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Absturz

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Als Feldkamp am Montagmorgen, dem 23. Januar, den Haupteingang des Ignaziuskrankenhauses betritt, begrüßt er wie immer Frau Schmidt an der Pforte mit Handschlag. Pforte und Lager sind extraterritoriale Gebiete in einem Krankenhaus. Die Pforte ist die Nabelschnur zur Realwelt, der Lagerist deren Zwischenhändler. Ohne diese beiden hängt ein leitender Arzt ziemlich in der Luft.

„Guten Morgen, Herr Doktor!“, lächelt die Schmidt etwas gezwungen. „Schön, dass Sie wieder im Lande sind.“

Seine Sekretärin Erna Mahler ist seine Nabelschnur zur Klinikwelt. Alles, was die Klinik betrifft, erfährt er von ihr. An der Mahlerin gehen weder Tratsch noch Gerüchte vorbei. Sekretariate sind Sammelbecken von Gerüchten, und Gerüchte bedeuten Macht. Der Trichter aller Klinikgerüchte ist die Röntgenabteilung, weil dort jeder Patient irgendwann einmal durchmuss und sich das Personal dort erfahrungsgemäß trifft. Frau Mahler pflegt deshalb ihre Verbindungen nach dorthin.

„Guten Morgen, Chef. Die Geschäftsleitung will Sie unbedingt sehen. Ich glaube, da braut sich was zusammen“, begrüßt sie ihn besorgt.

„Ach, sicher wegen des ausländischen Mädchens, das ich ohne Kostenübernahmegarantie operiert habe. Ginge es um die eigene Tochter von diesen Kerlen, spielten Kosten keine Rolle“, brummt er.

Seine drei Tage auf der Bühne des Leids von Fordo rücken mit jeder Minute in weitere Ferne. Der beste Schwamm für ein schlechtes Gewissen sind die Pressionen des Alltags.

Doch es geht nicht um die Operation vom Donnerstag. Das ahnt er sofort, als er im Konferenzraum Geschäftsführer Koenig mit dem Personalchef und dem Hausjuristen trifft, die auf ihn warten. Koenig begrüßt ihn so warm, als freue er sich auf einen Leckerbissen.

„Herr Doktor Feldkamp, schön, dass Sie wieder im Lande sind.“

Hatte ihn die Schmidt nicht ähnlich begrüßt? Feldkamp ist auf der Hut.

„Wo waren Sie denn seit Donnerstag 13 Uhr 30?“, fragt Koenig lauernd.

Feldkamp dämmert, dass Thor und Zach ihn belogen haben. Hier ist niemand von seinem Fernbleiben benachrichtigt worden. Wieder einmal von Zach gelinkt, denkt er. Das letzte Mal, als er gelogen hatte, ist es mächtig schiefgegangen. Man sollte beim Lügen möglichst nahe bei der Wahrheit bleiben. Also antwortet er:

„Ich, äh, habe in Algier eine Notoperation durchführen müssen.“

„In Algier?“, ruft Koenig, der sichtlich ein glucksendes Lachen unterdrückt. „Und Sie haben es nicht für nötig befunden, eine Erlaubnis dafür einzuholen? Oder Ihren Arbeitgeber von Ihrer Abwesenheit – die er ja bezahlt – wenigstens zu benachrichtigen?“

„Ich dachte, das hätte man für mich erledigt.“

„Um bei Ihrem unbestimmten man zu bleiben: Das nennt man unerlaubtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz“, schaltet sich Dr. Müller, der Hausjurist, ein. „Das schon wäre ein Grund für eine Abmahnung. Aber da kommt ja noch einiges hinzu. Sie haben ein viertausend Euro teures Operationsset aus unserem Operationsbestand entwendet. Aufgrund dieses fehlenden Operationssets konnte am Freitag ein Patient nicht operiert werden und musste in die Uniklinik verlegt werden. Dadurch entgingen dem Haus über 14.000 Euro Einnahmen, von der Rufschädigung durch eine unnötige Patientenverlegung in ein Konkurrenzkrankenhaus ganz abgesehen. Was ist Ihre Meinung dazu?“

