Читать книгу Die Pyrenäenträumer - Band 2 - Wolfgang Bendick - Страница 14
MADAME BERNAGOU
ОглавлениеDen Sommer über kamen wir nun alle zwei Wochen nach Sentein zum Markt machen. Eigentlich hat der Ort einen richtigen Dorfcharakter, da er nicht, wie die meisten anderen Ortschaften, auf beiden Seiten der Hauptstraße liegt. Das Zentrum bildet zweifelsohne die uralte Wehrkirche mit ihren drei verschiedenen Türmen. Von hier aus führt eine winkelige Straße nach Antras hinauf, eine andere weiter das Tal des Lez hoch zu den alten Minen von Bocart und dann als Piste in die Berge bis zum Stausee von Araing. Auf den Hängen erheben sich noch viele der eisernen Masten, die meisten ihrer Seile beraubt, an denen das Erz zu Tale gefördert worden war. Dieser Ort, früher sogar erreichbar mit einer Tramway, faszinierte uns und wir kamen des Öfteren her zum Wandern und Erkunden.
Manche der Bauern hatten nach dem Schließen der Werke die rostigen Tragseile von den Masten abgenommen, um sich damit kleinere Seilbahnen für den Transport von Mist und Heu zu bauen. Andere hatten die dicken Trossen aufgetrennt, und mit den dünneren Strängen Zäune gebaut, die einem endlosen Korkenzieher ähnlich sahen. Die Gebäude unten im Tal enthielten noch die Maschinen zum Zerkleinern und Vorsortieren der Minerale, die per LKW und später mit der Straßenbahn nach St. Girons transportiert wurden und von dort per Zug weiter zu den Verarbeitungsbetrieben. Unter rostigen Blechdächern fanden wir die mitten im Betrieb angehaltenen Maschinen vor, deren Verwendung wir nur ahnen konnten. Fässer mit Chemikalien zum Herauslösen der Metalle standen oder lagen herum, der sicherlich giftige Inhalt überall verstreut, sei es von Vandalen oder der Zeit. Zwei nagelneue VW-Kübelwagen, Geländefahrzeuge standen noch im Hof, Stromgeräte, nie in Betrieb genommen befanden sich, noch verpackt, in den Gängen, die Holzbaracken waren zum Teil niedergerockt, um anderswo als Baumaterialien zu dienen. Faszinierend, aber gefährlich! Vor allem auch für die Umwelt, das Wasser. Denn darin würde früher oder später alles landen!
1975, nicht lang vor unserem Kommen, waren die Minen geschlossen worden, nachdem sie über Jahrhunderte in Betrieb gewesen waren und im 19. Und 20. Jahrhundert ihre ‚Blütezeit‘ erreicht hatten. Es hieß, dass damals eine deutsche Firma die Schürfstellen übernehmen und weitermachen wollte. Oder aber, dass EDF, der Stromkonzern alles übernahm und dicht machte. Als gute Patrioten wählten die Verantwortlichen die zweite Lösung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit der lokalen Bevölkerung und Verschmutzung.
Die Stollen befanden sich zum Teil in 2000 Metern Höhe, gingen stellenweise durch den ganzen Berg bis auf die spanische Seite. Wir liefen nie weit hinein, denn es gingen bisweilen Schächte senkrecht nach unten, natürlich ungesichert! Das Mineral wurde damals in Loren an Seilbahnen zur ersten Bearbeitung ins Tal gebracht. Die bekannteste Mine war die von Bentaillou, die ‚Menschenfresserin‘ genannt, weil bei ihrer Konstruktion und Nutzung viele Menschen starben. Aber außer an ‚Männern und Eisen‘ hatte das Land für die Kriege oder den darauf folgenden Wiederaufbau einen großen Bedarf an Blei, Zink, Tungstene, Kupfer und was alles noch!
Das Gelände war wie ein Selbstbedienungsladen. Maschinen verschwanden, die Autos, die Generatoren. Freunde von uns hatten einen ganzen LKW damit vollgepackt, plus Wellbleche und Holzteile. Bei Nacht fuhren sie zurück, um nicht gesehen zu werden. Doch an Carerat, wer stand da? Die Bullen, die anscheinend jemand informiert hatte! Da es spät war, ließen diese sie nach einer kurzen Inspektion weiterfahren, mit der Auflage, am nächsten Tag mit dem Fahrzeug an der Wache vorbei zu kommen! Dieses taten sie, aber erst, nachdem sie alles Wertvolle bei sich abgeladen hatten. Als dann die Polizei die restliche Ladung begutachtete, stellte sie fest, dass nichts Brauchbares dabei war und ließ die Anzeige wegen Diebstahls fallen. Doch mussten sie unter Begleitung alles zurück zu den Minen kutschieren, wo sie es freudig abkippten. Da die Geländewagen schwierig mitgenommen werden konnten, bauten sie später noch die Motoren aus.
