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Die (lange) Vorgeschichte der »Erbfeindschaft«
ОглавлениеHMD: Um die Vorgeschichte des Krieges von 1870/71 zu verstehen, muss man allerdings auch wissen, dass in Deutschland in sehr vielen Milieus der Eindruck vorherrschte, Frankreich sei, vor allem seit Ludwig XIV. (1638–1715), immer ein kriegerischer Staat gewesen, ein Staat, der es auf das deutsche Territorium abgesehen habe und dem endlich Grenzen gesetzt werden müssten.
AW: Ja. Das ist für die deutsche Nationsbildung prägend gewesen. Die Reunionspolitik Ludwigs XIV. war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein großes Thema in der deutschen Öffentlichkeit, gerade in den gebildeten Schichten. Mit Reunionspolitik ist gemeint, dass Ludwig XIV. nach historischen Rechtstiteln suchte, die in seinen Augen Frankreichs territoriale Ansprüche auf das Elsass oder die drei Bistümer Metz, Toul und Verdun legitimierten. Diese Ansprüche versuchte er mit mehreren Kriegen bis hin zum Pfälzischen Erbfolgekrieg durchzusetzen. 1697 wurde mit dem Frieden von Rijswijk beschlossen, dass Elsass und Lothringen künftig zu Frankreich gehörten, allerdings vorläufig nur für 20 Jahre. Danach sollte der Status noch einmal geprüft werden, doch das ist dann in Vergessenheit geraten. So wurde auch Straßburg zu einer französischen Stadt, obwohl es zumindest als Universitätsstadt eine deutschsprachige Stadt gewesen war. Diese Vorgeschichte ist ziemlich wichtig für das Verständnis der deutschen Wahrnehmung Frankreichs.
HMD: Aus der französischen Sicht von damals sollte der Rhein die Grenze werden. Und das, was in Deutschland als Annexion von Straßburg und dem Elsass empfunden wurde, war in der französischen Sprache die »Reunionspolitik«. Was heißt Reunion? Gemeint war das Wiedervereintsein, also die Wiederherstellung eines früheren Zustandes. Nur was ist der Bezugspunkt, wenn man etwas wiederherstellen will, das es früher gegeben hat? Man könnte bis zum Vertrag von Verdun im Jahre 843 zurückgehen, als das Reich Karls des Großen zwischen seinen Enkeln geteilt wurde. Danach nahmen Ostfranken wie Westfranken das Gebiet dazwischen (Lothringen) für sich in Anspruch. Dabei war im 17. Jahrhundert auch den Franzosen völlig klar, dass Straßburg im Mittelalter eine freie Reichsstadt gewesen war, und niemand konnte leugnen, dass im Elsass eine eher deutsche Kultur gepflegt wurde usw.
Du hast völlig recht damit, diese Vorgeschichte zu erwähnen, denn wenn wir als angeblichen Anfangspunkt einer deutsch-französischen Erbfeindschaft den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 nennen, vergessen wir, dass es diese lange Vorgeschichte gibt. Sowohl in den Kriegshandlungen als auch in der Symbolik einiger Akte wird auf frühere Traumata und erlittene Annexionen verwiesen.
AW: Wobei natürlich diese deutsche Darstellung Ludwigs XIV. und des absolutistischen Frankreichs als »Raubstaat« auch etwas Heuchlerisches hat. (HMD: Ja!) Im Grunde handelt es sich um eine charakteristische, nachträglich vorgenommene Konstruktion im Zeitalter des Nationalismus, die mit den tatsächlichen Verhältnissen in der Frühen Neuzeit nicht so viel zu tun hatte. In der Frühen Neuzeit gab es zahlreiche Tausch- oder auch Eroberungspläne, an denen sich auch die deutschen Staaten – Preußen vorneweg – rege beteiligten. Damals war die Frage, welcher Sprache oder welcher Kultur eine bestimmte Bevölkerung angehörte, sekundär. Sie war nicht bedeutungslos, aber es gab davon unabhängig viele Ideen, wie man Territorien für sich reklamieren konnte. Fast immer ging es um die Inanspruchnahme älterer Rechtstitel. Die regelmäßig erhobenen dynastischen Ansprüche etwa führten fast ebenso regelmäßig zu Erbfolgekriegen. Und das geschah zunächst einmal unabhängig davon, welcher Nation die jeweilige Bevölkerung angehörte. Aber auch die unverblümte Annexionspolitik gehörte zum Repertoire der frühneuzeitlichen Mächte, wenn man etwa an die polnischen Teilungen zwischen 1772 und 1795 denkt. Preußen erhielt auf diese Weise seine Ostprovinzen, in denen nicht nur polnische Minderheiten lebten, sondern sogar die Mehrheit der Bevölkerung polnisch war.