„Ich, ähm, habe einem Menschen helfen wollen.“

„Sie haben einem Menschen helfen wollen!“, lacht Koenig sarkastisch und lässt sich mit ausgebreiteten Armen zurück in seinen Chefsessel fallen. „Sie helfen einem Menschen in einem Land, das man keinesfalls als Mitglied der Staatengemeinschaft betrachten kann? Hat nicht jemand Algerien als die Achse des Bösen bezeichnet?“

„Das war George W. Bush und es war nicht Algerien, sondern der Iran“, sagt Feldkamp leise. „Aber einem Menschen ist es egal, unter welcher Achse er liegt. Hauptsache, jemand zieht ihn da hervor.“

„Oh, wir kennen Ihre altruistische Einstellung. Aber von Ihrer poetischen Ader haben wir nichts gewusst. Sie können sich das leisten. Wir, das Krankenhaus, nicht“, ruft Herr Koenig.

„Es tut mir leid, wenn ich das gewusst hätte ...“, sagt Feldkamp kleinlaut. Er hat noch niemals einen Menschen gehasst. Er wird es auch jetzt nicht, nimmt er sich vor. Er blickt an Koenig vorbei, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Natürlich hält er sich für den besseren Geschäftsführer. Jeder Arzt tut das, so wie sich jeder Wähler für den besseren Kanzler hält.

„Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel“, presst er hervor.

„Von Ihnen oder von wem?“, fragt Koenig grinsend. „Beschuldigen Sie wieder einmal die Verwaltung? Sagten Sie nicht am Donnerstag im OP ‚Wenn es um Geld geht, ist die Verwaltung schnell wie der Wind. Folge in der Medizin dem Geld und du stößt auf Verantwortungslosigkeit‘? Sieht so Ihre Solidarität mit Ihrem Arbeitgeber aus?“, schreit Koenig, dessen Erregung auf Feldkamp irgendwie künstlich wirkt.

Feldkamp schluckt. Er ballt die Fäuste, das Hemd wird ihm eng, er ringt nach Luft und am liebsten will er weg von hier. Er schließt die Augen und sieht sich auf dem Fahrrad sitzen und nach irgendwohin fahren. Am liebsten dorthin, wo es keine Juristen und Geschäftsführer gibt. Am besten keine Spuren hinterlassen. Geld in bar mitnehmen, damit man keine Abhebungen machen muss, die den Aufenthaltsort verraten.

Da kann nur ein großes Komplott dahinterstecken. Er hat Zach doch nur helfen, einen Freundschaftsdienst leisten wollen. Nicht einmal Geld hat er dafür verlangt. Einzig die Zusicherung, er bekäme für diese Hilfe keine Probleme mit seinem Arbeitgeber, hat ihm für ein bedingungsloses Ja zur Hilfe gereicht. Weshalb lässt Zach ihn jetzt hängen? Für die Hinwendung zum Nächsten hat Feldkamp selten Lohn bekommen, aber Nachteile auch nicht. Feldkamp beneidet die Gläubigen. Auf die wartet der Lohn im Paradies, ein Gerücht selbst für die, die dort wohnen.

Feldkamp schweigt. Er hätte es wissen müssen. Sie haben seine Abwesenheit genutzt und alles gesammelt, was gegen ihn verwendet werden kann. Wie hat er nur so dumm sein können und meinen, fachliches Können allein sei in einer Klinik ausreichend!

„Sie werden verstehen, dass es für uns nur eine Konsequenz geben kann. Wir müssen Sie fristlos freisetzen“, sagt Dr. Müller. Er hat seine Tonlage etwas heruntergeschraubt.

Freisetzen. Freisetzen? Freisetzen!

Das Entsetzen lässt Feldkamps Gedanken beinahe sichtbar zur Decke steigen. Freisetzen, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, alles Euphemismen für du bist gefeuert!, denkt Feldkamp fassungslos. Ist es das, was er selbst wollte, ist es das, was Koenig wollte? Plötzlich sieht er sein Abhauen aus der Realität, sieht er eine Fahrradfahrt nach irgendwohin in anderem Licht. Gar nicht mehr heroisch, gar nicht mehr befreiend, jetzt, da er freigesetzt ist. Wo bleiben dann die Einkünfte, um Tankreds Spielschulden zu bezahlen, was wird seine Frau meinen, wenn sie ihre Ansprüche noch mehr einschränken muss? Vor zwanzig Jahren hat sie Zach für ihn verlassen und vergleicht ihn seither beinahe täglich mit ihm.