Nach Jahren sollte die Anlage ‚gesichert‘ werden. Endlich! Dachten die Anwohner. Also baute eine Firma einen Maschendrahtzaun herum und stellte ein paar Schilder auf. Und so vergingen weitere Jahrzehnte, der Zaun wurde zerschnitten, um an die noch vorhandenen Edelmetalle der Kabel zu kommen oder um drinnen Feten zu feiern. Die Vegetation und das Vergessen versteckten langsam diese ökologische Katastrophe.
*
Eines Sonntags kam ein Auto zu uns an den Hof. Ihm entstieg die alte Bäckerin von Sentein, sofort erkenntlich an ihrer Größe, eine andere ältere Dame und zwei etwas jüngere Leute. Ich konnte mir denken, wer das war! Freudig erregt gingen wir sie begrüßen. Wie vermutet war die andere ältere Frau die Enkelin des damaligen Bauern hier oben und deren Sohn und Frau. Diese zwei hatten das Anwesen bisher nur aus den Erzählungen ihrer Mutter gekannt.
Deren Mutter, Josephine, war 1908 nach Amerika gegangen, als ihre Tochter nicht mal ein Jahr alt war. Das Kind hatte sie bei Verwandten in Galey untergebracht, die selber keine Kinder hatten. Später zogen diese mit ihr nach Paris, wo sie dann auch zur Schule ging und anschließend bei der Post arbeitete. Dort traf sie auch ihren Mann, mit dem sie kurz nach der Rente nach St. Girons zog, wo sie noch Familie hatte.
Während ihrer Kindheit hatten die Pflegeeltern sie jedes Jahr während der Sommerferien und manchmal auch in den anderen zu den Großeltern geschickt. Mit der Eisenbahn, ein wahres Abenteuer! Später hatte sie sie ebenfalls des Öfteren besucht, auch ihre Tante und die Onkel, die mit auf dem Hof lebten. Sie hatte nur schöne Erinnerungen an diese Zeit, da sie als einziges Kind hier oben von allen verwöhnt wurde. Wir führten sie durch das Haus, etwas stolz, wenn sie uns erzählte, wie es früher hier gewesen war und sie staunte über die Veränderungen! Das Wasser holten sie damals gut 200 Meter weiter, wo ich erst letztlich die Quelle gefasst und zum Haus geleitet hatte. Ich sagte, sie könne das am Brunnen laufende Wasser trinken, es sei genau diese Quelle! Das tat sie auch, benässte sich das Gesicht und erzählte: „Damals stand immer ein Glas an der Quelle, woraus jeder trank, der dort vorbeiging. Das Bächlein neben dem Haus diente zum Tieretränken und Abwaschen, auch zum Wäschewaschen. Das geschah zweimal im Jahr.
Während des Jahres wurde zu diesem Zweck die Asche des Kaminfeuers gesammelt. Eigentlich wurde alles gesammelt und nichts weggeworfen. Denn alles war irgendwann mal zu irgendetwas zu gebrauchen! Mit der Asche zum Bespiel konservierten ihre Großeltern in hölzernen Kisten auf dem Dachboden auch Würste und die fertigen Schinken. Somit konnten keine Fliegen und andere Schädlinge sich darüber hermachen. Zum Waschen wurde die Asche zuerst durchgesiebt. Dann gab die Großmutter eine Lage Wäsche in den Kessel, streute darauf eine dünne Schicht Asche, dann eine weitere Lage Wäsche, dann Asche und so weiter, bis der Waschkessel voll war. Dann schüttete sie langsam kochendes Wasser darüber, welche in die Wäsche einsickerte. Der Waschkessel besaß unten einen Hahn, durch den nach einer Weile das Wasser austrat, welches dann, oft nach nochmaligem Erhitzen wieder oben drüber gegossen wurde. Dadurch wurde das Wasser zu einer starken Lauge. Über Nacht machte man den Hahn zu, damit alles eingeweicht blieb. Das zog sich manchmal über zwei oder drei Tage hin. Anschließend wurde die Wäsche mit dem Wasser des Bächleins hinterm Haus gespült und gut auseinandergezogen auf die Wiesen zum Trocknen und zum Bleichen gelegt. Die Stücke die am weißesten sein sollten, durfte sie mehrmals am Tag mit etwas Wasser bespritzen, dass sie gut gebleicht wurden.
