Читать книгу Bei Autodiebstahl - Mord! Berlin 1968 Kriminalroman Band 53 - Wolf G. Rahn - Страница 5
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Bernd Schuster hörte die Musik bereits, als er den Fahrstuhl im 14. Stock verließ. Er schloss auf und begann, die Melodie mitzusummen. Seine Tochter Lucy war schon aus der Schule zurück und hatte die gute, alte Braun-Musiktruhe mit dem ersten Album der englischen Pop-Gruppe The Who gestartet. Als er nach vorsichtigem Anklopfen ihr Zimmer betrat, bemerkte ihn Lucy nicht – die Musik war auf volle Lautstärke gedreht, und die brachialen Gitarrenklänge von Pete Townshend ließen den Boden vibrieren. Bernd blickte auf den Plattenteller, wo sich das schwarze Label mit dem Schriftzug der Plattenfirma ‚Brunswick‘ drehte.
„Hey, Dad!“, rief ihm Lucy jetzt zu. „Heiß, was?“
Und dann legten Vater und Tochter eine preiswürdige Twist-Nummer auf dem Teppich hin, die schließlich aus der Küche heftigen Beifall erhielt.
Franziska Jahn hatte für alle gemeinsam das Mittagessen an diesem Tag zubereitet – und gleich darauf tanzten die drei nach den heißen Rhythmen, dass die Decke im 14. Stock vibrierte und schließlich die Mieter unter ihnen mit heftigem Besenstielklopfen gegen den Lärm protestierten.
Lachend unterbrachen sie das Tanzen und ließen den Tonabnehmer zurückgleiten.
„Okay, das war die richtige Gymnastik vor dem Essen. Es gibt aber nur Spagetti mit Spiegeleiern und Tomatenmark!“
„Hört sich doch gut an, danke, Franzi!“
Beim Essen lief die Langspielplatte weiter, aber mit deutlich gedämpfter Lautstärke.
Ein paar Straßen weiter spielte sich eine Szene ab, die indirekt auch etwas mit der Musik der Pop-Gruppe zu tun hatte.
Stefan Renner war alles andere als zufrieden. In seinem Leben hatte es zwar schon miese und sehr miese Tage gegeben. Doch dieser hier gehörte ohne Frage zu den allermiesesten.
Er brauchte dringend Geld. Die Miete war er seit zwei Monaten schon schuldig. Die Haare schnitt er sich selbst, und sein Speisezettel bot die Abwechslung einer Armenküche wie bei der Heilsarmee. Da war es ja noch im Gefängnis angenehmer!
Stefan schüttelte sich. An den Knast wollte er lieber nicht denken. Die achtzehn Monate gehörten zu seinen unerfreulichsten Erinnerungen.
Damals hatte er auch dringend Geld benötigt. Eine Situation wie jetzt. Es war ganz einfach gefährlich, unter finanziellem Druck arbeiten zu müssen.
Der Ganove blieb unter einer Straßenlaterne stehen und zündete sich ungeschickt eine Zigarette an.
Der flackernde Lichtschein des Zündholzes fiel auf das magere Gesicht mit den etwas hervorstehenden Augen und der leicht gekrümmten Nase.
Sein Blick blieb an einem Mercedes Benz /8 hängen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Ganz verlassen und traurig stand der Wagen da, unter Kennern schon bald als „Strich 8“ bezeichnet. Ein Superauto, das gerade erst in diesem Jahr auf den Markt gekommen war. Absolutes Sahnestück!
War es nicht Stefan Renners Pflicht, sich dieses bedauernswerten, einsamen Fahrzeugs anzunehmen?
Stefan Renner warf einen Blick über seine Schulter. Nein, es kam niemand. Das hier war eine recht einsame Gegend.
Er setzte sich in Bewegung und überquerte die Fahrbahn.
Als er nur noch fünf Schritte von dem Mercedes entfernt war, öffnete sich die Tür des Hauses, vor dem der Wagen stand. Ein Pärchen trat scherzend heraus und hielt auf den Strich 8 zu.
