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Initiation

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Harry Feldkamp stapft müde und durchgefroren die Treppe zur Haustüre hinauf, als befände er sich am Einstieg zur Eiger Nordwand. Bereits als er die Türe aufschließt, fällt ihm die eigentümliche Verlassenheit des Gebäudes auf. Es riecht zwar noch nach seiner Frau und Tankred, die Zimmer sind noch warm, doch die Stille hat etwas Abschließendes.

„Pergola!“

Natürlich keine Antwort. Er eilt die Treppe nach oben, öffnet das Schlafzimmer und Tankreds Zimmer. Leer, leer, alles leer! Harry fühlt die Leere des Wegseins. Er durchsucht die Nachttischschubladen, überprüft Pergolas Kleiderschrank, dessen Leere ihm die Luft nimmt.

„Ingrid!“, schreit er und nennt erstmals seit Jahren wieder ihren wahren Namen.

Harry rennt die Treppe nach unten, rennt in die Küche und sieht den Brief auf dem Tisch. Er wagt nicht, ihn aufzureißen, fürchtet sich vor dem Inhalt, schämt sich, weil seine Frau offenbar die Wahrheit über ihn erfahren hat.

Erst in der Nacht liest er den Brief, und er liest über die eigene Schande aus dem Blickwinkel seiner Frau. Dann erst beginnt die Wut in ihm zu brodeln. Erst beim elften Durchlesen versteht er den letzten Satz: „… und ich soll dir sagen, Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit. Den kannst du auch mal abschreiben, so!“

Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit!

Doch in ihrer Naivität verrät sie ihren Aufenthalt im Flughafenhotel. Er steht bereits angezogen im Hof, mit dem Autoschlüssel in der Hand, da überkommen ihn Zweifel. Sicher wird sie ihn jetzt nicht sehen wollen. Um diese Zeit wird man ihn im Hotel auch nicht einlassen.

Er verschiebt seine Suche auf den Morgen, den er wachend erwartet. Gegen zehn Uhr fährt er zum Flughafen, weil er um die Angewohnheit seiner Frau weiß, lange zu schlafen. Er sieht sie im Frühstückssaal und wartet, bis sie sich auf den Rückweg macht. Er folgt ihr bis zu ihrem Zimmer und fühlt sich wie ein Dieb. Dann wagt er, sie schüchtern anzusprechen.

„Pergola?“

Sie dreht sich um und blickt ihn unverhohlen verächtlich an.

„Was willst du?“

„Mit dir reden.“

„Ach nein? Plötzlich will der Herr reden. Du hast mich belogen, wochenlang! Du ...“

„Können wir nicht im Zimmer darüber sprechen? Es muss ja nicht jeder hier mitbekommen ...“

„Es soll jeder mitbekommen, was für einen Mann ich habe – hatte!“

„Bitte, Pergola“, sagt er und schiebt sie sanft ins Zimmer. „Du schreibst in deinem Brief, Zach habe dir alles erzählt und Tankred sei bei ihm in Sicherheit. Tankred bei Zach! Weißt du, was das bedeutet? Das Gegenteil ist der Fall. Zach benutzt Tankred, um dich und mich zu erpressen.“

„Du spinnst ja!“, sagt sie. „Wolfgang sagt, ich könne zu ihm kommen, und genau das mache ich. Ich warte nur noch auf einen Anruf von ihm, und weg bin ich, verstehst du?“

„Du hast mich nie geliebt“, stellt er bitter fest.

„Du mich doch auch nicht. Du hast mich immer nur wie eine Monstranz vor dir hergetragen. Unberührbar, schön und vor allem schmückend. Soll ich dir sagen, dass ich, als du mir ein Kind gemacht hast, dabei an Wolfgang dachte? Ja, verdammt, ich habʼs getan und mich dabei elend gefühlt. Ich hätte ganz gerne mal ein wildes Tier wie ihn zwischen den Beinen gehabt, aber du ...“

„Du bist ordinär“, sagt er.