Ansonsten wurde Wasser nicht groß zum Waschen verschwendet. Die eigene Wäsche wurde manchmal im Bach gespült, das Geschirr mit einem Stück Brot ausgewischt, gab es Suppe, schüttete jeder am Ende etwas Rotwein hinein und machte „chabrol“, wie man das nannte, indem er den Teller mit dem Wein ausschwenkte. „Da ich als Stadtkind in den Augen meiner Verwandten als gebrechlich galt, vielleicht auch wegen meiner zu Beginn der Ferien blassen Farbe, bekam ich das „Männeressen“! Bestimmt dachten die anderen auch, dass wir in der Stadt nicht genug zu essen hatten, das war so die vorherrschende Meinung auf dem Land. Die Männer, wohl wegen der schweren Arbeit, die sie leisteten, aßen besser und mehr als die Frauen, die meist am und im Haus werkten. Arbeitet man auf den Feldern und Wiesen ging man oft zu Mittag nicht zum Haus zurück, sondern aß, was die Frauen eingepackt hatten. Das waren ein paar gekochte Kartoffeln, etwas Käse oder Quark und eine Zwiebel, manchmal ein Ei. Dazu einen herben Rotwein, meist sehr mit Wasser verdünnt, denn nicht jeder besaß ein paar Reben, wie der Nachbar von Graviarett, der sie auf einen hohen Birnbaum geleitet hatte. Das erschwerte zwar etwas das Ernten, das machten meistens die Kinder, aber dafür hatten die Trauben viel Sonne! Fleisch gab es selten, außer, wenn mal ein Tier geschlachtet werden musste. Dann war das auch eher für die Männer bestimmt, die Frauen aßen nur wenig davon.
Im Winter wurde ein Schwein geschlachtet, das zweite wurde verkauft, um etwas Geld zu haben, um am Jahresende die Steuern oder Pacht zu zahlen. Das war natürlich immer ein großes Fest, wo alle Nachbarn zusammenkamen! Denn alleine schon um das Schwein festzuhalten, wenn es abgestochen wurde, waren viele starke Arme nötig! Wie quiekte das, ich hielt mir immer die Ohren dabei zu! Wenn es dann aufgehängt und ausgenommen war, gingen die Frauen mit den Därmen nach Graviarett, denn dort war eine andere saubere Quelle, die in einem großen, offenen, gemauerten Becken gesammelt wurde. Das Becken hatte unten einen Auslauf, an dem man einfach mit dem Wasserfluss die Därme umstülpen konnte, um sie von der anderen Seite zu säubern, bevor sie mit der Fleischmasse oder Blut gefüllt wurden. Wie roch das gut, wenn die Blutwurst im Waschkessel simmerte! War das Wasser zu heiß, platzte der Darm bisweilen und das feste Blut schwamm dann im Wasser und bewirkte, dass die Suppe, die später damit gekocht wurde, umso besser schmeckte! Das waren immer ein paare Tage des Schlemmens, wenn das Schwein getötet wurde! Abends wurde gesungen, getanzt, Geschichten erzählt. Und jeder Nachbar bekam ein Stück Blutwurst ab! Auch die anderen Kinder aus der Nachbarschaft waren dann da.
Es wurde alles verwendet. Die Milz und die gekochte Lunge wurden durch den Fleischwolf gedreht und dem Boudin, der Blutwurst zugesetzt, die Leber zu Paté verarbeitet, die Füße und die Ohren ausgekocht um die Gelatine zu bekommen. Wie waren wir alle gierig darauf, die Knorpelstückchen zu zerbeißen, bis wirklich nur noch die Knochen übrig waren, die aber auch noch zerhackt und ausgekocht wurden, um mit dem Mark Suppen zu verfeinern! Die besten Stücke, wie die Schinken oder Vorderschinken wurden gewürzt und gesalzen auf ein Holzkreuz gelegt und in einem Tuch drei bis vier Wochen aufgehängt, damit das Salz einziehen konnte und sie etwas trockneten. Dann wusch man sie und rieb sie mit Pfeffer ein. Vor allem neben den Knochen musste man viel Pfeffer hineinschieben, bis zum Gelenk, damit nichts verfaulen konnte. Was haben wir dabei gelacht, weil alle dauernd niesen mussten!
