Читать книгу Von Erbfeinden zu guten Nachbarn - Wirsching - Страница 5

»Deutsche« und »Franzosen«

Оглавление

Andreas Wirsching (AW): Kennst du den Witz von Monsieur Lagarde, der 1870 im Elsass lebte?

Hélène Miard-Delacroix (HMD): Hm, ich weiß nicht so genau …

AW: Lagarde ist ja ein relativ häufiger Name in Frankreich. Er lebte aber im Elsass, und 1871 wurde sein Name in »Herr Wache« übersetzt. Dann kam der Erste Weltkrieg, 1918 fiel das Elsass wieder an Frankreich zurück, und man nannte ihn nun »Monsieur Vache«. 1940, als das Elsass wieder von Deutschland beansprucht wurde, wurde aus ihm »Herr Kuh«. Was machte man also wohl 1945 aus ihm, als Frankreich das Elsass erneut zurückbekam? – »Monsieur Q«.

HMD: Oh, das ist ja traurig. Da hat er seine Identität völlig verloren. Außerdem ist Monsieur Q im Französischen auch noch ziemlich doppeldeutig.

AW: Schon ein armer Kerl, nicht wahr?

HMD: Insofern ist es nicht gerade eine lustige Geschichte für den Betroffenen, den armen Elsässer, der nicht mehr so genau weiß, wer er ist. Ist er Deutscher, ist er Franzose?

AW: Das ist genau die Frage: Was sind die Elsässer eigentlich? Das ist ja für die französische Geschichte ein wichtiger Punkt, genau wie für die deutsche. Darin steckt natürlich die Frage: Wovon reden wir eigentlich genau, wenn wir »Deutsche« und »Franzosen« sagen? Die Elsässer scheinen weder das eine noch das andere zu sein …

HMD: Der Historiker Heinrich von Treitschke hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts dargelegt – und meinte, aus der Forschung heraus beweisen zu können –, dass die Elsässer Deutsche seien. Er hat sogar behauptet, die Elsässer seien auch dann Deutsche, wenn sie es nicht wüssten oder nicht sein wollten. Für ihn gab es gewissermaßen eine unbewusste Staatsangehörigkeit oder Volkszugehörigkeit. Das war damals das deutsche Verständnis dessen, was das Elsass ist.

AW: Das ist ein essenzialistisches Verständnis, ein Volksbegriff, der geradezu biologisch argumentiert und am Ende nicht mehr hinterfragt werden kann. Die Franzosen haben üblicherweise einen etwas anderen Nationsbegriff, wenn man zum Beispiel an den Philosophen und Historiker Ernest Renan denkt. Dessen berühmter Vortrag »Qu'est-ce qu’une nation?« (›Was ist eine Nation?‹)1 von 1882 ist bis heute eigentlich ein Klassiker und wurde vielfach nachgedruckt …

HMD: Das war seine Antwort auf den Nationalliberalen Treitschke, der die Bildung eines kleindeutschen Nationalstaats durch Preußen und die Annexion des Elsasses rechtfertigen wollte!

AW: Eine Antwort auf Treitschke, in der ein ganz anderer Nationsbegriff steckt. Renan stellt die Frage, ob die Nation eine Rasse sei. Doch das hält er für Unsinn, vielmehr seien die Nationen Mischvölker. Diese Mischungen speisten sich aus den verschiedensten Winkeln Europas, von einer Rasse im Sinne einer biologischen Abstammung könne keine Rede sein. Renan vertritt also genau die Antithese zu Treitschke. Ist es vielleicht die Religion, die eine Nation definiert?, so fragt er weiter. Auch diese Frage verneint er mit dem Verweis auf z. B. die Schweiz, in der es unterschiedliche Konfessionen gibt. Die Sprache ist für Renan ebenfalls nicht das Entscheidende, das finde ich interessant.

Also was ist es? Für Renan ist die Nation ein tägliches Plebiszit, also eine gewissermaßen zivilgesellschaftliche Entscheidung, wozu man gehören will. Wenn man das so sieht, waren die Elsässer natürlich in der Zwickmühle. Nicht immer wussten sie in der Geschichte, ob sie sich nach Frankreich oder nach Deutschland orientieren sollten, wenngleich die deutsche Herrschaft von 1871 bis 1918 sowie von 1940 bis 1944 eher unpopulär war.

Jedenfalls ist die Vorstellung, man heiße ursprünglich »Monsieur Lagarde« und ende als »Monsieur Q«, schon bitter. Kann man sagen, dass das elsässische Drama für die deutsch-französische Geschichte symptomatisch ist?

HMD: Ja, und im Grunde ist das Elsass ein typisches Kontaktgebiet. Wenn wir uns nämlich fragen: Wer sind die Deutschen? Wer sind die Franzosen?, wird klar, dass man dem Schicksal der Geografie nicht entkommen kann. Da sind zwei Nachbarn, die durch die Geografie zum Zusammenleben verurteilt sind und die eine gemeinsame Geschichte haben in dieser Kontaktzone. Dazwischen ist das Elsass tatsächlich diese Kontaktzone im Herzen Europas.