„Mein Gott, ja!“, ruft sie aus und streckt ihm ihre makellosen weißen Brüste entgegen. „Ich bin nicht Audrey Hepburn. Das hast du immer nur gemeint. Und glaub nur nicht, ich wüsste nicht von deinen kleinen Nutten, die du in der Klinik gevögelt hast. Du hast deine berühmte Nächstenliebe ganz schön geschlechtsgebunden verteilt. Du bist so was von verlogen, du kennst dich schon selber nicht mehr.“

Pergola wirft sich auf das Bett und schreit ins Kopfkissen, was in hemmungsloses Weinen übergeht. Harry setzt sich neben sie und streicht ihr über den Kopf.

„Rühr mich nicht an!“

„Das mit anderen Frauen war nur Sex. Hättest du mit mir ...“

„Ach, hör auf!“, schreit sie ihn an. „Was glaubst du, wie sich eine Frau fühlt, die von ihrem Mann immer nur als Irikone oder wie das heißt ...“

„Ikone.“

„Von mir aus. Ich hab das nie sein wollen, Harry.“

„Lass uns neu beginnen.“

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Du kannst doch zwanzig Jahre nicht ungeschehen machen. Aber ich hätte bis zum bitteren Ende mitgespielt. Gut. Doch jetzt hast du mich wirklich betrogen, als du mir deine Entlassung verschwiegen hast. Ich bin für dich wirklich nur so eine Ikontre, ein seelenloses, bemaltes Holz, umgeben von unsichtbaren und unfühlbaren Gedanken. Du hast in mir immer deine Traumfrau gesehen. Deine Probleme haben angefangen, als ich wirklich geworden bin.“

Harry schweigt. Sie hat recht, Traumfrauen sollten in Träumen bleiben. Zwanzig Jahre lang hat er sie auf einem Podest angebetet und sich ums Kennenlernen gedrückt. Zwanzig Jahre hat ihm sein Gedankengebäude genügt. Es hat seiner Entlassung bedurft, um in ihre Seele zu blicken.

„Es ist zu spät Harry. Ich gehe zu Wolfgang. Du kannst alles behalten, das Haus, Auto, Geld, alles. Wenn du die Scheidung willst, gerne. Aber ich denke, sie wird für dich zu teuer werden. Ich will dich nicht auch noch bestrafen.“

Harry schluckt. Vor ihm liegt eine andere Frau oder dieselbe Frau liegt vor einem anderen Mann. Einsteins Relativitätsgesetz, Blödsinn!

„Wolfgang spielt ein Spiel mit dir, mit uns. Er hat das alles inszeniert, um mich zu erpressen!“

„Du bist so erbärmlich, Harry. Merkst du das nicht? Such doch einmal, einmal die Schuld bei dir. Bitte geh jetzt. Ich hätte bei Wolfgang bleiben sollen, ich hätte immer bei ihm bleiben sollen.“

***

Wie betäubt stolpert Harry Feldkamp aus dem Hotel. Er fühlt sich auf ganzer Linie geschlagen. Zwanzig Jahre hat er in der falschen Ehe oder im falschen Leben gelebt. Ich habe die glänzende Monstranz angebetet und die Trägerin dabei übersehen, gesteht er sich ein. Und nun ist er im Begriff, Frau und Sohn an Zach zu verlieren. Weshalb tut Zach das? Doch nicht aus Rache, weil er nicht mit ihm zusammenarbeiten will? Es kann ihm doch nicht nur um diesen Waffentransport gehen. Was ist das für ein Mensch, der seinen Lebensretter zum Dank vernichtet? Tankred ist in Sicherheit? Von wegen! Tankred muss man vor sich selbst in Sicherheit bringen. Ein Psychiater wäre der bessere Partner für einen Gedankenaustausch, nicht ein Waffenhändler.

Zu Hause legt er sich ins Bett. Ein Privileg der Arbeitslosigkeit ist das Ausleben von Faulheit oder Depression. Seine Familie hat ihn verlassen!