Insofern ist es höchst problematisch, die Kategorie der Nation einfach auf die Frühe Neuzeit zurückzuprojizieren, und das gilt erst recht für das 17. Jahrhundert und die Reunionspolitik Ludwigs XIV. Eine nationale Vorstellung von Deutschland gab es damals gar nicht, jedenfalls nicht von Deutschland als geschlossenem Staat. Stellt man sich Deutschland einfach als Opfer dieser französischen »Raubüberfälle« im 17. Jahrhundert vor, dann führt das in die Irre.
HMD: Aber diese Vorstellung spielt eine Rolle, wenn wir vom Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erzählen wollen. Im französischen Sprachgebrauch ist beispielsweise nie die Rede von einem »Deutsch-Französischen Krieg«, sondern man sagt in Frankreich la Guerre de 70, ›der Krieg von 1870‹. Es wird also diese deutsch-französische Komponente, diese Gegnerschaft, nicht betont. Oder sie ist als Demütigung so eingebrannt, dass sie nicht genannt zu werden braucht. Viel stärker in der Erinnerung geblieben ist das Trauma von Versailles, nämlich der Umstand, dass nach der französischen Niederlage der deutsche Feind am 18. Januar 1871 ausgerechnet den Spiegelsaal im Schloss des Sonnenkönigs Ludwigs XIV., das Herzstück der französischen Monarchie, entweihte. Nicht nur hatte der Feind so schnell den Krieg gewonnen, er wagte es auch, genau dort das Deutsche Kaiserreich zu proklamieren.
Es ist kein Zufall, dass jene Inszenierung gerade in diesem Raum stattfand. Die deutsche Reichsgründung, die Erhebung Wilhelms I. von Preußen zum deutschen Kaiser Wilhelm I. sollte genau im schönsten Saal des Schlosses von Versailles stattfinden. Das war eindeutig die Absicht der deutschen Seite, und die Botschaft wurde sehr gut verstanden in Paris wie auch in ganz Frankreich. Nicht nur in Deutschland wurde das Gemälde von Anton von Werner berühmt, das man in allen Schulbüchern sieht. Im Grunde handelt es sich dabei interessanterweise um die dritte Fassung, auf der Bismarck mit weißer Uniform in der Mitte steht.
AW: Ein Fake …
HMD: Ein Fake, ja, dass Anton von Werner Bismarck in die Mitte stellte, ist schon eine Deutung des Geschehens. Dieses Gemälde wurde dem Reichskanzler als Chefstrategen der deutschen Einigung geschenkt, denn diese dritte Version wurde zu seinem Geburtstag für ihn gemalt. Aber auf allen drei Versionen dominiert die Präsenz der preußischen Militärs in Uniform den schönsten Schlosssaal des Sonnenkönigs. Die Inszenierung veranschaulicht sehr wohl, dass die Reichsgründung quasi ex negativo durch die Demütigung des anderen erfolgte. Die Demütigung des anderen war notwendig, um die eigene Macht zu demonstrieren.
Anton von Werner, Die Proklamation des Deutschen Reiches, 1885.