Alles, was sich nicht durch Trocknen konservieren ließ, wurde in einem Holzfass in Salz eingelegt, oder in Steinguttöpfen als Konfit mit heißem Schmalz übergossen und regelrecht damit versiegelt. Bald reihten sich die Hartwürste auf den hölzernen Stangen unter der Küchendecke aneinander, später gesellten sich die Speckseiten dazu, als letztes die in alten Laken eingenähten Schinken. Manche Teile wurden auch in Gläsern eingekocht, wie die Jamboneaux, mit einem Stück Schwarte außen rum. Doch Gläser waren teuer und es gab wenige davon. So ein Glas, gut verpackt, und eine luftgetrocknete Hartwurst gab man mir immer mit, wenn ich wieder zurück nach Paris fuhr.
Tante Alexine war die einzige, die lesen konnte. Die Großeltern hatten nur die Mädchen auf die Schule im Dorf geschickt, die Jungen wurden zum Arbeiten auf dem Hof gebraucht. Für Opa Jean-Marie war die Schule verschwendete Zeit. Gerade recht für Mädchen, damit man sie besser verheiraten konnte!“
Ich verschwand kurz im Haus und holte die Papiere heraus, die ich unter einem Bett gefunden hatte, als wir das Haus kauften. Darin fand ich die Geburtsurkunde ihrer Tante Alexine von 1878 und deren Schulabschlusszeugnis von 1892, sowie eine Menge Briefe, die ihre Mutter an die Eltern und Geschwister geschickt hatte. Sie war den Tränen nahe, als sie diese sah.
„Manchmal, wenn ich hier war, kam ein Brief von meiner Mutter an. Das war immer ein Ereignis! Der Briefträger bekam einen Schnaps und alle warteten, bis Tante Alexine den Brief öffnete und vorlas! Dann ging der Briefträger wieder und erzählte die Neuigkeiten überall weiter! Alle diktierten ihr dann den Antwortbrief, auch ich durfte etwas draufschreiben, was mich ganz stolz machte und die Großeltern auch! Anfangs bekam ich das nicht mit, aber dadurch, dass meine Mutter mich als unverheiratete Frau als Kind bekommen hatte, gab das anscheinend viel Gerede! Und nun konnten sie stolz darauf sein, dass ihre Tochter es in Amerika zu etwas gebracht hatte und ihnen ab und zu etwas Geld schickte, und dass ihr Kind sogar des Lesens und Schreibens fähig war, was kaum eines der Nachbarskinder konnte!
Wie ich mitbekam, waren Oma und Opa von ihren Eltern verheiratet worden. Da gab es oft genug Streit, so dass der Großvater seine Söhne, also meine Onkel, hat schwören lassen, dass sie sich nie verheiraten! War es, dass sie so gehorsam waren? Jedenfalls hatte sich keiner je verheiratet! Nachdem die Großeltern gestorben waren, übernahm Onkel Joseph den Hof!“
Ich kramte in den gefundenen Papieren: „Hier ist ein Attest vom Militärarzt, mit Datum vom 4. Juli 1904, was besagt, dass Jean-Marie Joseph wegen Unfähigkeit vom Militärdienst befreit ist. Ist er es, der den Hof übernommen hat?“ „Das muss er sein. Er hatte schon immer Probleme mit den Augen. Meine Mutter war einmal zu Besuch, so um 1925. Damals ging es Großmutter schlecht. Sie ist, glaube ich, 1927 gestorben. Mutter hatte dann Geld geschickt, damit sie das Haus etwas herrichten könnten und auch für sie ein Zimmer einrichten, denn sie hatte immer vorgehabt, später wieder hierher zurück zu kommen. Doch der Maurer von Nabos nahm das Geld als Anzahlung, machte aber nie die Arbeiten! Großvater lebte dann nicht mehr lange.“
„Ich habe nur noch Post aus dem Jahr 1940 gefunden, dann war nichts mehr!“, sagte ich indem ich die letzten Briefe weglegte. „Mutter war schon seit längerer Zeit leidend, man hatte Tuberkulose festgestellt“, sagte sie. „Sie wurde in ein Sanatorium eingeliefert, wo sie bald darauf der Krankheit erlag. Sie konnte leider nicht mehr hierher zurückkommen, wie sie immer geträumt hatte. Um diese Zeit auch wurde Onkel Joseph blind. Tante Alexia und die zwei anderen Onkel waren schon früher gestorben. Im Krieg war es für mich nicht einfach, hierher zu kommen. Als ich ihm wieder einen Besuch abstatten wollte, lebte er bei einem Maquignon in der Nähe von Castillon auf dessen Anwesen. Es ging ihm soweit gut, außer dass er klagte, dass er wegen seiner Blindheit zu nichts mehr nützlich sei. Ich erfuhr die Neuigkeiten meist durch Verwandte, die aber inzwischen auch schon sehr alt waren und kaum mehr von zu Hause wegkamen. Denn Autos gab es damals hier ganz wenige.