Seine nächtelangen Diskussionen mit sich selbst führen ihn immer wieder in einer Schleife zum Ausgangspunkt zurück. Er ist Opfer von Zachs Intrige. Einzig Zachs Wirbelkörperbruch war echt. Zach hat seine eigene schwere Verletzung genutzt, um Harrys Hilfsbereitschaft gegen ihn selbst wenden. Job verloren, Frau verloren, Sohn verloren. Die aufkommende Leere füllt er mit Bourbon, bis er in komatösem Zustand ist.

Hauptsache, Tankred ist bei Wolfgang in Sicherheit.

austäüre hinauf

Doch am andern Morgen ist nichts besser, im Gegenteil. Thor steht vor seinem Bett und betrachtet herablassend, wie Feldkamp den Suff aus seinem Hirn schwitzt.

„Du komm mit!“, bestimmt er so schneidend wie eine norwegische Spaltaxt.

„Wie bist du ...?“, versucht Feldkamp.

„Los, aufstehen und anziehen!“

Thor wirft ein Bündel nagelneuer Hosen, Hemden, Unterwäsche und Jacketts aufs Bett. Als Feldkamp im Bett liegen bleibt und auf seinen unerwarteten Besitz starrt, sagt Thor:

„Los, ich will dich nackt sehen!“

„Aha?“

„Keine Kabel, keine Wanzen. Neue Kleider wirken auf alle Wanzen wie eine kalte Dusche. Nur so kommst du zum Chef.“

„Weißt du, was ich ihm sagen werde, deinem Chef, diesem gottverdammten Hurensohn?“, brüllt Feldkamp und endet in einem peinlichen Husten.

Aber Thor nickt nur nachsichtig grinsend und schiebt ihn in einen gemieteten Mercedes SLK. Vier Stunden später stehen sie vor dem Flugplatz Bremgarten in Hartheim bei Freiburg. Wieder einmal startet Didi Maier seine Piper. Es geht doch nichts über alte Schulfreundschaften

„Wohin heute?“, fragt er Thor und nickt Feldkamp lässig zu, als würden sie sich täglich beim Kühemelken sehen.

„Algier“, bestimmt Thor.

„Nicht schon wieder!“, stöhnt Didi.

Der Flughafen in Algier ist provinziell klein. Die Kontrolle dagegen professionell. Die Wartenden stehen in einer Schlange, die vom Flughafengebäude bis auf die Startbahn reicht. Nur die VIPs werden an den verzweifelt Wartenden vorbei zu einem Nebenausgang geführt. Dort werden Feldkamp und Thor von Zachs Bodyguards zu einem Hummer geleitet, der sie, ungeachtet aller Verkehrsregeln, quer durch Algier zu einem unbekannten Vorort fährt. Dort halten sie vor einem unbedeutenden Flachdachbungalow mit einem kleinen Vorgarten. Nur die automatisch zu öffnende Gartentüre deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Angestelltenunterkunft handelt.

„Ist mir ein Vergnügen“, lächelt Zach.

Er trägt eine Halskrause, kann sich jedoch ohne Hilfsmittel bewegen. An ihm war ein Profi am Werk, stellt Feldkamp zufrieden fest.

„Wo ist Tankred?“, stößt er dann hervor und stürmt an Zachs ausgestreckter Hand vorbei ins Innere des Hauses. Die Bodyguards schauen ihren Chef fragend an, doch Zach winkt nachlässig ab.

„Danke der Nachfrage, meiner Wirbelsäule geht es auch gut“, antwortet Zach.

„Du hast gegen mich in meiner Klinik intrigiert, du hast mich feuern lassen, du hast Pergola dazu überredet, sich von mir zu trennen und du hast meinen Sohn entführt. Was erwartest du von mir?“, braust Feldkamp auf.

„Dasselbe wie vor einem Monat. Arbeite für mich.“

„Du streitest also nicht ab, dass du Tankred entführt hast?“, schreit Feldkamp.

„Nein“, antwortet Zach ruhig. „Tankred ist meine Geisel.“

„... meine Geisel“, echot Feldkamp leise. Jeder schlimmsten Vorstellung steht die geheime Hoffnung entgegen, sie entspringe der eigenen, kranken Phantasie und alles sei nicht so schlimm. Doch dieses Mal bestätigt die Wirklichkeit die schlimme Vermutung. Er fühlt, wie ihm das Blut aus dem Hirn weicht. Aber er will nicht vor Zach ohnmächtig werden.