Verflucht! Es war wirklich ein mieser Tag. Heute ging alles schief. Das war nun schon der sechste Versuch, der missglückt war. Vielleicht sollte er doch besser umsatteln und in Zukunft gebrechlichen Rentnerinnen die Handtaschen klauen. Dazu war er wohl hoffentlich noch in der Lage.
Stefan Renner schwenkte geschickt ab und bog um die Ecke, während hinter ihm der Motor des Mercedes Benz angelassen wurde und der Wagen sich entfernte.
Die Augen des Autoknackers schienen plötzlich noch etwas weiter hervorzutreten, als er die schwarze Limousine in der Hauseinfahrt entdeckte. Ein Jaguar XJ. Ein Traumwagen mit allen Schikanen und ebenfalls gerade erst in diesem Jahr auf den Markt gekommen. Diese exklusiven Limousinen fand man nur zu dieser Zeit in West-Berlin. So einen Schlitten würde er mit einem Riesengewinn für sich rasch wieder verkaufen können – zumal sein Einsatz ja nur in seinem Werkzeug bestand.
Schon von Weitem sah er, dass die Tür auf der Fahrerseite nicht ganz geschlossen war. Der Besitzer würde gleich zurückkommen. Wahrscheinlich hatte er nur etwas im Haus vergessen.
Stefan Renner überlegte nicht lange. Vielleicht war dieser Tag doch nicht ganz so schlecht.
Er sprintete los, umrundete den Wagen und warf sich auf die atemberaubend weichen Polster.
Er wollte schon den Draht aus der Tasche nehmen, den er zum Kurzschließen von Zündungen stets bei sich trug, als er den Schlüssel entdeckte.
Das war ja zu schön, um wahr zu sein. Ein Geschenk des Himmels. Leichter ging es wirklich nicht mehr.
Der Motor war beim Anlassen kaum zu hören. Lautlos glitt der Jaguar auf die Straße und gehorchte dem Autodieb, der ihn in weitem Bogen nach links zwang.
Einen solchen Wagen zu fahren war ein Genuss. Stefan Renner hätte ihn liebend gerne für sich behalten. Wenigstens ein paar Wochen.
Doch das ging nicht. Erstens würde ein Kerl wie er in einer solchen Luxuskarosse schon nach einer Stunde auffallen und das Misstrauen der Polizisten auf sich ziehen. Und zweitens brauchte er das Geld nötiger als eine Karre, die dazu noch einen unverschämten Durst entwickelte.
Dass sich die Außenspiegel mühelos von innen einstellen ließen, verstand sich von selbst. Stefan Renner erledigte diese Handgriffe und zuckte im gleichen Moment zusammen.
Eine dunkelblaue Limousine schoss hinter ihm aus einer Seitenstraße heraus und nahm mit quietschenden Reifen Kurs auf ihn.
Die Polizei! Das hätte er sich ja denken können. An einem solchen Tag fasste man am besten erst gar nichts an. Nicht einmal einen Jaguar XJ.
Aber noch gab sich Stefan Renner nicht geschlagen. Seine Verfolger waren ihm unterlegen, was ihren fahrbaren Untersatz anging.
Er gab Gas, und der Motor dieser Raubkatze ging wie eine Rakete los. Nur wesentlich leiser.
Seine Verfolger blieben dran. Jetzt waren die letzten Zweifel beseitigt. Sie meinten ihn.
Stefan Renner presste die Lippen zusammen.
Also gut, Freunde! Wollen doch mal sehen, ob ihr’s mit einer Raubkatze wie dieser und mir aufnehmen könnt. Hoffentlich habt ihr bei den Schleuderkursen in euren Schulungen ordentlich aufgepasst. Sonst klebt ihr nämlich gleich am nächsten Baum.
Es war eine Freude, wie der Schlitten auf jeden noch so behutsamen Pedaldruck reagierte.
Stefan Renner hatte den Stadtplan von West-Berlin im Kopf. Das war seine Stärke. Er kannte sich in den stillen Randgebieten genauso gut aus wie im dichtesten Gewühl der Innenstadt.
Er hielt es für besser, jetzt in der Menge unterzutauchen. Um diese Zeit endeten die Theatervorstellungen und die Kinos. Der Ganove riss das Lenkrad herum und stieg gleichzeitig auf die Bremse.
