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Ararat
ОглавлениеAb Trabzon geht es steil bergauf. Zwei Bergketten sind zu überwinden, um nach Erzurum zu gelangen. Oft fahren wir hinter einem der vielen LKWs. Vor lauter Staub und Auspuffdreck kann der Fahrer kaum einen Blick auf die wilde Landschaft werfen. Auch der Beifahrer ist beschäftigt, zu erkunden, ob ein Überholmanöver möglich ist, oder zu erraten, wie sich jenes Fahrzeug verhalten wird. Wir wechseln uns im Fahren ab. Anfangs sind die steilen Hänge noch mit saftig grünem Wald bedeckt. Weiter vom Meer wird dieser schmächtiger, die Baumgrenze ist nicht sehr hoch. Reißende Flüsse bahnen sich tief unten in den Schluchten ihren Weg, gespeist von Bächen, die oft in Wasserfällen auf die Straße rieseln. Wo kein Teer ist, haben sich tiefe Pfützen gebildet, die bei jeder Passage noch tiefer werden und die heißen Bremsen zum Dampfen bringen. Dunkle Tunnelröhren, undurchsichtig vor Abgasen, verschlingen uns. Die Lichter der Entgegenkommenden erkennen wir erst im letzten Moment, gleich zwei kleinen Orangen. Wasser rieselt von der Decke, ab und zu ein paar Steine. Unsere Reifen machen sich gut. Erst zwei Plattfüße auf der ganzen Reise! Ich habe sie bei der ersten Gelegenheit wieder geflickt. Man kann nie wissen… Irgendwo oben im Gebirge halten wir für die Nacht. Jemand gibt uns zu verstehen, dass wir da nicht bleiben können. Zu gefährlich. Wir können aber neben einer nicht weit entfernten Kaserne unser Nachtlager aufschlagen. Immer wird von kurdischen Rebellen gesprochen, wenn es mal nicht armenische sind… Die Soldaten, meist junge Wehrpflichtige, bringen uns etwas zum Essen. Dann bringen sie Tee. Ich spiele auf meiner Mundharmonika. Sie holen ein paar Zupfinstrumente und singen und tanzen uns was vor. Irgendwann macht ein Übergeordneter dem Ganzen ein Ende. Sonst wäre es wohl die ganze Nacht so weitergegangen. Außerdem wurden sie langsam zu übermütig und fingen an, zweideutige Bemerkungen zu machen.
Am Vormittag fuhren wir weiter. An einem Pass machten wir Halt und schauten auf die Berge, manche leicht mit Schnee bezuckert. Rundum reihten sich eine Kette hinter die andere, bis zu Horizont. Wir legten uns in die Sonne, die hier oben angenehm war, solange wir im Windschatten blieben. Wir dachten, wir sind hier oben die einzigen Menschen. Doch nicht lange. Bald stand eine zerlumpte Kinderschar um uns herum und beäugte uns. Sie machten uns Zeichen, die wir als Zündhölzer interpretierten. Wir gaben ihnen welche. Sie versuchten sie und steckten den Rest in die Taschen, nachdem sie sich eine Weile mehr im Spaß um deren Besitz gebalgt hatten. Klar, dass die Kleinen keine abbekommen hatten. An Ruhe und Bergblick war nicht mehr zu denken. Wir gaben jedem noch ein Bonbon, obwohl sie nach Zigaretten gefragt hatten, und den Großen jedem einen Kugelschreiber. Damit malten sie sich auf die Hände und versuchten sich auch an den Steinen und am Auto. Wir dachten, jetzt könnten wir mehr oder weniger unauffällig abhauen. Als wir dann eingestiegen waren, umlagerten sie noch eine Weile das Auto. Ich musste laut hupen und plötzlich anfahren, damit sie aus dem Weg sprangen. Kaum waren wir ein paar Meter weg, da bückten sie sich und schon flogen die ersten Steine. Aber wir waren schneller. „Endlich Ruhe!“, dachten wir. Doch wer stand schon an der nächsten Kurve, die Hände voller Steine? Unsere freundliche Kinderschar. Sie hatten eine Abkürzung genommen. Der Steinregen ging los, doch verfehlten uns die meisten. Wir drückten die Hände fest an die Scheibe, um zu verhindern, dass sie springt, oder um sie gleich hinaus zu drücken, falls sie in kleine Scherben zerplittern sollte. Schon rannten die ersten die nächste Abkürzung hinunter. Ich gab Vollgas, um ihnen zuvorzukommen. Dann auf sie zu, im letzten Moment bremsen und hupen, um ihnen Angst zu machen. Das gelang. So erwischten wir die Steine nur von hinten. Nach drei, vier Kurven hatten wir sie endlich abgehängt. Doch was machten sie jetzt? Wir schauten den Hang hoch und erschraken. Sie fingen an, kleinere Felsen den Hang hinunter zu rollen. Diese hüpften, sich immer wilder drehend in immer größeren Sprüngen fächerartig den Hang hinab. Manche verrollten ins Leere, andere zerschellten an größeren Blöcken, ein paar erreichten die Straße. Mir gelang es knapp, ihnen auszuweichen. Erst, als die Piste flacher wurde, waren wir aus dem Gefahrenbereich. War das böse Absicht? Ich glaube nicht. Denn auch wir hatten früher auf Bergtouren mit der Schulklasse denselben Unsinn gemacht. Aus purer Freude, die Steine hüpfen zu sehen und in das Unterholz krachen zu hören. Und auch, weil es uns die Lehrerin ausdrücklich verboten hatte, und aus Angeberei vor den anderen.