Vielleicht macht die Sprache, wie Renan sagte, nicht die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv aus, gleichwohl gibt es Unterschiede in diesem Herzen Europas. Unterschiedliche Sprachen, unterschiedliche Kulturen mit Bräuchen und Traditionen, die dort in solchen Kontakt- und Austauschgebieten nebeneinander bestehen, und genau das ist die Geschichte, die uns heute in diesem Gespräch interessiert. Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass diese Zugehörigkeiten, die dann in Staaten organisiert worden sind, auch Konstruktionen und vor allem Geschichtserzählungen sind. Es hat sich dort nicht nur eine Realität entwickelt, sondern die Menschen haben sich auch diese Geschichte erzählt und damit ihre eigene Entwicklung geformt.

AW: Aber ich möchte noch einmal insistieren: Als Nicht-Franzose würde ich durchaus sagen, dass Frankreich ein Problem mit dem Elsass hat. Die Elsässer haben ihre Identität mit ihrer dem Deutschen sehr nahe verwandten Muttersprache nicht richtig entwickeln dürfen. Sind nicht die Elsässer in ihrer kulturellen Identität von Frankreich und seinem Zentralismus überwiegend unterdrückt worden? Schon seit sie über die Reunionspolitik Ludwigs XIV. im 17. Jahrhundert ins französische Territorium aufgenommen wurden, dann aber vor allem im Zeitalter der Nation, also im 19. und 20. Jahrhundert?

HMD: Nein, so würde ich das nicht sagen. Die Identität vorwiegend auf die Sprache, also ein kulturelles Element, stützen zu wollen, ist ein sehr deutscher Reflex. So haben sich viele Elsässer auch in der deutschen Zeit (1871–1918), jedenfalls nach dem Modell von Renan, nicht unbedingt als Deutsche verstanden. Vielmehr wurde das Elsass »Reichsland«, also Teil des Deutschen Reichs. Aber zugleich wurde es diskriminiert, indem es keinen Teilstaat wie die anderen im Reich bildete, sondern unmittelbar dem Kaiser unterstellt war. Die große Mehrheit der elsass-lothringischen Bevölkerung fühlte sich von Deutschland gegen ihren Willen annektiert und lehnte das ab …

AW: … und hat sich dann definitiv auf die Seite Frankreichs gestellt.

HMD: Einige Elsässer optierten 1871 für Frankreich. Bei den verbliebenen war es kompliziert. Preußische Verwaltungsbeamte, die ins Reichsland kamen, waren von der Tatsache beeindruckt, dass viele Elsässer, die gar kein Französisch sprechen konnten, sich trotzdem gefühlsmäßig Frankreich zugehörig fühlten. Es gibt etliche Zeugnisse dieser Art. Die 15 elsässisch-lothringischen Reichstagsabgeordneten wurden als »Protestler-Abgeordnete« bezeichnet und verlangten vergebens ein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit des Reichslandes. Vor allem fand die Identitätsfrage ihren Ausdruck im elsässischen Regionalismus. Dieser Regionalismus war eine Form des Widerstands gegen die Politik der Germanisierung und eine Methode, sich von jedem politischen oder kulturellen Monopol zu befreien.

Dahinter steckt das Problem, dass wir die Frage, was die Deutschen oder die Franzosen seien, gar nicht stellen können. Der Plural suggeriert vor allem, es gebe eine unwandelbare Natur der als Kollektiv gedachten Völker. Ich glaube aber, dass diese deutsch-französische Geschichte, die zum Teil auf Erzählungen wie dem Mythos der Erbfeindschaft beruht, in Wahrheit viel mehr Schattierungen hat. Es hat in der Geschichte nicht nur eine Gegnerschaft gegeben, auch wenn die Gegnerschaft ein integraler Bestandteil der eigenen Identitätskonstruktion gewesen ist.

AW: Ja, das war für die deutsche Geschichte genauso prägend. An der deutschen Nationalbewegung können wir das deutlich sehen. Bevor wir darauf kommen, möchte ich noch eine letzte Bemerkung zum Elsass machen. Ein schmerzhaftes, ja geradezu tragisches Beispiel aus der französischen Debatte ist Oradour. In diesem Ort im Limousin fand 1944 das schlimmste Kriegsverbrechen der SS im besetzten Frankreich statt. Das kleine Dorf Oradour-sur-Glane wurde von einer Waffen-SS-Einheit förmlich als Geisel genommen, die gesamte Bevölkerung in überwiegender Abwesenheit der jungen Männer in der Dorfkirche eingesperrt und ermordet. Es gab weit über 200 Tote in der in Brand gesetzten Kirche. In dieser Einheit der Waffen-SS haben sich auch einige Elsässer auf deutscher Seite an dem Massaker beteiligt. Für den Umgang der französischen Erinnerungspolitik mit Oradour war das höchstproblematisch. Was sind die Elsässer? Eigentlich sollten sie ja Franzosen sein, aber offensichtlich verhielten sie sich in jenem Augenblick wie Feinde der Franzosen.

