sich bei Bernd ein und gibt dir zu verstehen, dass ihr drei nebeneinander euer Lager beziehen solltet. Er fragt, ob du gute Witze erzählen kannst, damit man in der Nacht ein wenig Unterhaltung hat. Du hast nur ein paar wenige Witze auf Lager, das reicht nicht einmal für eine Nacht, aber du stimmst trotzdem zu. Jetzt ist es wichtig, erst einmal einen schönen Platz im Zelt zu bekommen.
Herr Döring nimmt die grobe Verteilung vor: „Die großen Kinder sind dort drüben!“ Er weist auf das Nachbarzelt. „Die kleinen bleiben hier, die Mädchen auf der linken Seite, die Jungen rechts. Der Platz vorne rechts bleibt leer. Und jetzt rein mit euch, jeder sucht sich seinen Schlafplatz selber.
Dir wäre eine geregelte Zuweisung lieber gewesen, du willst dich nicht um einen Schlafplatz prügeln müssen. Dieter hat aber gleich die drei Schlafstellen am Ende der Reihe in Beschlag genommen. Durch einen kühnen Schwung seines Campingbeutels reserviert er für sich das vorletzte Bett in der Reihe „Winfried, du kannst das letzte Bett haben“, sagt er. Das passt dir gut, das letzte Bett in der Reihe bietet viel Platz für deine Sachen.
Eines der Kinder muss auf die Toilette, eine erste Gelegenheit, das Lager kennenzulernen. Jana führt die Mädchen an und Frieder kümmert sich um die Jungs. Der gemeinsame Dusch- und Waschraum für euch Jungen befindet sich in der Baracke, die euch am nächsten liegt. „Warmes Wasser gibt es hier nicht“, grinst Frieder. Du hast diese klammen Waschräume mit dem eisigen Wasser schon in einem Ferienlager im Harz kennengelernt. Hier herrscht diese spezielle Kälte, die aus dem Verzicht auf alles Schöne herrührt, aber es ist nicht schlimm, zuhause war es in der Waschküche im Keller auch nicht schöner und zu Betrachtungen über die Schönheit von Waschräumen verliert bei gemeinschaftlicher Benutzung jetzt keines der Kinder ein unnötiges Wort. Empfindlicher reagierst du schon auf den Geruch von vergammelten Abwaschlappen im Speisesaal, der sich im Hauptgebäude befindet. Aber noch scheint die Sonne und die Fenster sind weit geöffnet.
Im Hauptgebäude befinden sich auch die Gemeinschaftsräume. „Hier treffen wir uns, wenn es mal länger regnen sollte“, sagt Frieder. Er zeigt auf die Spielkartons im Regal. „Unser Ferienlager gehört der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung. Es trägt den Namen von Hermann Duncker. Wisst ihr, wer das ist?“ Wir schütteln den Kopf, sind aber auch nicht besonders interessiert. Frieder lacht: „Das würde mich jetzt an eurer Stelle auch nicht interessieren. Vielleicht erzähle ich es euch erst, wenn es mal stark regnet.“
Auf der Lagerstraße treffen wir wieder auf Jana und ihre Mädchengruppe. Du siehst, wie Jana den Frieder anstrahlt. Die beiden scheinen sich offensichtlich ganz gut zu verstehen.
„Um sechs sind wir zum Essen dran“, sagt sie. „Hast du deinen Jungs schon gesagt, dass wir immer zusammen gehen?“ Das hat Frieder nicht getan, er hat uns auch nicht gesagt, wann wir morgens in den Waschraum gehen sollen. Du denkst, dass Jana eure Gruppenleiterin sein sollte. Sie kennt sich hier besser aus; an ihrer Seite würdest du dich wohler fühlen. Der Frieder ist ein lustiger Kerl, aber er nimmt seine Sache nicht ernst, er nimmt vor allem dich nicht ernst.