AW: Das Deutsche Kaiserreich entsteht auf der Basis der Demütigung Frankreichs, das kann man auf jeden Fall so festhalten. Im Grunde beobachten wir den Beginn einer endlosen Kette von symbolpolitischen Demütigungen. Interessant ist auch die Wahl des 18. Januar, an dem sich 1701 der damalige Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg zum ersten König in Preußen krönen ließ. Die Zeremonie fand im späteren Ostpreußen statt, das außerhalb des Heiligen Römischen Reiches lag, sonst hätte sich ja kein Reichsstand zum König krönen können. Aber Friedrich I. setzte sich sozusagen selbst die Krone auf, weil er der Souverän im östlichen Teil Preußens war. Deswegen wurde der 18. Januar 1871 für die Kaiserproklamation in Versailles gewählt, und natürlich folgte mit dem Versailler Frieden unmittelbar die Revanche. Die Pariser Friedenskonferenz, auf der er ausgehandelt wurde, begann nämlich ebenfalls an einem 18. Januar – am 18. Januar 1919. Der französische Präsident Georges Clemenceau begrüßte später die deutsche Delegation mit den Worten: »Der Tag der Abrechnung ist gekommen«. Um Versailles herum begann gewissermaßen ein geschichtspolitisches Pingpongspiel zwischen Deutschen und Franzosen.
HMD: Deswegen ist Versailles für die Geschichte der Deutschen und Franzosen nebeneinander und miteinander ein zentraler Ort. Vielleicht kommen wir auch später darauf zurück, weil ganz viele Symbole damit verbunden sind, auch in der französischen Geschichte. Das Schloss ist tatsächlich das Herz der französischen Monarchie, und es war für die innerfranzösischen Konflikte und Kämpfe wie jenen um die Commune ebenfalls von Bedeutung. Das ist eine interessante Dynamik der Feindbilder. Damit meine ich nicht nur die Wahrnehmung des anderen als Feind, sondern auch die Konstruktion, dass man nur groß sein kann, wenn man den anderen erniedrigt.
Denn diese Kaiserproklamation im Versailler Schloss ist nicht nur eine Antwort auf die Reunionspolitik von Ludwig XIV., sondern auch eine Antwort auf Napoleon I. und die französische Eroberung der linksrheinischen Gebiete nach der Französischen Revolution, oder gar im Rahmen der Französischen Revolution 1795. Bekanntlich, wie du vorhin schon angedeutet hast, hatte der Wunsch, den französischen Erorberer Napoleon aus deutschen Landen zu verjagen, zur Herausbildung einer ›deutschen Identität‹ beigetragen. In dieser Kette fungiert Versailles als Ort des Sieges über den anderen und damit der Reparation für erlittene Ehrverletzungen. All das zeigt, wie das Feindbild des Franzosen den Deutschen im 19. Jahrhundert geholfen hat, sich als Deutsche zu verstehen.
AW: Ebendieser Volkshass ist in einem bestimmten, auch zur Aggression neigenden Traditionsstrang der deutschen Nationalbewegung ein ganz wichtiges Element. Der Historiker Friedrich Rühs schrieb 1815 Eine historische Entwickelung des Einflusses Frankreichs und der Franzosen auf Deutschland und die Deutschen. Darin heißt es:
Man würde nicht Unrecht haben, wenn man die ganze neue Geschichte als eine Kette von Verwirrungen, Unruhen und Kriegen darstellte, die lediglich dadurch entstanden sind, dass ein einzelnes Volk – das französische – durch seine überwiegende Macht im Stande war, so oft es wollte, seinen rohen Übermuth und seine unersättliche Begierde nach Eroberungen zu befriedigen.3
Genau diese Vorstellung herrschte in Teilen der deutschen Nationalbewegung bis 1870 vor: Frankreich galt als eroberungslustiges, auf Länderraub orientiertes Land.
Dieser Hass ist selbstverständlich nicht notwendig. Eine Konstruktion wie die der sogenannten Erbfeindschaft birgt immer die Gefahr, dass die Öffentlichkeiten beider Länder gar nicht mehr anders können, als den Hass als unüberwindbar zu empfinden.