„Mein Gott, ich bin Neurochirurg und kein Spion im Auftrag Ihrer Majestät!“, ruft er aus.

„Richtig“, antwortet Zach, als wäre es das Normalste der Welt, einen unbedarften Neurochirurgen quasi in einem Wochenendkurs zum Spion weiterzubilden. „Dein Sohn Tankred bleibt so lange bei mir, bis du als Spion im Auftrag von Wolfang Zach gearbeitet hast.“

„Wie eine mittelalterliche Geisel?“

„Tankred ist kein Prinzensohn und ich bin kein langmütiger König. Meine Geduld mit deinem Nichtsnutz von Sohn hat Grenzen, mach dir das schon mal klar. So, und jetzt pass mal gut auf“, schnauft Zach. „Du wirst mit Thor zusammen in Berlin diesen Hartz-IV-Künstler El Silbo aufsuchen und ihn zu einem wirklichen Künstler machen. El Silbo heißt eigentlich Pfeiffer und hat noch nie ein Kunstwerk geschaffen. Eignet sich also hervorragend als nützlicher Idiot.“ Zach kann seine Verachtung für seine ehemaligen Landsleute nicht verhehlen.

„El Silbo wird in deinem Auftrag sechs mannsgroße Bäume aus Blei gießen. Vier davon dienen dazu, von unserem Waffentransport abzulenken, in den beiden anderen wird die Ware transportiert. Von mir aus kann er die Bäume vergolden, damit es ein wenig nach Kunst aussieht. Und dann wirst du Nelly van Eid flachlegen.“

„Kann ich nicht!“, ruft Feldkamp. „Da musst du James Bond fragen, der kann auf Kommando lieben, ich nicht. Das ist ja wie Inzest, wenn ich mit der kleinen Nelly ...“

Feldkamp schüttelt sich bei der Vorstellung.

„Deine kleine Nelly ist jetzt 36 Jahre, also etwa so alt wie ihre Mutter damals war, als sie dich entjungfert hat. Wie alt warst du da? Neunzehn? Also komm mir nicht mit diesem pädophilen Kram.

Erpress sie, fick sie, mach was du willst mit ihr. Wir müssen herausfinden, was die internationalen Abwehrdienste vorhaben, damit wir unsere Waffen an denen vorbei oder zwischen ihnen hindurch ans Ziel bringen können. Nelly van Eid ist Abteilungsleiterin der Abteilung PW beim Bundesnachrichtendienst. Sie wird den Bundespräsidenten nächsten Monat nach Basel zu einer Ausstellungseröffnung begleiten. Der Präsident wird anschließend mit dem Schweizer Bundespräsidenten ein Fußballländerspiel ansehen. Krall sie dir auf der Vernissage. Kannst du das?“, fragt er zweifelnd.

Feldkamp kann nicht auf Befehl eine Frau „aufreißen“. Das wäre für ihn wie ein pornografischer Akt vor laufenden Kameras. Und er weiß nicht einmal, wie man eine Frau außerhalb eines Operationssaals anspricht. Alle Frauen in seinem Leben hat er von Zach geerbt, und Pergola machte da keine Ausnahme. Er hat nicht die geringste Ahnung, was Frauen anturnt. Die Frauen, die er kannte, waren relativ einfach strukturiert. Aber eine Abteilungsleiterin des BND in sich verliebt machen, um an ihrer Gedankenwelt teilhaben zu können – das scheint ihm gänzlich unmöglich.

