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Die Galeristin

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Aus einem Kunstmagazin: Man hat eine überschminkte Galeristin vor Augen, die bei einer Ausstellung vor großformatigen Bildern steht und lachend Champagner trinkt. Dass Gerlinde Körner eine attraktive Frau ist, wird niemand in Abrede stellen, ebenso wenig, dass sie eine erfolgreiche Galeristin ist. Ein Klischee ist bei ihr allerdings nicht angebracht. Die Galerie Körner ist in diesen Tagen ein Higlight des Gallery Weekends der Hauptstadt. Körner zeigt Zeichnungen der heute 80-jährigen Paula Kampenhausen. Die Künstlerin geht mit einem Blick für die unscheinbarsten visuellen Reize durch die Welt. Sie fotografiert, sammelt Magazinausschnitte oder alte Bücher. Immer wieder aufs neue sichtet und selektiert sie ihren privaten Bilderberg, bis sich einzelne Motive oder auch ganze Serien herauskristallisieren, die sie dann in ihrem charakteristischen Stil des Fotorealismus zeichnet. Es ist ein Transfer in einen Bildkosmos mit ganz eigenen Regeln der Seherfahrung. Virtuos entlockt Kampenhausen dem Bleistift feinste Strukturen oder fließende Slow-Motion-Effekte, metallischen Schimmer oder weichen grafischen Samt...

Gerlinde Körner war zufrieden mit dem, was sie im Kunstmagazin las. Dieses Mal hatte man das Gallery Weekend auf den angestammten Termin der Art Cologne gesetzt und damit Sammler aus aller Welt nach Deutschland gelockt. Das war für Galeristen aus der Hauptstadt, die an der Kölner Messe teilnehmen wollten, nicht unbedingt eine glückliche Koinzidenz, bedeutete dies doch erhöhte logistische Anstrengungen. Für sie kam eine Beteiligung aber ohnehin noch nicht in Frage, es fehlte ihr schlichtweg noch das geeignete Personal. In dieser Hinsicht musste sich bald etwas ändern, ohne erfahrene Mitarbeiter konnte die Galerie nicht expandieren. Immerhin war es ihr gelungen, eine ehemalige Museumspädagogin als Mitarbeiterin zu gewinnen und zweimal in der Woche kam eine Kunststudentin vorbei, die Aufsichten übernehmen konnte.

Sie hatte bald feststellen müssen, dass ein Arbeitsalltag nicht darin bestehen konnte, nur Kunst an die Wand zu hängen. Als Galeristin musste man kommunikativ sein und betriebswirtschaftlich denken. Genauso musste man sich darüber im Klaren sein, dass etliche Reisen mit dem Beruf verbunden waren, die einen von Kunstmesse zu Kunstmesse führten, von Event zu Event, von Atelier zu Atelier. Besonders wichtig waren die Messen, um Kontakte zu Museen sowie zu Sammlern herzustellen und aufrechtzuerhalten.

Ihr Galerieprofil schien aufzugehen. Mit dem Grundstock von Rudolfs Bildern aus dem 20. Jahrhundert und den antiquarischen Einzelstücken hatte sie sich Eintritt in die Berliner Galerieszene verschafft und da ein mehr als ausreichendes Startkapital zur Verfügung stand, Rudolf hatte 60.000€ und sie selbst noch einmal 20.000€ investiert, konnte sie auch gleich mit dem nötigen Selbstbewusstsein auftreten.

Mit der Kampenhausen hatte sie einen Coup gelandet und einen schönen Gegenpol zum Bestand der Galerie geschaffen. Das musste auch Rudolf gefallen, der sich jetzt schon wieder in Griechenland aufhielt und mit der Galerie wenig zu tun haben wollte.

Die Kampenhausen, das war in dem Beitrag des Kunstmagazins schön dargestellt worden, übertrug viele ihrer Szenen vom Positiv ins Negativ, was für ebenso coole wie entrückte Stimmungen sorgte. Da war diese alte Bäuerin in Festtracht, welche die Künstlerin in einem Buch der dreißiger Jahre gefunden hatte. In ihrer zeichnerischen Übersetzung wirkte sie kein bisschen altmodisch, sondern im Gegenteil, ziemlich gegenwärtig: eine starke Frau, die in ihrer Tracht wie gepanzert wirkte. Für die Bäuerin hatte sie einen Preis von 28.000 Euro angesetzt. Für die Galerie war eine Provision von 40 Prozent vereinbart worden.

So konnte man einen Spagat zwischen alter und zeitgenössischer Kunst wagen, aber man konnte nie wissen, wie sich der Kunstmarkt entwickeln würde. Morgen wollte sie Kontakt mit einer Webdesignerin aus Regensburg aufnehmen. Über das Internet würde sie bald mit Sammlern in aller Welt vernetzt sein. Ein Kollege von der Galerie Lindhorst hatte ihr gesagt, dass es inzwischen zahlreiche Sammler in Asien, Amerika oder wo auch immer auf der Welt gäbe, die nur vor dem Bildschirm säßen und Kunst über Kunstinternetportale kaufen würden. Mit Rudolf hatte sie noch nicht darüber gesprochen, aber was sollte er gegen eine weltweite Präsenz einzuwenden haben.

