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Laura

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Von ihrem Balkon aus konnte sie zwischen den Häusern einen dunklen Streifen des Meeres sehen. Aus der Kneipe am Strand war noch Musik zu hören, das ewige Einerlei griechischer Folklore, aber zum Essen passte es doch ganz gut. Dolmádes, Saganaki, Tsatsiki, Gyros, Moussaka, Souvlaki und die vielen anderen schmackhaften Gerichte, das war ohne Giorgios Papadopoulos nicht denkbar. Sie hätte vielleicht nach einem besseren Zimmer schauen können, aber der Luxus lohnte sich nicht. Sie war ja doch den ganzen Tag über unterwegs: entweder am Strand oder hoch oben in den Bergen. In diesem Teil Kretas hatten die Dörfer noch etwas von ihrem ursprünglichen Charakter bewahrt. Allerdings wäre ein geländegängiges Fahrzeug von Vorteil gewesen. Die Straßen waren gerade in den abgelegenen Bergregionen in keinem guten Zustand. Man hatte ihr abgeraten, beim Mietwagen auf eine billige Police zu setzen, da Schäden an Reifen, Achse und Chassis bei den Sonderangeboten häufig nicht gedeckt seien.

Das Treffen mit Prager kam schneller zustande, als sie gehofft hatte. Der alte Dimitrios war ein netter Mann, ein wenig geschwätzig zwar, aber auch sehr hilfsbereit. Unangenehm war seine aufdringliche Art, mit jungen Frauen umzugehen. Er roch aus dem Mund und er ließ seine Hand überballhin wandern. Aber alten Männern konnte man einiges nachsehen. Er versprach, gleich mit dem Professor zu reden und einen Termin für sie zu arrangieren. Für Dimitrios war der Professor zweifellos ein großer Mann. Kein Wunder, ein Altertumsforscher wie Prager verschaffte seiner Stellung als Aufseher hier Ansehen und Bedeutung.

Es war ein schöner Abend gewesen. Lange hatte sie sich nicht mehr so gut mit einem Mann unterhalten. Sie hatte ihm von ihrem Studium erzählt und er hatte ihr interessiert zugehört. Er wies selbst darauf hin, dass er kein richtiger Professor war, sondern nur Geschichtslehrer. Das machte ihn sympathisch. Prager war überhaupt ein netter Mann, so einen hätte sie sich gern zum Vater gewünscht. Mit ihrem Stiefvater war sie nie zurechtgekommen. Vielleicht lag es daran, dass sie schon 17 war, als ihre Mutter diesen Bundeswehrbeamten aus Koblenz heiratete. Ihr richtiger Vater war damals schon zwei Jahre tot und Mutter konnte und wollte nicht allein sein.

Wir können doch auch ohne Mann auskommen, nur wir zwei, hatte sie damals zu ihrer Mutter gesagt, aber die ließ sich nicht mehr von diesem Langweiler abbringen. Typischerweise hieß der auch noch Walter, Walter Kübler. Immerhin konnte sie ihren Namen behalten, sie blieb eine Christ. Kübler wollte sie nicht heißen, wie das schon klang, naja, das war jetzt mit dem Tod der Eltern alles vorbei. Schade eigentlich, sie hätte es ihm vorher sagen sollen, dass sie ihn trotz allem ganz gern hatte. Walter war ihrer Mutter kein schlechter Ehemann und mit seiner Hilfe hatte sie sogar ihren Studienwechsel durchsetzen können. Sie hatte mit einem Lehramtsstudium begonnen, aber das war nicht ihre Sache. Mutter hatte immer gesagt, studiere was Anständiges, werde Lehrerin oder Architektin, von Ausgrabungen wirst du nicht leben können. Lass’ sie doch, Laura geht ihren eigenen Weg, hatte Walter Kübler gesagt. Für diesen Satz hatte sie ihrem Stiefvater sogar einen Kuss gegeben.

Sie dachte an Prager. Von ihren Eltern hatte sie ihm nichts erzählt, auch nicht, dass sie sich erst vor kurzem von ihrem Freund trennen musste. Die Trennung ging nicht von ihm aus, aber mit der besten Freundin zu schlafen, das ging gar nicht. Zwei Jahre waren sie zusammen gewesen, verlorene Jahre, wie sie jetzt feststellen musste. Im Grunde war er noch langweiliger als ihr Stiefvater. Sie tauschten die üblichen Dinge miteinander aus, besuchten Partys und fuhren zusammen nach Italien. Es gab nicht viel, was sie von ihm in Erinnerung behalten wollte. Ein Mann, hatte sie einmal zu einer Freundin gesagt, sollte aussehen wie Brad Pitt und klug wie ein Nobelpreisträger sein. Sie hatte dabei nur eines vergessen, er sollte nicht nur klug und schön, sondern auch gefühlvoll und verletzlich sein, aber das war ihr erst klar, nachdem sie mit Klaus Schluss gemacht hatte.