„Du kannst das“, raunt Zach beschwörend. „Eine Frau ist wie ein fremdes Land, dessen Sprache du nicht sprichst. Die Worte ähneln den deinen, aber die innere Grammatik ist eine andere. Frauen, mein Freund, leben ständig in irgendeinem Zwiespalt. Sie wollen geliebt, jedoch nicht angebetet werden, denn wer anbetet, ist selber schwach. Frauen wollen starke Männer, aber genügend Luft für ein Eigenleben. Frauen wollen ein gepflegtes Abendessen, aber nicht dick dabei werden. Frauen wollen eigentlich immer, sind sich aber selten sicher was. Bleib ihnen ein Geheimnis, aber kein Rätsel. Suche deshalb den Körperkontakt, aber lass sie nie zu nahe an dich rankommen. Bring die Frauen zum Lachen, zum Staunen, gib ihnen das Gefühl von Erlebnis und Sicherheit. Versuch es einfach mal“, fährt Zach hypnotisierend fort und kratzt sich mit dem Zeigefinger unter der Halskrause. Das Ding juckt elend.

„Was hast du zu verlieren? Im Zweifelsfall kommst du als gemachter Mann mit viel Geld heraus. Sei einfach ein anderer Mensch. Sei der Kunstkenner, der für diesen El Silbo Vernissagen in Basel, Teheran und Wladiwostok organisieren will. Denn dorthin werden unsere bleiernen Skulpturen versandt, aber nur in einer wird der heilige Gral sein. Das ist deine Legende, mein Freund. Harry Feldkamp wird Nelly van Eid in sich verliebt machen, er wird an ihrer Gedankenwelt teilhaben und er wird uns ebenfalls daran teilhaben lassen. Verstehst du, es wird niemals wieder den Neurochirurgen Feldkamp geben. Finde dich damit ab. Du wirst dich aus deiner Vergangenheit ausblenden, wie aus einem schlechten Film.“

Zach hat Feldkamp beinahe in Trance geredet. Für diesen hört es sich an wie ein langer Spielfilm ohne Szenenschnitt. Er schüttelt den Kopf, um sich von Zachs Beschwörungen frei zu machen.

„Ich kann das nicht, Wolfgang. Du hast Übung bei Verbrechen, ich nicht.“

Zach fasst ihn an den Schultern und schüttelt ihn leicht.

„Du musst es tun, tu es für Tankred. Vergiss deine Moralvorstellung, vergiss überhaupt die Moral. Moral ist, wie jede Religion, nur ein Gedankengebäude, an dem keiner rütteln darf, weil’s sonst einstürzt. Moral ist was für Schwache. Ich habe vor über dreißig Jahren die arabische Welt umgestaltet. Das hat mich zum Sardar gemacht. Ich bin eine Legende. Werde du auch zur Legende. Werde der erste Neurochirurg, der zur Legende wurde, nachdem man ihn gefeuert hat. Harry, du kannst nur noch verlieren, wenn du dich weigerst.“

„Und für Legenden ist jede Handlungsweise erlaubt?“

„Nein. Aber für dich, weil du deinen Sohn retten musst.“

„Du wirst Tankred nichts antun, weil du es nicht kannst“, sagt Feldkamp überzeugt.

„Harry“, sagt Zach nachsichtig und legt ihm eine Hand um die Schulter. „Du magst es glauben oder nicht. Ich habe noch niemals einen Menschen getötet, und dennoch bin ich zum größten Waffenhändler des Nahen Ostens geworden. So weit kommst du nicht, wenn du deine Feinde eigenhändig steinigst. Ich hab dich am Haken, so oder so.“

Als man Feldkamp zum Flughafen zurückbringt, winkt Zach dem Fahrzeug hinterher. In Harrys Haut möchte er nicht stecken. Aber Zach benötigt dringend einen Spitzel im BND. Das war die Bedingung von Mohsen Danash, dem Direktor der Equipment Supplier for Nuclear Industries Corporation (ESNICO), für dieses gewagte Unternehmen. Erst wenn Zach nachweisen kann, dass seine Unterwanderungstaktik Erfolg hat, werden sämtliche Mittel für diesen riskanten Transport von Mohammad Hakkami, dem Vorstandsvorsitzenden der Sepah Bank, freigegeben.

Nachdenklich und mit steifem Hals geht Zach die Treppe in den Keller hinab. Hier gibt es nicht viele unterkellerte Häuser. Meist handelt es sich dabei um staatliche Gebäude, in denen dort unten etwas verborgen wird. So ist es auch bei Zach.