„Sie können natürlich Widerspruch einlegen“, sagt Dr. Müller nachsichtig, weil er Feldkamps inneres Drama ahnt. „Dann müsste in einer Gerichtsverhandlung Ihre Beziehung zu einem international fragwürdigen Land offengelegt werden. Womöglich wird man von Ihnen den Namen des von Ihnen Operierten wissen wollen. Womöglich steht dieser seinerseits in Beziehung zu einer terroristischen Vereinigung.“

Terroristische Vereinigung! – Er und Terrorismus, so undenkbar wie Mutter Teresa als Attentäterin. Aber natürlich würden sie alles tun, um ihn loszuwerden. Er hat ihnen seinen Kopf auf dem Silbertablett serviert. Irgendwo muss es einen Umverteiler geben, der die Kraft der Schwachen raubt und sie den Starken gibt.

Dr. Müller hebt entschuldigend beide Hände, als er Feldkamps fahles Gesicht sieht.

„Das ist nicht unsere Meinung. Aber so würde es dann in der Presse stehen: Gefeuerter renommierter Neurochirurg Mitglied einer terroristischen Vereinigung? Und seien Sie sicher, keine Zeitung würde dieses sie von aller Verantwortung befreiende Fragezeichen vergessen. Wollen Sie das sich und Ihrer Familie antun?“

Das will Feldkamp nicht. Er will sich auch nicht vor seiner Frau Pergola blamieren. Selbst wenn sie nichts sagt, sieht sie ihn doch täglich abschätzig an. Deshalb verschweigt er ihr die Katastrophe.

„Wie war es? Du warst lange weg“, meint sie und blättert eine Seite ihres Modejournals um.

Sie fühlt sich von ihm gestört und hofft, er möge schnellstmöglich in sein Arbeitszimmer verschwinden. Feldkamp kennt das, und er hat sich dem schon längst unterworfen.

„Es gibt solche und solche Tage. Heute war ein solcher Tag.“

Das sagt er immer, wenn ein Tag anders als erwartet verlaufen ist. Doch heute wünscht er keine Nachfrage.

„Ich meine, wo du von Donnerstag bis jetzt gewesen bist. Nicht, dass mich das was anginge. Ich bin ja nur deine Frau und keiner deiner Kollegen oder Patienten.“

Feldkamp lässt sich ächzend neben sie auf das Sofa fallen und legt die Aktentasche wie ein Schutzschild über seine Knie. Er nickt stumm. Natürlich hat sie wie immer Recht. Seine Kündigung hat alles andere in den Schatten gestellt, unwichtig und fade werden lassen. Pergola rückt ein wenig von ihm ab.

„Ich war in Algier.“

„Bei Wolfgang?“

„Ich habe dort operiert. Aber irgendwie ging alles schief. Man sagte mir, man habe dich benachrichtigt. Aber offensichtlich ist das nicht geschehen.“

Pergola blättert ununterbrochen ihr Journal um. Als sie am Ende angekommen ist, fängt sie wieder von vorne an.

„Das ist ja wieder typisch für dich“, lacht sie bitter. „Um deinen Nächsten kümmerst du dich einen Dreck. Wie ich zurechtkomme, ist dir egal, und Tankreds Probleme verdrängst du erfolgreich. Er braucht Geld.“

Harry Feldkamp schweigt eine Weile. Es hat keinen Zweck, sich zu verteidigen, sie würde es nicht verstehen.

„In was ist der Kerl da reingeraten?“, fragt er dann. „Unser Sohn ist auf der schiefen Bahn.“

„Seit wann kümmert dich das?“, schnaubt sie. „Du vergräbst dich in deiner Klinik und überlässt mir die Drecksarbeit. Jahrelang hast du feige die Augen verschlossen und von pubertären Auswüchsen geschwafelt. Aber jetzt, wo die Auswüchse Geld kosten, ist dein Sohn auf der schiefen Bahn und ich bin schuld, so.“

Pergola ist immer noch attraktiv und sie hat nichts von ihrer Unberührbarkeit verloren, auch wenn das Seidenweiße ins Elfenbeinfarbene übergegangen ist, denkt er. Doch an eine Berührung, die über das Zufällige hinausginge, ist nicht zu denken.