Die Redakteurin der Kunstzeitschrift hatte ihr vor dem Interview etliche Fragen schriftlich zukommen lassen. Eine Frage beschäftigte sich mit der Emotion in der Kunst und welchen Stellenwert sie für die Galeristin Gerlinde Körner hätte. Sie dachte daran, wie sie zusammen mit Rudolf den Bilderbestand der Reitzensteinschen Villa sichtete. Rudolf wollte fast alle Bilder so schnell wie möglich zu Geld machen, nur beim Radziwill machte er eine Ausnahme. Das Bild schien ihn zu berühren und weckte bei ihm Erinnerungen an ein anderes Bild, dass ihn schon in seiner Jugend fasziniert haben musste. Es war Richard Oelzes „ Erwartung “. Mit dem Rücken zum Betrachter starrt eine Gruppe von Leuten in eine leere Landschaft. Rudolf wusste auch noch den vollständigen Titel des Bildes: Erwartung. Die ungewisse Gegenwart des Kommenden. Oelze muss ein eigenwilliger Maler gewesen sein, Rudolf hatte sich ein wenig mit ihm beschäftigt. Viele seiner Werke sind verschollen, sagte Rudolf, einige tauchen wieder auf. Oelze achtete nicht auf seine Arbeiten, er führte nicht Buch. Manchmal holte er Gemälde von Ausstellungen nicht wieder ab. 1938 wurde in der Pariser Exposition International du Surrealisme die „ Erwartung “ zum ersten Mal gezeigt. Rudolf hatte einen Kunstband aus dem Regal gezogen und ihr das Bild gezeigt. Eine Gruppe von Menschen steht in der typischen Oelze-Landschaft. Man sieht nichts als Rücken, zwei Profile und ein merkwürdig undeutliches Gesicht. Es sind austauschbare Gestalten, eher eine Ansammlung von Regenmänteln. Die sehen aus wie Agenten, hatte Rudolf gesagt. Alle unter irgendwelchen Hüten und Kopfbedeckungen. Spürst du diese fast unerträgliche Spannung, die über dieser Szene liegt, hatte Rudolf sie gefragt. Die Menschen blicken wie hypnotisiert in die Richtung des vermuteten Geschehens und warten, warten, warten.

Daran musste Gerlinde Körner denken, als sie sich die Fragen der Journalistin durchlas. Ja, Emotion hat in der Kunst einen großen Stellenwert. Wahrscheinlich dachten die meisten Leute ebenso. Wenn uns Kunst nicht berühren kann, handelt es sich um keine gute Kunst. Aber sie wird bei ihrer Antwort doch ein wenig einschränken müssen. Es gab künstlerische Praktiken, die nicht auf Emotionalisierung abzielten. Das war ja das Interessante an der Kunst, dass Kunst immer das ist, wovon Leute beschließen, dass sie es ist. Der Kunstbegriff wird notwendigerweise immer umstritten sein und so gesehen wird es immer künstlerische Praktiken geben, die weniger auf emotionale Erfahrung abzielen, sondern eher auf eine Darstellung mit verschiedenen medialen Mitteln. Die Kampenhausen war dafür sicher ein gutes Beispiel.

Eine andere Frage lautete: Welches Kunstwerk hat Sie in ihrem Leben besonders beeindruckt? Gerlinde überlegte einen Augenblick, ob sie hier nicht Rudolfs Erinnerungen an Richard Oelze zum Besten geben sollte, besann sich dann aber auf ihre eigenen Bilderfahrungen. Sie musste nicht lange nachdenken. In der vierten Volksschulklasse versuchten sie unter Anleitung ihrer Lehrerin, sie hieß Kampe, van Goghs Bild „ Blick über Arles “ zu beschreiben. Frau Kampe wies auf die blauen Bäume im Vordergrund des Bildes und dabei fiel das Wort „bizarr“. Dieses Wort blieb ihr immer ein bisschen rätselhaft und wenn sie so darüber nachdachte, hatte dieses Wort ihre Rezeption von Kunst auch stark geprägt. Bis heute suchte sie in der Kunst nach versteckten Rätseln. Ja, das wird sie der Journalistin sagen, das war gut und hatte etwas mit ihr zu tun.

Was kann Kunst, das andere Disziplinen nicht können? Eine Frage, über man etwas nachdenken musste. Sie erinnerte sich, was Prager zu den beweglichen Installationen von Jean Tinguely gesagt hatte: Sie haben so etwas Heiteres und sprühen vor Esprit, Lebenslust, Ironie und Poesie. Komisch, dass sie sich gerade jetzt daran erinnerte. In Basel hatte sie ihm zum ersten Mal von ihren Galerieplänen erzählt und war überrascht, dass er selbst schon daran gedacht hatte, eine Galerie unter ihrer Leitung zu eröffnen. Bildende Kunst, würde sie zu der Journalistin sagen, vermag im günstigsten Fall viele Geschichten auf einen Punkt zusammenzubringen. Es entsteht eine Zusammenballung von Energie, Kraft und Geschichten. Man kann durch die Erinnerung diese Bilder mit sich tragen, man kann sie aber auch immer wieder aufsuchen. Man kann ins Museum gehen und immer wieder das gleiche Bild anschauen, so wie es uns Thomas Bernhard erzählt hat. Ja, den Dichter Bernhard zu erwähnen, wäre vielleicht keine schlechte Idee, das könnte ihre Belesenheit unter Beweis stellen.

Gerlinde Körner legte den Fragenkatalog zur Seite und griff zum Telefonhörer. Sie hatte Lust, jetzt mit Prager über ihre Urlaubspläne zu sprechen. Anfang Juni wollte sie zu ihm nach Kreta fliegen, das war nicht mehr lange hin.

Erwartung

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