HMD: Er ist nicht notwendig, aber er hat so funktioniert, wenn man an die Befreiungskriege gegen Napoleon denkt. 1813–15 wussten die Deutschen selbst noch nicht, dass sie Deutsche sind. Sie waren Sachsen, sie waren Bayern, sie waren Württemberger etc. Dennoch haben sie sich vereint, um sich von dem fremden Tyrannen zu befreien. Diese ganzen Gedichte von Ludwig Börne oder Ernst Moritz Arndt, die zu dieser Zeit entstanden sind, sind aus heutiger Sicht schlimm zu lesen. »Was ist des Deutschen Vaterland?« fragt Arndt in seinem bekannten Lied. »Ist’s Baierland? […] O nein, o nein! sein Vaterland muss größer sein!« Später heißt es: »Soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt, das soll es sein!« In der Beschreibung dessen, was das deutsche Vaterland sein soll, will Arndt den Truppen Mut geben, indem er sagt: »Wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Deutsche heißet Freund. Das soll es sein!«4 Vielleicht war ein Feindbild nicht notwendig, aber es war sehr nützlich. Um zu verstehen, was das ist, ein Deutscher zu sein (und nicht nur ein Sachse, ein Bayer, ein Preuße), brauchte man damals den bösen Franzmann.
AW: Trotzdem muss man betonen, dass es auch andere Stimmen gab. Auch wenn das ein bisschen klischeehaft sein mag: Goethe etwa hat sich zum Nationalhass ganz anders geäußert. Interessanterweise waren die Franzosen ja 1870/71 enttäuscht – sie hatten eigentlich immer dieses Goethe’sche Deutschland geschätzt, im Sinne der Madame de Staël, und es überraschte sie, auf einmal ein ganz anderes Preußentum in Deutschland entstehen zu sehen. Goethe jedenfalls meinte zu Eckermann 1830: »Ich hasste die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie loswurden.« Aber er sagt dann:
Wie hätte ich auch, dem nur Kultur- und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört? Und der ich einen großen Teil meiner eigenen Bildung verdanke? Überhaupt ist es mit dem Nationalhass ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden.5
HMD: Dem würden wir uns heute ja wahrscheinlich anschließen.
AW: Weiter heißt es bei Goethe: »Es gibt aber eine Stufe, wo er – der Nationalhass – ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht.« Dieses kosmopolitische, universale, an eine europäische Einheit des Geistes gemahnende Denken setzte sich natürlich auch in Deutschland unter Gebildeten und Intellektuellen fort. Allerdings stimmt eines nicht, was Goethe sagt, nämlich dass »auf den untersten Stufen«, bei den Ungebildeten, der Nationalhass existiere, bei den Gebildeten aber nicht. Ich denke, man muss das für beide Länder festhalten: Gerade unter Gebildeten, auch Hochgebildeten, Historikern, Philosophen, Publizisten usw., spielte dieser Nationalhass eine wichtige Rolle, da er der eigenen Identitätssicherung diente.
HMD: Wenn ich mich nicht täusche, wurde der Pariser Platz in Berlin 1814 in Erinnerung an den preußischen Sieg über Frankreich so getauft. Heute freuen sich vielleicht viele Franzosen über den schönen Namen und den prominenten Standort, weil sie glauben, man habe ihnen zuliebe Frankreich den schönsten Platz am Brandenburger Tor vor der französischen Botschaft widmen wollen. Diese kleine Anekdote belegt, dass im 19. Jahrhundert nicht nur die Plebs, sondern auch die Eliten Frankreich als Gegner empfanden. Das gilt umso mehr, als die Eliten in Deutschland, auch die Liberalen, die Ideen von 1789 mit dem damit verbundenen revolutionären Impetus ablehnten. Und im Grunde glaubte niemand an die angebliche Mission der Franzosen, die dem Herzen Europas die Zivilisation brachten.
AW: In der Tat hängt die Idee des deutsch-französischen Gegensatzes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch mit diesem Kampf um den Zivilisationsbegriff zusammen, und zwar bevor sich vor dem Ersten Weltkrieg die Gegenüberstellung Zivilisation – Kultur etablierte.
HMD: Ja, das ist wichtig.