„Vielleicht sollte ich mich mehr um ihn kümmern“, sagt er leise.

„Da wird sich Tankred aber freuen!“, lacht sie sarkastisch.

Feldkamp kann nicht mehr schlafen, weil er mit Zach hadert. Er steigert sich jede Nacht in gedankliche Diskussionen mit ihm hinein, die ihn bis zum Morgen wachhalten. Um sechs Uhr muss er übermüdet Bett und Wohnung verlassen, um den Schein einer beruflichen Tätigkeit zu wahren. Er kann sich nicht in Frankfurt sehen lassen, weil ihm dort sicher ein Kollege über den Weg laufen würde. Das Gleiche gilt für Mainz und Wiesbaden. Er ist zu bekannt. Er sucht im Ärzteblatt in den Stellenanzeigen nach etwas Passendem. Seine Bewerbungen schreibt er in Internetcafés, weil er Pergola fürchtet. Doch niemand möchte einen geschassten leitenden Arzt von bald fünfzig Jahren einstellen. Er fährt sogar persönlich vor, bietet sich wie Sauerbrot in Vorstellungsgesprächen an. Vielen ist er bekannt, weil die Neurochirurgie ein kleines Fachgebiet ist, in dem jeder jeden kennt. Das ist peinlich!

Man will wissen, weshalb er als erfolgreicher Neurochirurg mit 48 Jahren einen Neuanfang wagen will, weshalb ausgerechnet hier bei uns? – Ah, Sie wollen von dort weg, verstehe. Wir stellen uns eher Mitarbeiter vor, die zu uns hin wollen.“

Wenn es gut läuft, schweigen die Gesprächspartner und sagen zum Schluss „Wir lassen von uns hören!“.

Wenn es schlecht läuft, will man von ihm wissen, weshalb man ihn denn freigesetzt habe: unerlaubtes Sichentfernen vom Arbeitsplatz, Entwendung von Klinikeigentum, despektierliches Reden über die Geschäftsführung – ach ja? – peinlich, peinlich!

Und abends erzählt er Pergola von erfundenen Operationen.

Schließlich engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe. Doch der Umgang mit den unwilligen, jedes Fremde ablehnenden Fundamentalisten frustriert ihn. Nicht viel anders ergeht es ihm bei der Nachhilfe für Kinder aus dem Prekariat.

„Aber mei Papa sacht, des brauch isch net wisse. Isch will jetzt de Oliver Geissen sehe …“ Das ganze Land scheint zum Prekariat geworden zu sein und er gehört jetzt dazu, denkt er.

Die leere Zeit stürzt ihn noch mehr in Verzweiflung. Über seiner Arbeit und seinem Engagement für andere hat er die Belange des eigenen Sohnes vergessen. Tankred hat ihn einfach nicht interessiert. Sein Beruf war die beste Therapie, um Tankreds Probleme zu verdrängen. Das ist jetzt vorbei. Er muss ihn jeden Tag sehen. Tankred hält mit dem Erreichen eines mittelmäßigen Abiturs seine Lebensleistung für abgeschlossen.

***

„Ich brauch Geld!“

So lautet der einzige Satz, den der Sohn und an den Vater richtet. Feldkamp kann nicht Nein sagen, doch er möchte wissen weshalb und verfolgt einen Tag lang den Lebensweg seines Sohnes.

Er nutzt den Vormittag, an dem Pergola im Tennisclub ist. Er hätte auch den Golfclubtag nehmen können. Doch beim Tennis ist sie länger fort, weil ihr der Tennislehrer gefällt.

Als er gegen elf Uhr zu Hause eintrifft, findet er Tankred vor dem PC, wo er wie besessen Online-Poker spielt. Wütend reißt Feldkamp den Stecker aus der Dose. Der PC stürzt ab, Tankred heult auf: „Gerade wo ich am Gewinnen bin!“

„Du bist nie am Gewinnen. Ich werde dir kein Geld mehr für deine Sucht geben! Such dir einen Job wie andere auch“, schreit der Vater seinen Sohn an.