HMD: Ja, das hat die Erinnerung und das Gedenken in Frankreich erschwert. Was Oradour betrifft, war es jahrzehntelang unmöglich, sich vor Ort mit den Elsässern zu versöhnen. Es wurde im Limousin insbesondere bezweifelt, dass elsässische Mitglieder dieser Waffen-SS-Panzerdivision »Das Reich« zwangsinkorporiert waren, was sie zu sogenannten Malgré-nous (Mitwirkenden ›gegen unseren Willen‹) gemacht hätte. Es war unmöglich, sich mit anderen Franzosen zu versöhnen, die doch Mittäter in den Diensten des grausamen Feindes gewesen waren.

Aber kehren wir ins Jahr 1870/1871 zurück. Ich glaube, wir können mit Recht von einer gemeinsamen deutsch-französischen Geschichte sprechen, von einem deutsch-französischen Krieg. Deutsch-französisch bedeutet sowohl deutsch gegen französisch also auch eine gemeinsam erlebte und dann gedeutete Geschichte. Es ist in der Tat schwierig, diese zwei Bevölkerungen in Europa künstlich voneinander zu isolieren. Zugleich aber müssen wir bedenken, dass diese ganz besondere Geschichte von zwei Nachbarn ihre eigene Dynamik hatte. Insofern erzählt sie auch vieles über Europa und dessen schwierige Nachbarschaften. Wir sollten also nicht der Versuchung nachgeben, das Verhältnis Deutschland – Frankreich als Modell und als eine einzigartige Beziehung in Europa zu überhöhen. Es hat durchaus seine Besonderheiten, die uns interessieren. Zugleich aber sollten wir nicht so tun, als ob es ein solches Modell nirgendwo anders geben könnte.

AW: Dennoch sind Deutschland und Frankreich paradigmatisch für ein größeres Ganzes. Ihre Nachbarschaft verdeutlicht, dass sich ganz Europa in einer ständigen Austauschbeziehung über die Grenzen von Sprache und Kultur hinweg entwickelt hat. Und vielleicht haben Deutschland und Frankreich am Ende doch eine besondere Rolle gespielt, immerhin ist ihr Verhältnis zueinander ja bis heute von besonderer Bedeutung. Schließlich sind die beiden Nationalstaaten auf dem Kontinent – vor 1870/71 war das natürlich in Deutschland anders – die bedeutendsten, zumindest waren sie das in dieser kritischen Phase zwischen 1850 bzw. 1870/71 einerseits und 1945 andererseits. Insofern kann man schon fragen, ob da nicht etwas Besonderes geschehen ist. Auch finde ich die Frage interessant, inwiefern das Beispiel der deutsch-französischen Beziehungen zwischen Gegnerschaft und Versöhnung und zwischen Kooperation und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg als Modell dienen kann. Könnte man die Erfahrungen, die aus diesem Drama folgten, vielleicht sogar auf andere Weltregionen übertragen? In andere Weltteile exportieren, in denen es langfristige geschichtliche Spannungen gibt, in Nordostasien etwa mit seinen historisch belasteten Beziehungen zwischen Japan, China und Korea?

HMD: Wenn man sich aber wieder auf den historischen Gegenstand konzentriert, fällt auf, dass sich die Konstruktion der deutschen Nation vor der Nationalstaatsgründung 1871 durchgehend sehr stark aus der Feindschaft gegenüber Frankreich speiste. Aus der Forschung ist bekannt, dass die eigene Identitätsbildung (etwa in einer Nation) ein Gegenüber erfordert, also ein Anderes bzw. eine Alterität. Ohne die Gegnerschaft bzw. den Hass auf die Franzosen ist diese deutsche Nationsbildung eigentlich nicht vorstellbar.

AW: Ein berühmtes Beispiel dafür ist Ernst Moritz Arndts 1813 erschienene Schrift Über Volkshaß, in der er den Hass als notwendigen Teil des deutschen Zu-sich-selbst-Kommens beschreibt. Der Hass wird darin zu einer Art Schutzwehr gegen das Eindringen des Fremden oder des »Anderen«:

Es ist eine unumstößliche Wahrheit, daß alles, was Leben und Bestand haben soll, eine bestimmte Abneigung, einen Gegensatz, einen Haß haben muß, daß, wie jedes Volk sein eigenes innigstes Lebenselement hat, es ebenso eine feste Liebe und einen festen Haß haben muß, wenn es nicht in gleichgültiger Nichtigkeit und Erbärmlichkeit vergehen und zuletzt mit Unterjochung endigen will. Ich könnte traurig hinweisen, wodurch die letzten Jahre über Teutschland gekommen sind. Wir liebten und erkannten das Eigene nicht mehr, sondern buhlten mit dem Fremden.2

Nun gehörte es aber zu der historischen Entwicklung in Europa, dass Frankreich schon früher ein Nationalstaat gewesen war, schon im Ancien Régime war es das in gewisser Weise: Zudem erhob die Französische Revolution einen neuen Nationsbegriff zum Träger staatlicher Souveränität, den die Deutschen so nicht haben konnten. Bei ihrer Revolution 1848 fehlte ihnen noch der Staat dazu. Diese Ungleichheit änderte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Von Erbfeinden zu guten Nachbarn

Подняться наверх