AW: Kultur spielt in der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs eine Rolle, aber im 19. Jahrhundert stritt man auch in Deutschland noch durchaus über den Zivilisationsbegriff. Den Anspruch Frankreichs, mit der eigenen Nation eine universale Zivilisation zu verkörpern, konnte man in Deutschland nicht akzeptieren.
HMD: Es macht die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts so verwickelt, dass diese Ideen von 1789 bei einem Teil der deutschsprachigen Bevölkerung Begeisterung, bei den Anhängern der Ordnung und des Ancien Régime aber eine Abwehrreaktion auslösten. Andererseits fiel die Entstehung des Nationalgedankens, die ja untrennbar mit liberalen Forderungen verbunden war, nach dem Sieg über Napoleon I. mit der Restauration zusammen: Die Gründung des Deutschen Bundes von 1815 warf die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland in einen Zustand zurück, der sie auf lange Zeit lähmen sollte. Wie man 1830 am Beispiel des Hambacher Fests oder der 1848er Revolution sehen kann, blieb Frankreich eine Inspirationsquelle, sozusagen ein Leuchtturm des Fortschritts und der Freiheit. Es symbolisierte eine liberalere Art, zu regieren und regiert zu werden, als dieser restaurative Deutsche Bund, in dem die Anhänger des Fortschritts verfolgt wurden und wie Heinrich Heine in Frankreich Zuflucht suchen mussten. So wurden beispielsweise 1837 die sogenannten Göttinger Sieben, diese sieben Universitätsprofessoren, die gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten, entlassen und zum Teil des Landes verwiesen.
AW: Diese Verbindung von Nationalgedanken und Freiheit war wichtig. Frankreich hatte mit der Revolution einerseits vorgemacht, wie es gehen konnte: Die Nation befreite sich vom Joch der Ständegesellschaft und ihrer Privilegienherrschaft; im Grunde waren alle Nationsbildungen in Europa von einem entsprechenden Freiheitspathos getragen. Die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist da keine Ausnahme. Andererseits hatte die Französische Revolution gezeigt, wie rasch die proklamierte Freiheit in neue Unfreiheit, ja sogar in den Terror umschlagen konnte. Hinzutrat auch in Frankreich sehr bald der reine Nationalismus, der für die eigene Nation eine nicht weiter begründbare Exklusivität beanspruchte.
Auch das deutsch-französische Verhältnis ist in gewisser Weise beispielhaft für das Kippen zwischen einem ›linken‹ Nationsbegriff, der mit Fortschritt, Freiheit und universalen Ansprüchen verbunden wird, und einem stärker partikular-exklusiven Nationsbegriff, der die Konkurrenz bis hin zur Feindschaft zwischen Nationen noch stärker betont, um sich selber seiner eigenen Identität gewiss zu werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden wir dieses Dilemma in ganz Europa vor, etwa in Italien, Polen oder Griechenland. Überall dort bilden sich Nationen, die auf Exklusivität und der identitären Abgrenzung von anderen aufbauen. Sehr häufig ist Krieg die Folge dieser Gemengelage. Manche heutigen Entwicklungen in Ost- und Ostmitteleuropa erinnern an diese Prozesse.
HMD: Ja.
AW: Tatsächlich kann man sich fragen, ob in der Ukraine, aber auch in Ungarn oder Polen derzeit verspätete oder gewissermaßen neu-alte Nationsbildungsprozesse stattfinden. Die Vermittlung zwischen Staat und Bevölkerungen oder Nationen und Staatsformen, ja, der Widerstreit zwischen Demokratie und Autokratie war in Westeuropa zwischen 1815 und 1945 ein großes Thema. Manches davon wird heute in weniger traditionsstarken Gebieten, vor allem in Osteuropa, nachgeholt.