Das sind die eher ungeeigneten Sätze für eine Suchttherapie. Tankred kann nicht ablassen. Ihn verfolgt seine Spielsucht und Harry Feldkamp verfolgt ihn. Er stellt seinem Sohn nach, sieht, wie dieser mit Kumpels ins Spielkasino in Wiesbaden geht. Er selbst fühlt sich dort fremd. Doch sein zwanzigjähriger Sohn benimmt sich wie ein alter Hase.

Es ist an einem späten Nachmittag mitten in der Woche. Nur drei Roulette-Tische und zwei Black-Jack-Tische sind frei. Tankred geht von Tisch zu Tisch und wirft Chips auf die Nummernquadrate des grünen Filzes. Man hört das unterschiedliche Klicken der Chips, je nachdem ob sie geworfen, gestreut oder zu Türmen gestapelt werden. Alles scheint sich irgendwie zu einem organischen Geräuschensemble zusammenzufügen, das sich aus dem Hörbewusstsein herausschleicht und sich in einem eigenen Luftstrom verwirbelt. Und durch dieses Gegeneinanderreiben, Klicken und Gleiten entsteht, für den sensiblen Zuhörer, ein eigener Ton, ähnlich der von Zikaden, ähnlich einer Filmmusik, die den Untergang begleitet. Da gibt es keinen James-Bond-Typen, gut gekleidet, lässig, Martini trinkend – gerührt und nicht geschüttelt. Alle sind sie verlorene Seelen, zugedröhnt und bedrückend still. Nur ein „Rien ne va plus!“ ist zu hören. Tankreds Finger, die wie eine Spinne die Chips umkrallen, nachdem er die Chips geworfen hat, lösen sich in dem Augenblick, in dem die Kugel noch unentschlossen über die Fächer stolpert. verkrampfen sich wie beim Schmerz eines Herzinfarkts, wenn sie ins falsche Feld fällt. Schließlich entspannen sich seine Gesichtsmuskeln und Tankred geht zum nächsten offenen Tisch weiter. Harry Feldkamp ist, als stünde er auf einer Brücke und müsste seinem Sohn beim Ertrinken zusehen.

In diesen Augenblicken ist es gut, dass er keine Waffe besitzt.

Über einen Monat lang kann er diese Farce aufrechterhalten. Zwar ärgert sich Pergola über seinen pünktlichen Dienstschluss. Nie mehr kann sie für sich am Abend alleine sein. Dann denkt sie wieder an Wolfgang Zach, bei dem jeder Tag ein Eroberungsfeldzug war.

Es ist der 20. Februar, Rosenmontag. Harry Feldkamp steht frierend als Zuschauer eines langweiligen Rosenmontagumzugs im Mainz. Angesichts der Narren fragt er sich, wie lange er sein falsches Leben noch durchhalten kann. Langsam schmelzen die letzten Ersparnisse dahin. Da nimmt ihm jemand die Entscheidung ab.

***

Am Vormittag desselben Tages verlässt Tankred die elterliche Wohnung. Wegen des blöden Faschings kann er nicht spielen. Hütchenspiel ist überall möglich, aber da wird man nur betrogen. Online-Poker und Roulette sind reelle Glücksspiele, in denen Betrug unmöglich ist. Ihn friert, er stapft mit hochgezogenen Schultern zum Hofheimer Bahnhof. Zu den Gleisen kommt man über die Unterführung, von der aus man nach links ins Parkhaus gelangen kann. Dort steht ein weißer VW-Multivan. Eine dunkelhaarige Frau mit dunkelgeschminkten Mandelaugen ruft verzweifelt aus dem Fahrerfenster:

„Entschuldigen Sie! Könnten Sie mir freundlicherweise beim Ausparken helfen? Ich schaffe das einfach nicht.“

Tankred nickt grinsend. Typisch Frau. Doch weil sie hübsch ist, hilft er ihr gerne. Er stellt sich hinter den Wagen und dirigiert mit ausladenden Armbewegungen, was sie zu tun hat.