Nachdem er die gepolsterte Türe des unauffälligen Nebenraumes geöffnet hat, springen die beiden Norweger auf, die zur rechten und linken Seite des jungen Mannes saßen und ihn bewachen. Zach gibt ihnen ein Zeichen, dem Jungen das Klebeband vom Mund zu reißen. Die Hand- und Fußschellen bleiben an den Gelenken. Der Raum ist gekachelt. Wenn man genauer hinsieht, kann man in einzelnen Fugen am Boden noch Blutspuren von vorigen „Bewohnern“ erkennen.

Zach wird mit Vorwürfen überhäuft. Erst als dem Jungen die Puste ausgeht, sagt er:

„Tankred, deinem Vater geht es gut. Es liegt jetzt an ihm, was aus dir wird.“

„Dem?“, schreit Tankred empört. „Dem bin ich doch so was von scheißegal, bin ich dem! Sie erpressen den Falschen. Mit meinem Vater habe ich in meinem Leben nicht mehr als hundert Sätze gewechselt. In achtzig davon ging es um Vorwürfe. Wenn ich ihn am meisten brauchte, war er nie da.“

„Und wann war das?“, fragt Zach.

„Als ich nach dem Abitur merkte, dass ich keine Begabung für ein Studium hatte. Da hat er nur gesagt: ‚Was man anfängt, bringt man zu Ende‘. Und als mich kein Mädchen haben wollte, weil ich halt nichts geworden bin, sagte er: ‚Ich hab in deinem Alter auch beschissen ausgesehen. Das legt sich im Alter.‘ Toll, was?“

Zach dreht sich um und verlässt kurz den gekachelten Raum, damit Tankred sein Grinsen nicht sieht. Und ich dachte, ich bin das einzige Arschloch auf der Welt, sagt Zach lachend zu sich selbst. Es kann nicht schaden, diesem kleinen Bengel ein wenig die Hölle heiß zu machen. Dann kommt er wieder und bietet ihm eine Wette an:

„Tankred, ich will tot umfallen, wenn es deinem Vater gelingt, dich hier rauszuhauen. Und was glaubst du?“

Tankred heult auf, weil er nichts dagegenzusetzen hat. Er glaubt ebenfalls nicht an seinen Vater. Um was soll er also wetten?

„Wenn er mich wider Erwarten doch raushaut, lassen Sie mich einfach gehen.“

***

El Silbo soll für Feldkamp also der erste Schritt auf die schiefe Bahn werden. Der ewige Hippie mit nach hinten gezopften weißen Haaren und abgelebtem Gesicht riecht so, wie er aussieht: nach abgestandenem Tabakqualm, billigem Fusel, Siff und Geschlecht. Er lebt in einer abbruchreifen Hinterhofhütte in Moabit, die er als sein Atelier ausgibt. Feldkamp und Thor stehen betreten in El Silbos Müll herum, als dieser fragt:

„Wat kann ick Ihnen Juutes tun?“

Feldkamp überreicht ihm schweigend die Einladungen. Die Situation ist ihm unendlich peinlich, und ohne Thor im Nacken wäre er davongelaufen. Im Grunde fühlt sich Harry wie ein Hochstapler.

El Silbo, dessen Leben eine einzige Hochstapelei ist, erkennt das sofort. Er grinst Feldkamp frech an. Seine Augen springen von der Einladung zu Feldkamp, dessen Augen interessiert seine Fußspitzen betrachten.

El Silbo liest mehrmals die Einladungen durch, weil er ihren Sinn nicht erfassen kann. Eine Ausstellung in Basel, eine in Wladiwostok und eine in Teheran?

Das Museum of Contemporary Art in Teheran beehrt sich, den deutschen Künstler El Silbo für den 01.06. bis 30.06. zu einer Ausstellung einzuladen. Der Künstler wird gebeten, seine neuesten Skulpturen dem interessierten Publikum Teherans zu präsentieren. Alle Kosten und Zollformalitäten übernimmt das Museum. Überstellung der Gegenstände am 1.05.2012 an der türkisch-iranischen Grenze.