HMD: Deutschland und Frankreich haben im 19. Jahrhundert sehr gute Beispiele dafür gegeben, wie sich das Eigene über die Abgrenzung vom anderen definieren lässt. Die Rheinkrise von 1840 etwa war ein typisches Manöver der französischen Diplomatie. Nachdem Frankreich in der Orientkrise 1839–1841 eine ziemliche Niederlage erlitten hatte, setzten die französische Presse und die Diplomatie die Forderung Frankreichs nach dem Rhein als seine natürliche Ostgrenze in die Welt. Also wieder dieser Rhein. Mit unglaublicher Schnelligkeit löste das eine ernstliche Krise zwischen Deutschland und Frankreich aus, in der eine ziemlich atemberaubende Lyrik entstand. Man muss sich die sogenannte »Rhein-Lyrik« mit ihren frankreichfeindlichen Komponenten des deutschen Nationalismus einmal anschauen. Etwa die berühmte »Wacht am Rhein«, die 1840 von Max Schneckenburger verfasst wurde. Darin beteuert etwa »der deutsche Jüngling fromm und stark«:
Du Rhein bleibst deutsch wie meine Brust!
[…]
Und ob mein Herz im Tode bricht,
Wirst du doch drum ein Welscher nicht.6
Mit »du« ist hier der Rhein gemeint, der nicht französisch werden darf. Oder das »Rheinlied«:
Sie sollen ihn nicht haben
Den freien deutschen Rhein,
Bis seine Flut begraben
Des letzten Manns Gebein!7
Aus unserer Sicht klingt diese Rheinlyrik ziemlich schwülstig, aber sie hat dazu beigetragen, dass sich in der »Wacht am Rhein«, ja sogar in der Germania als Statue, die den Fluss hütet, ein Gefühl kristallisiert hat. Nicht nur das Volk, sondern wieder einmal auch die deutschen Liberalen waren nun überzeugt: ›Der Rhein gehört uns, wir sind wir und die andere Seite ist wieder einmal gefährlich.‹ 1840 wurden aber auch um Paris herum Festungen gebaut für den Fall, dass Deutschland angriff – Festungen, die dann eine Rolle spielen werden bei der Besetzung von Paris im Rahmen des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71.
AW: Zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges von 1870/71 gehört natürlich auch die Schlacht von Königgrätz 1866 und damit die Auflösung des deutschen Dualismus zugunsten der neuen Großmacht Preußen. Dass Preußen im späteren Kleindeutschland mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 die Vorherrschaft erlangte, war für die Franzosen ein gefährlicher Wendepunkt, gerade für die Bonapartisten. In Frankreich gewann man den Eindruck, dass das Mächteverhältnis sich zwischen Frankreich einerseits und der Mitte des Kontinents zu verschieben drohte, und zwar dauerhaft. Deswegen ist in Frankreich oft von der Revanche für Sadowa die Rede, wie die Schlacht von Königgrätz im Französischen genannt wird.
HMD: Diese Schlacht ist tatsächlich in Frankreich zu einem Trauma geworden. Aus französischer Sicht lässt sich die Geschichte des 19. Jahrhunderts so zusammenfassen: Man wohnt der deutschen Nationalstaatsbildung mit ihren verschiedenen Etappen bei. Zunächst einmal wird Deutschland wirtschaftlich groß, etwa mit dem Zollverein von 1834, aber man denkt sich, die sind zum Glück mit diesem Dualismus beschäftigt. Schließlich gibt es im Süden mit Österreich eine zweite deutsche Macht, die der Gefahr, die aus Preußen kommen könnte, die Waage hält. Österreich konnte ein sehr guter Verbündeter Frankreichs sein. Durch den Krieg um Schleswig und Holstein 1864 sowie den Krieg zwischen Österreich und Preußen mit dem Sieg Preußens geriet aus der Sicht Frankreichs (damals das Kaiserreich Napoleons III., das sich als die Großmacht Europas verstand) das Gleichgewicht in Europa ins Wanken.
AW: Traditionell wird in den deutschen Schulbüchern all das als Werk Otto von Bismarcks beschrieben, der an den Schalthebeln gesessen habe. Zuerst habe er die deutsche Frage durch den Sieg über Österreich-Ungarn gelöst und dann sehr zielgerichtet auf die Auseinandersetzung mit Frankreich hingewirkt, während er die süddeutschen Staaten mit Schutz- und Trutzbündnissen im Namen einer deutschen Nation an Preußen zu binden versuchte.