Am Abend kamen wir in Erzurum an, ungefähr in 2000 Metern Höhe gelegen. Es ist die größte Stadt Anatoliens, der Osttürkei. Bis zum ersten Weltkrieg gehörte das Gebiet zu Armenien. Hier fand der erste Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts statt. Fast unbemerkt von der restlichen Welt. Doch das wissen noch nicht einmal die meisten Türken. Ein Besuch im Hamam, im Basar. Wir probierten von dem übersüßen Gebäck, kauften in den Bäckereien heiße Fladenbrote, rissen sie auf und bestrichen sie mit Rosenblätter-Marmelade. Die Rose schien die Basis von allem zu sein. Man fand sie in der Seife, im Tee, als Parfüm. Der LKW Verkehr war enorm. Ging hier doch die Transitstrecke nach Persien, Afghanistan, Pakistan und Indien durch. Manchmal begegneten wir einem deutschen Lastwagen. Dies waren meistens ältere Lastzüge, denn für Sattelschlepper waren die Straßen und Ortsdurchfahrten nicht sehr geeignet. Dazwischen manchmal ein bunter VW-Bus. Manche hatten wir schon in Istanbul gesehen. Der Hippie Trail wird also immer noch befahren!
Wir fahren über die grüne Hochebene, aus der sich der oben mit Schnee bedeckte Ararat erhebt, neben ihm sein kleiner Bruder, auch in Weiß. Ersterer ist über 5000 Meter hoch, der Kleine fast 4000. Wie bei der ersten Reise packt mich wieder die Sehnsucht, alles liegen zu lassen und einfach mit ein paar Schafen weiter zu ziehen. Wir sitzen an dem Bach, der hier neben der Straße vorbeifließt. Nicht weit von uns parken ein paar einheimische LKWs. Die Fahrer waschen sich, beten, schrauben an ihren Gefährten und füllen die Kühler auf. Wir warten, bis sie weg sind, dann ziehen wir uns aus und waschen uns auch. Zum Untertauchen ist mir das Wasser zu kalt. Doris wagt es trotzdem. Dann lassen wir uns von der Höhensonne aufwärmen. Nicht weit entfernt erheben sich Heumieten, säuberlich um einen Holzpfahl geschichtet. Sicherlich der Vorrat der Herden für den Winter. Etwas weiter weg erkennen wir Mäuerchen. Das müssen Pferche sein für die Schafherden. Und ein paar niedrige Steinhaufen. Das werden die Unterkünfte der Schäfer sein. Hier und da bewegt sich eine Schafherde wie ein weißer Fleck, wie eine Wolke durch die leicht gewellte, tiefgrüne Ebene. Ebenso am Himmel durch das lichte Blau. Der Blick geht so weit wie am Meer. Die untere Hälfte der Welt ist grün, die obere blau. Und mittendrin die zwei kegelförmigen Ararat-Gipfel, die mit ihren weißen Spitzen diese zwei Hälften zu verbinden scheinen. Eine Windböe jagt über das Land. Ferne, neben den Bergen, ballen sich schwarze Wolken zusammen. Sie türmen sich fast bis zu den Gipfeln auf. Bald sehen wir den Regen wie einen grauen Schleier niedergehen, Blitze zucken darin. Aber all das ist so weit weg, dass wir keinen Donner hören. Langsam treiben die Wolken weg und machen Platz für einen Regenbogen, der dann auch davontreibt. Die Arche kommt mir in den Sinn und Gottes Bund mit den Menschen: Und Gott sagte zu Noah: „Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe mit allen lebenden Wesen!“
Gegen Abend fuhren wir noch weiter in Richtung iranische Grenze. Da wir sie bei Tageslicht überschreiten wollten, bogen wir bald in eine Seitenstraße ein und fuhren auf dem Holperweg soweit wir konnten. Sie verlief sich gewissermaßen in den Felsen als Vieh- oder Fußpfad. Wo es noch möglich war, drehten wir unseren Bus um, setzten uns davor und aßen zu Abend. Unter uns nur Berge im weiten Rund, fern die zwei Ararat-Spitzen. Die Sonne war schon versunken, nur die westliche Himmelskuppel leuchtete noch in allen Rottönen. Es war eine heilige Stille um uns. Langsam kam die Nacht aus Osten und legte ihren sternenbestückten Mantel über die Welt. Es wurde kalt, wir legten alle zusätzlichen Decken über unsere Schlafsäcke und rückten eng zusammen. Als wir beim ersten Sonnenlicht die Tür aufschoben, erschraken wir. Vor unserem Wagen saß ein in einen dicken, mit Flicken besetzten Mantel gewickelter älterer Mann, graue Bartstoppeln bedeckten sein zerfurchtes Gesicht. Zwischen den Knien hielt er aufrecht ein Gewehr. Er lächelte, als er unsere erschrocken Gesichter sah. Dann stand er auf und sagte etwas Unverständliches. Wir erklärten ihm, dass wir „Alman“ seien. „Arkadesch!“ antwortete er. Wir schlossen aus seinen Gesten, dass er unseren Schlaf bewacht hatte, gegen wilde Tiere und böse Menschen. Wir wollten ihm etwas geben. Doch er lehnte alles mit leicht erhobenen Händen ab und verschwand dann auf einem Pfad hinter den Felsen.