Als ich das nächste Mal kam, fand ich Onkel Joseph nicht mehr auf dem Hof des Viehhändlers vor. Dieser sagte mir, dass mein Onkel unbedingt ins Hospiz nach St. Girons hatte gehen wollen. Ich besuchte ihn dort. Was für ein Elend! Die alten Leute waren weitgehend sich selbst überlassen, es gab wenig zu essen. Er erzählte mir, dass ihn der Maquignon eines Tages gesagt hatte, ein Papier zu unterzeichnen. „Wie soll denn das gehen, ich sehe doch nichts und kann auch nicht schreiben!“, hatte er diesem gesagt. „Das macht nichts! Es ist jemand als Zeuge hier, es reicht, wenn du etwas darunter malst, ein Kreuzle oder so.“ Er tat es. Der andere Anwesende muss wohl der Notar gewesen sein. Am nächsten Tag schaffte ihn der Viehhändler ins Obdachlosenasyl. Onkel hatte eine Urkunde unterzeichnet, die besagte, dass er dem Händler sein Land überließ! Von da an ging es ihm zusehends schlechter. Als ich ihn das Jahr darauf besuchte, war gerade Markttag. Er bat mich, ihm vor dem Wegfahren ein gebratenes Hähnchen zu kaufen und noch so lange bei ihm zu bleiben, bis er es gegessen hätte. „Aber warum denn, du kannst es doch in Ruhe später essen!“, sagte ich. „Nein, bleibe noch so lange! Denn sonst nehmen mir die Anderen wie üblich alles weg, weil ich nichts sehen kann, und mir bleiben nur die Reste!“ Also blieb ich noch bei ihm. Ich kam dann erst zu seiner Beerdigung wieder, er wäre bald 70 geworden!“
Betreten schwiegen wir eine Weile. Im Stapel der Fotos erkannte sie eines, worauf ihre Tante Alexine als Kind war, eines der ersten Fotos überhaupt, auf dickem Karton. Ein anderes zeigte ihren Onkel Eugène, der im ersten Krieg als Sanitäter tätig war und andere Fotos von Verwandten. War es wegen des Schwures gegenüber dem Vater, dass Joseph ledig geblieben war und niemand Nachfahren hatte? Oder war es damals schon schwierig für Bauern, eine Frau zu finden, die Arbeit und Leben mit ihm teilt? Es war langsam Stallzeit geworden, ich machte mich ans Einsperren der Tiere.
Mehrmals noch besuchte uns Frau Bernagou hier oben, zweimal besuchten wir sie in der Stadt. Die Bäckerin von Sentein berichtete mir manchmal Neuigkeiten von ihr. Doch eines Tages kam sie nicht mehr zu mir an den Stand. Sie war in der Nacht entschlafen. Durch die Tochter erfuhr ich, dass ihre Mutter, schon über 80 Jahre alt, langsam begann, den Kopf zu verlieren und sie sie deshalb in ein Altersheim gebracht hatten. Ich kannte dieses, es war eher etwas schick, in keinster Weise mit dem Asyl ihres Onkels zu vergleichen! Ich machte mit ihrer Tochter, die inzwischen schon seit einer Weile in Rente war und seitdem auch in St. Girons lebte aus, uns um 15 Uhr im Seniorenheim bei ihrer Mutter zu treffen. Doch anscheinend war ihr etwas dazwischengekommen, und ich fand mich alleine mit ihrer Mutter wieder. Ich hatte ein Gläschen Honig dabei, ein Stück Käse und eine Postkarte von unserem Hof. Doch sie erkannte weder mich noch das Anwesen auf der Karte, sondern wiederholte immer nur, dass sie nichts kaufen wolle. Sie hielt mich wohl für einen Hausierer. Ich ließ alles auf ihrem Nachttischchen zurück und fuhr heim. Abends rief mich ihre Tochter an, die inzwischen die Mutter besucht hatte. Nach einer Weile Gespräch hatte es dieser gedämmert, wer ich war, und sie wollte unbedingt, dass ich sie noch einmal besuche! Doch der Sensenmann war schneller…