„Wat soll det? Is det’n Witz, wa?“, fragte er den alterslosen blonden Mann.

„No, mein Auftragsmacher ist an Kunst interessiert. Es gehen nur um Geschäft.“

„Und wer is det, Ihr Auftrachjeber?“, fragt El Silbo.

„Harry Feldkamp, er ist Auftragsmacher“, Thor nickt in Feldkamps Richtung.

„Sie meenen Ajent, Sie sind ’n Ajent?“

Feldkamp nickt mit schmalen Lippen.

„Ein neuet Kunstwerk?“

„Nach unseren Vorgḁben“, bringt er schließlich hervor.

„Wat bleibt dann da vonne Kunst übrich?“

Darauf weiß Feldkamp keine Antwort, weil ihm die Sicherheit des geübten Lügners fehlt.

„Hunderttausend Dollar!“, sagt Thor schließlich, als die Stille zu peinlich wird.

„Materialkosten jehn auf Ihnen.“

„In Ordnung. Es handelt sich um sechs Bäume aus Blei, drei davon vergoldet.“

„Aber alle sechse aus Blei?“

Harry nickt und gibt El Silbo ein Papier mit einer Skizze.

„Innen hohl. Stamminnendurchmesser 30 cm, Wand 2 cm, jeweils 65 cm lang. Stamm, Äste und Blätter aus Blei. Die Stämme aus reinem Blei. Sie haben zwei Wochen Zeit“, presst er mühsam hervor.

Zahlen, knappe, feststehende Angaben, das kann er. Das ist naturwissenschaftliches Denken, darin ist Feldkamp geübt. Doch schon ein Befehl wäre ihm so peinlich, wie es ein Pups während der angespannten Stille einer Operation wäre.

El Silbo ist wie betäubt. Sein Gedächtnis ist der einzige Ort, in dem seine Bilder existieren und fortleben. Niemand hat sie je für Kunst gehalten. Sollte es wirklich möglich sein, dass seine Kunst im Ausland den Stellenwert erhalten hat, den sie in seiner Seele hat? Ist er der Prophet, der Nazarener, dessen Stimme im eigenen Land nicht gehört wurde? El Silbos Selbstzweifel verkehrten sich in dem Maße ins Gegenteil, in dem seine Schreibtischschublade von dem Blonden mit Geldscheinen gefüllt wird. Fünfzigtausend Dollar für Blei, Sand und Verschalung plus fünfzigtausend Dollar als Anzahlung. Da kann man als Hartz-IV-Bezieher nicht meckern. El Silbo hat noch nie ein Bild verkaufen können, in dreißig Jahren nicht.

Es beginnen seltsame und arbeitsame Tage für El Silbo. Er benötigt einen Rahmen, der dem Druck von 500 Kilo Blei standhält. Und Entlüftungsschächte für einen ordentlichen Fließverlauf des flüssigen Metalls, und Talkum, damit er das Zeug anschließend aus der Form kriegt, und einen Zylinder für den Hohlraum, und …

Nach elf Tagen endlich ist der erste Bleiguss seines Baumes fertig. Sogar der geheimnisvolle Blonde klatscht erleichtert, als er das unerwartete Kunstwerk erblickt.

Das Vergolden des Bleibaumes fühlt sich dann wieder echt künstlerisch an. Dabei kann El Silbo das Gummiband, das sein weißgraues langes Haar zum Pferdeschanz bindet, lösen und mit wallender Beethovenmähne eine echt künstlerische Tätigkeit ausüben, indem er viele hundert bleierne Baumblätter vergoldet. Nie hätte er früher diese schweißtreibende Arbeit für Kunst gehalten. Kunst war für ihn bis dato Inspiration, ja, am liebsten ausschließlich Inspiration, die Kunst denkbar macht. Die Ausführung ist verachtenswerte Technik. Da kann man einen Affen hinstellen, so hat El Silbo gemeint, bis dato.

Mit blossen Händen

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