Das neue Studium machte ihr Spaß, nein, es war mehr als das. Sie besuchte nicht nur fleißig alle Seminare und Übungen, sondern wollte das in der Theorie erworbenes Wissen, wann immer es dazu eine Gelegenheit gab, auch praktisch umsetzen. Studenten der Archäologie müssen bei Grabungen mitarbeiten. Jetzt im achten Semester konnte sie schon auf mehr als fünf Monate Grabungsarbeit zurückblicken. Im römischen Brandgräberfeld zwischen Heldenbergen und Karben fanden sie fast ausschließlich Tonscherben, Schätze wurden nicht ausgegraben. Wenn es hoch kam, fand einer der Studenten vielleicht mal eine Münze. Es war schon eine Knochenarbeit, den ganzen Tag auf Knien vor einem Erdloch zu kauern und mit Kellen verschiedenster Größe Tonscherben auszugraben. Die Ausbeute wurde später am Institut gereinigt, fotografiert, dokumentiert und zunächst eingelagert, bis sich ein Experte fand, der Scherben und Fundorte auswertete und eine wissenschaftliche Abhandlung verfasste.

Höhepunkt der letzten Grabung war der Fund einer kleinen, vollständig erhaltenen Öllampe. Sie war leider nicht die glückliche Finderin, aber das war letztlich gar nicht so wichtig. Wirklich wichtig wäre ihr die Teilnahme an einer ersten Testgrabung im römischen Kastell von Tel Shalem in Israel gewesen. Die Grabung sollte im März beginnen. Aufgrund des Fundes einer Vexillatio-Inschrift der Legio VI Ferrate vermutete man am Fuß des bronzezeitlichen Tel Shalem im nördlichen Jordan-Tal die Existenz eines römischen Militärlagers. Bedeutung gewann dieser Ort auch durch den sensationellen Fund einer hervorragend erhaltenen Bronzestaue Hadrians. Außerdem wurden dort mehrere Fragmente eines riesigen Bogenmonuments, ebenfalls aus hadrianischer Zeit, gefunden. Ende Februar wurde ihr mitgeteilt, dass die Grabungskampagne nicht durchgeführt werden könne, die israelischen Behörden hatten keine Erlaubnis erteilt.

Auch die nächste Bewerbung blieb erfolglos. Für April war im Institut eine vierwöchige Forschungskampagne in der Nabatäerstadt Elusa angekündigt worden. Ihr wurden dieses Mal die besten Chancen für eine Teilnahme eingeräumt. Es sollte eine geophysikalische Prospektion mittels Magnetometrie vorgenommen werden. Diese Methode war ihr mittlerweile bestens vertraut. Sie wartete nur darauf, sie im Rahmen eines anspruchsvollen Projekts zur Anwendung bringen zu können. Doch wieder kam eine Absage! Der Projektleiter hatte ihr schon zugesagt, aber dann wurde jemand mit viel Protektion ins Team genommen und da war ihr Platz plötzlich weg.

Sie hatte auch gehofft, sich mit der Arbeit in Israel etwas ablenken zu können. Der Tod der Eltern im vergangenen Herbst war ihr sehr nahe gegangen, mehr als dass sie es sich zuerst eingestehen wollte. Sie konnte die Bilder nicht so leicht aus ihrem Kopf bringen. Man fand sie tot auf einer Insel vor der Südküste Kretas. Sie hätten dagesessen wie Philemon und Baucis. Die Eltern hatten sich offenbar selbst das Leben genommen.

Dass Walter an Leberkrebs erkrankt war, hatte man ihr verschwiegen. Dass Mutter Probleme mit dem Herzen hatte, wusste sie seit langem, das war ja auch nicht zu verbergen gewesen. Stents hielten seit Jahren ihre Arterien offen. Sie nahm blutverdünnende Medikamente zur Vermeidung von Blutgerinnseln. Alles kein Problem, sagte sie immer, das schränkt mein Leben nicht ein. Aber es muss wohl doch nicht so toll gewesen sein, wie sonst konnte sie sich entschließen, mit Walter aus dem Leben zu scheiden.

Die Nachricht vom Tod der Eltern wurde ihr in Stuttgart überbracht. Ein Polizeibeamter hatte an der Tür der WG geklingelt und gesagt: Die griechische Polizei hat ihre Eltern auf einer Insel gefunden. Sie haben dort vermutlich Suizid begangen, Genaueres wissen wir noch nicht. Hier haben Sie die Adresse eines Psychologen. Später erfuhr sie, dass Touristen ihre Eltern auf der Insel Koufonisi gefunden hätten, ein Zufall, denn zu dieser Zeit waren keine Ausflugsschiffe mehr unterwegs. Die Insel ist sonst unbewohnt und wird nur im Sommer ihrer schönen Strände wegen aufgesucht.

Laura Christ stellte ihren Wecker auf acht Uhr. Prager hatte sie eingeladen, mit ihm nach Gortyn zu fahren. Nein, von einer Einladung konnte eigentlich keine Rede sein, sie hatte sich ihm als Begleiterin regelrecht aufgedrängt. Aber es waren ja auch gute Argumente, die sie vorbrachte: Studentin der Archäologie mit Schwerpunkt römische Geschichte, trifft Altertumsforscher in Lentas . Eine solche Gelegenheit zum fachlichen Austausch musste einfach genutzt werden. Und so viel hatte sie schon gelesen, um zu wissen, dass römische Bürger bereits im 1. Jh. v. Chr. in Gortyn Handel trieben. Und dieser Prager wusste eine ganze Menge mehr. Der Skizzenblock und die Videokamera lagen schon bereit. Sie konnte mit sich zufrieden sein: Dass mit diesem Professor war gut angelaufen. Sie war sich sicher, bald würde sie auch mehr über den Tod ihrer Eltern wissen.

Erwartung

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