HMD: So wird es auch in Frankreich erzählt. Das passt zur Vorstellung eines heimtückischen und kriegslüsternen Realpolitikers Bismarck, der einen Masterplan hatte und so kaltblütig wie bedenkenlos Frankreich provozierte.
AW: Ja. Aber schaut man sich die französische Haltung an, dann ist das nicht mehr so eindeutig.
Napoleon III., der von 1852 bis 1870 Kaiser der Franzosen war, ist ja einerseits ein Champion der Nationalbewegungen in Europa, jedenfalls solange diese Nationalbewegungen im machtpolitischen Interesse Frankreichs liegen. In diesem Sinne unterstützte Frankreich die Einigung Italiens, die Camillo Benso von Cavour und das Königreich Sardinien vorantrieben. Über das Haus Piemont hat Napoleon III. die italienische Nationalstaatsgründung von 1860 ganz gut unterstützt. Als Gegenleistung sicherte er sich die Stadt Nizza, die damals französisch wurde.
Nach 1866 spielte er allerdings ein doppeltes Spiel, das auch für die Zeit nach 1870/71 in Frankreich von Bedeutung ist. Napoleon III. versuchte, ein Bündnis mit Österreich herzustellen, wie du gerade gesagt hast. Er empfahl den Österreichern, Schlesien zu annektieren, das 1740 (allerdings auch nicht gerade völkerrechtlich korrekt) preußisch geworden war. Zudem sprach er von einem Südbund, den Österreich-Ungarn gegen Preußen doch vielleicht gründen sollte usw. Im Zuge dessen schlug er den Österreichern vor, sie könnten Schlesien als Kompensation erhalten, wenn dafür Frankreich das linke Rheinufer bekäme. Damit sind wir wieder beim Thema »Rhein«, also dieser alten Vorstellung von der natürlichen Ostgrenze Frankreichs.
All das sind Denkweisen, die aus einer früheren Zeit kommen. Solche Ringtauschvorstellungen, wie sie im 18. Jahrhundert sehr beliebt waren, haben mit einer national begründeten Politik, die also auch das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« irgendwie berücksichtigen würde, nicht viel zu tun. Vielmehr haben wir es mit einer sehr traditionellen Machtpolitik zu tun, die Napoleon III. in dieser Zwischenphase zwischen 1866 und 1870 intensiv betrieb.
HMD: Er betrieb sie so intensiv, weil in der französischen Wahrnehmung mit Preußen plötzlich eine Macht in der Mitte Europas entstanden war, die tatsächlich gefährlich war, und man kann diese Suche nach einem Bündnis oder nach einer Verständigung mit Österreich vor diesem Hintergrund verstehen. 1866/67 kippte wirklich etwas in Europa. In Paris feierte damals eine Operette von Jacques Offenbach große Erfolge, die La Grande-Duchesse de Gérolstein, also ›Die Großherzogin von Gerolstein‹, hieß. In dieser sehr lustigen Operette kommt ein lächerlicher General Bumm vor, und im Grunde wird die deutsche Kleinstaaterei mit ihren albernen kleinen Herzoginnen oder Gräfinnen zum Gespött gemacht. Und plötzlich sieht man auf der Weltausstellung von 1867 in Paris, die selbstverständlich als Selbstzelebrierung des französischen Kaiserreiches gedacht war, dass der preußische Pavillon der größte neben dem Bayerns und Badens war, mit einer Riesenstatue der Germania in der Mitte.
AW: Und einer Krupp-Kanone.
HMD: Und einer Kanone, genau. In diesem Moment ahnte man in Frankreich, dass es ernst wird mit dieser aufsteigenden Macht in Europa. Preußen wurde wirtschaftlich, dank des Zollvereins und der ›Vereinfachung‹ der deutschen Karte, die die Rahmenbedingungen für die expandierende Wirtschaft verbesserte, sowie mit seiner Industrie ein ernst zu nehmender Kontrahent.