Plötzlich springen zwei Männer hinter den benachbarten Fahrzeugen hervor. In zwei Sätzen stehen sie neben Tankred, fassen seine Arme, drehen sie nach hinten, einer drückt ihm einen Wattebausch auf das Gesicht, die Frau öffnet die die Heckklappe, ein Mann zieht Tankred die Beine weg, der andere fängt ihn auf, dann werfen sie ihn wie einen Sack halbbetäubt hinter die Sitze. Die Heckklappe schlägt zu, die beiden Männer springen vorne ins Fahrzeug, die Frau auf den Rücksitz. Mit quietschenden Reifen schlingert der Multivan aus dem Parkhaus in Richtung Autobahn.

Nach drei Stunden erreichen sie das Winzerdorf Heitersheim, von wo aus sie in Richtung Hartheim abbiegen. Dort wartet im Gewerbepark Breisgau eine Piper auf die inzwischen fest verschnürte Fracht. Drei weitere Stunden später landet das Flugzeug auf dem internationalen Flughafen von Algier. Dort wird das Paket an der Zollkontrolle vorbei auf den Parkplatz gerollt, wo man es in einen Hummer verfrachtet. Unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln wird das atmende Paket in die Außenbezirke Algiers gebracht. Der Hummer hält vor einem Einfamilienhaus mit kleinem angrenzendem Garten. Die Türe zum Garten lässt sich nur von innen öffnen.

Ein Mann mit Halsmanschette öffnet die schwere Türe und sagt:

„Gut gemacht, Thor. Jetzt kann ich Pergola anrufen.“

***

„Hier ist Wolfgang, Wolfgang Zach, dein Wolfgang!“, hört Pergola diese tiefe, brummige Stimme, die in ihrem Bauch Resonanz erzeugt und ein Kribbeln. Sie bemerkt nicht erst beim Klang der leicht elektronisch verzerrten Stimme, wie sehr sie ihn vermisst. Und sie denkt an ihr allererstes Zusammentreffen zurück, das ihn seine linke kleine Zehe kostete.

So einen muss man doch lieben, oder? Bis 1989 waren sie mit Unterbrechungen zusammen. Dann wanderte Zach nach Algier aus und wurde reich. Ein Jahr später folgte sie ihm. Doch die ewige Hitze, Staub, Lärm und das despektierliche Verhalten der Männer zwangen sie zur Rückkehr. Und da war ja noch Dr. Harry Feldkamp.

Harry konnte sein Glück kaum glauben. Der gute Harry, denkt sie. Ihm fielen immer die Augen aus dem Kopf, wenn er sie im Minirock sah. Und jetzt durfte er sogar mit ihr schlafen. Zwei Mal hatte sie es ihm erlaubt. Zwei Mal! Dann war sie schwanger. Noch heute muss sie den Kopf über sich schütteln. Hatte sie etwa an Fortpflanzung durch Zellteilung geglaubt?

„Wolfgang“, flüstert sie mit zitternder Stimme.

Zwar ist ihr Fortpflanzungsfenster geschlossen, das ihrer Sexualität aber nicht. Sie schließt die Augen und stellt sich Zach als Mann im besten Alter vor. So wie damals, als er sie am Gründonnerstag 1993 für ein halbes Jahr „ausgeliehen“ hat: Ein Hüne mit Augen, die einen in die Luft heben konnten. Rauschende Wochen in Casablanca, Agadir, Algier und Marrakesch waren es. Als sie zurückgeschickt wurde, war ihr Söhnchen Tankred ein halbes Jahr älter und erkannte sie nicht mehr. Harry hatte sie mit großen Augen angeschaut, aber nichts gesagt. Wenn man die tollste Frau im Lande bekommt, muss man halt Abstriche machen, oder? Aber die Zeit mit Wolfgang war der Wahnsinn!

„Ja, mein Mädchen“, sagt er heiser.

Beide hören den Atem des anderen, der in ihrer Vorstellung zu alterslos erotischen Filmsequenzen transformiert wird. Wenn sie einatmet, kann er das Zittern ihres Atems hören und sie das Schnauben seiner Gier.

„Ich ...“, beginnt sie und will sagen „liebe dich“, lässt es jedoch, weil sie das nicht darf.

„Ich weiß!“, beantwortet er das Ungesagte. „Ich denke so oft an dich.“

Sie lacht laut auf. Seine Lügen hört sie gerne, die kribbeln im Nacken wie eine Gänsefeder.