Der Jaguar brach hinten aus, ließ sich aber willig in die neue Richtung zwingen. Fast ohne Tempoverlust jagte er weiter.
Hinter ihm kreischte es. Die Verfolger hatten wesentlich mehr Mühe, ihm dieses Manöver nachzumachen. Sie schafften es zwar auch, aber sie verloren fast hundert Meter dabei.
Jetzt hatte er Zeit genug, um zwei Straßenecken zu biegen und damit seine Verfolger an der Nase herumzuführen. Sie rechneten bestimmt nicht damit, dass er wieder zurückfuhr. Ein alter Trick.
Mist! Den hatten sie anscheinend doch gekannt. Der dunkelblaue BMW tauchte jetzt seitlich von ihm auf. Mit diesem Manöver hatte sich Stefan Renner selbst in den Hintern getreten.
Unweit von ihm blitzte es auf. Etwas knallte hinten gegen den Kofferraum.
Jetzt wurde es ernst. Die Halunken machten von der Schusswaffe Gebrauch.
Der Gauner biss die Zähne zusammen. Es war ungewöhnlich, auf einen kleinen Autodieb gleich zu schießen. Wahrscheinlich glaubten sie, einer organisierten Autoknackerbande auf der Spur zu sein. Die Konkurrenz betrieb dieses Geschäft ja im großen Stil.
Sie stellten das Feuer nicht ein, aber inzwischen hatte Renner den Abstand wieder vergrößert, sodass ihn sämtliche Kugeln verfehlten.
Er ärgerte sich. Der Einschuss machte ihm zusätzliche Arbeit.
Aber vielleicht übernahm sein Kumpel den Schlitten so, wie er war, und führte die Reparatur und die neue Lackierung selbst aus. Allerdings würde das den Preis erheblich drücken.
Doch darüber konnte er sich später Gedanken machen. Vorläufig war noch gar nicht sicher, dass er die Beute auch behalten durfte. Seine Anhängsel waren mächtig hartnäckig.
Er peitschte den Jaguar kreuz und quer durch die Innenstadt und immer wieder über die Autobahn 100. Erst als er in Höhe Charlottenburg den BMW nicht mehr sah, schoss er auf eine Ausfahrt zu und fuhr ab auf die 111 in Richtung Wedding.
Auch hier war er sich noch nicht sicher, dass er es geschafft hatte. Mehrmals wechselte er danach die Fahrtrichtungen und konnte die ganze Zeit von der Polizei nichts mehr sehen, und auch andere Streifenwagen kümmerten sich nicht um ihn.
Da endlich wurde Stefan Renner ruhiger, und er begann sich über den gelungenen Coup zu freuen.
Er brauchte jetzt unbedingt einen Drink. Nur einen ganz kleinen, denn er wollte die Übersicht nicht verlieren.
Er stellte den Jaguar in einem Parkhaus ab und verschloss sorgfältig die Fahrertür.
Beim Vorbeigehen stellte er erleichtert fest, dass die Kugel nicht den Lack beschädigt, sondern lediglich eine Zierleiste ein wenig plattgedrückt hatte. Das war nicht der Rede wert.
Gut gelaunt fuhr er mit dem Lift hinunter und trat ins Freie.
Auf den ersten Blick entdeckte er das Lokal mit dem interessanten Namen „Sandokans Schwert“ aufgrund der grellen Lichtreklame.
In solche nicht gerade billigen Lokale hatte er seine Nase schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesteckt. Heute konnte er sich das leisten. Der Jaguar würde ihm mindestens fünf Riesen bringen.
Stefan Renner überprüfte seine Barschaft, bevor er das Nachtlokal betrat. Sechzehn D-Mark und dreißig Pfennig. Das reichte für einen Drink oder auch zwei.
Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür.
Als er den Mann am Ecktisch erkannte, der genau in seine Richtung blickte, erschrak er heftig. Ausgerechnet!
Am liebsten wäre er rückwärts wieder auf die Straße gerannt, doch damit wäre er erst recht aufgefallen.
Also gab er sich Mühe, ein möglichst unbefangenes Grinsen zu zeigen. Er wusste aber schon im Voraus, dass er damit bei diesem gerissenen Fuchs nicht durchkommen würde.