„Ich weiß, du hast es schwer mit Tankred und mit Harry.“

Sie schnaubt, bis Schleim aus ihrer Nase tritt. Ja, sie fühlt diese unsägliche Bürde, die Tankred ihnen allen auferlegt. Trotz Hausverbots in den Casinos gelingt es ihm immer wieder, durch die Kontrollen zu schlüpfen und sich und seine Eltern weiter ins Unglück zu stürzen. Doch woher weiß Wolfgang Zach davon?

„Ich will dir helfen, mein kleines, zartes, windverwehtes Seidentuch ...“

Sie legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. So hat er sie früher immer genannt. Sie sei so zart wie ein windverwehtes Seidentuch, hat er immer gesagt.

„Ich bezahle alle Spielschulden von Tankred. Aber er muss für ein paar Wochen hart bei mir arbeiten. Ich weiß, wie man solche Kerle von ihrer Sucht kuriert. Was meinst du dazu?“

Pergola schluckt. Damit hat sie nicht gerechnet. Wie kommt er dazu, was treibt Wolfgang nach so vielen Jahren an, sich in ihre familiären Angelegenheiten zu mischen?

„Ich weiß nicht, ich verstehe nicht, ich muss erst Harry fragen“, stottert sie.

„Harry?“, lacht Zach spöttisch. „Gib ihn mir, ich rede mit ihm.“

„Aber Harry ist doch um diese Zeit in der Klinik“, protestiert sie.

„Wo soll Harry sein? In der Klinik? Entschuldige, aber in welcher Traumwelt lebst du?“

„Ich – ich verstehe dich nicht.“

„Harry ist vor über einem Monat gefeuert worden. Er ist arbeitslos, verstehst du? Arbeitslos. Das weiß doch jeder, nur du nicht. Typisch Harry! Soll ich dir sagen, was er macht, dein Harry?“

„?!?“

„Er hockt in Cafés herum und schlägt die Zeit tot, bis er nach Hause kommen darf. Oder er bewirbt sich für einen Posten und wird abgelehnt, der arme Kerl.“

Jetzt ist das Schweigen zwischen ihnen ein anderes, bar jeder Erotik und voller ungläubigem Entsetzen auf der einen und planvoller Genugtuung auf der anderen Seite.

„Ich – ich verstehe immer noch nicht – ich glaub das nicht.“

„Du musst mir nicht glauben, frag ihn, wenn er sich nach Hause traut“, sagt er kühl.

„Aber um Gottes willen, weshalb?“

„Weil er ein Operationsset gestohlen hat und ohne Erlaubnis seinem Arbeitsplatz ferngeblieben ist.“

„Und wieso weißt du das alles und ich nicht?“

„Ich hab dich, mein Seidentuch, und Harry nie aus den Augen gelassen. Doch jetzt hat Harry übertrieben. Ich kann nicht mit ansehen, was dieser Verrückte mit dir macht. Du bist zu gut für diese Welt, verschließt die Augen vor der Wirklichkeit. Das macht nichts, du hast ja mich, der auf dich aufpasst. Lass dich von diesem Kerl scheiden, ich hol dich da raus.“

„Wolfgang!“, ruft sie voll Verzweiflung und will sogleich herausgeholt werden.

„Wir machen Folgendes: Ich nehme Tankred zu mir, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten kann und bezahle eure Schulden. Du trennst dich von Harry und wenn die Scheidung durch ist, kommen wir endlich zusammen, nach so vielen Jahren.“

„Wolfgang!“, sagt sie weinend.

„Und sag diesem Irren ausdrücklich, dass Tankred bei mir ist. Er soll ja keine Dummheiten machen“, sagt Zach hart. „Ich möchte nicht, dass er dir in seiner Verzweiflung womöglich etwas antut!“

„Mir etwas antut?“, schreit sie auf. Sie überhört dabei das unterdrückte Glucksen am anderen Ende der Leitung. „Um Gottes willen, Wolfgang, hilf mir. Was soll ich denn tun?“

„Beruhig dich, mein Liebes. Schreib ihm einen Brief. Mach ihn fertig, dieses Schwein. Und sag ihm vor allen Dingen, dass Tankred bei mir in Sicherheit ist. Du ziehst sofort in ein Hotel, weit weg von diesem Versager. Dann werden wir weitersehen.“

Mit blossen Händen

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