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Chinesische Mathematik
ОглавлениеChina entwickelte seine mathematische Kultur weitgehend ohne äußere Einwirkung Fernöstliche. Gelehrte entdeckten vieles bereits Jahrhunderte, bevor es in Europa aufkam. Zwar verbreiteten sich einzelne Ergebnisse aus dem Reich der Mitte bis nach Indien, in den Westen drang indes kaum etwas durch.
Wie weit die Chinesen anderen Kulturen teilweise voraus waren, belegt eine Inschrift aus dem 13. vorchristlichen Jahrhundert. Darin wird eine Frist von 547 Tagen in folgender Form beschrieben: »Fünfhundert plus vier Zehner plus sieben Tage.« Das Besondere daran: Die Inschrift ist der historisch erste Beleg für ein Dezimalsystem von Zahlen, wie wir es heute für selbstverständlich halten. Trotz seiner Vorteile beim Rechnen sollten aber noch rund zweieinhalb Jahrtausende vergehen, bis es in Europa eingeführt wurde.
Möglicherweise sind die Chinesen wegen ihrer Schrift so früh auf das Dezimalsystem gekommen. Die allermeisten Kulturen verwendeten zunächst Buchstaben als Zahlen. Die alten Griechen etwa, bei denen die Mathematik bekanntlich einen hohen Stellenwert genoss, schrieben für eine 1 den ersten Buchstaben in ihrem Alphabet, ein Alpha (α), für eine 2 den zweiten, Beta (β), und so weiter. Für die 10 nahmen sie einfach den zehnten Buchstaben in ihrem Alphabet, das Iota (ι). Die chinesischen Schriftzeichen hingegen stehen für ganze Wörter und kennen keine festgelegte Reihenfolge. Daher eigneten sie sich nicht zum Darstellen von Zahlen.
Die Chinesen rechneten, indem sie Stäbchen aus Bambus in Schalen legten. Für die Zahl 10 schütteten sie nicht zehn Stäbchen ins Schälchen, sondern platzierten ein einzelnes Stäbchen in ein zweites Schälchen. Dieses Verfahren übertrugen sie auf Papier. Zwar rechneten auch die alten Griechen und Römer mit ähnlichen Methoden, doch blieben sie dabei, ihre Zahlen als Buchstaben zu schreiben. Die ursprünglichen chinesischen Zahlen sehen fast so wie die Zählstäbchen aus. Ein waagrechter Strich bedeutet eine Einheit, ein senkrechter, wenn er mit waagrechten verbunden ist, fünf, sonst zehn Einheiten.
Wann chinesische Mathematiker etwas entdeckt haben, ist in vielen Fällen spekulativ. Denn in der Chin-Dynastie im dritten vorchristlichen Jahrhundert fielen etliche alte Werke Bücherverbrennungen zum Opfer. Erst später wurde dieses Wissen von Gelehrten aus dem Gedächtnis wieder niedergeschrieben. Berühmteste Schriften sind die vermutlich gut 2000 Jahre alten »Neun Bücher«, deren Original bis heute unbekannt ist. Sie enthalten 246 Probleme, die einzeln vorgestellt und gelöst werden. Zwar wird erklärt, wie man auf die Lösung kommt, logische Herleitungen oder Beweise fehlen aber. Viele der Aufgaben handeln von praktischen Dingen des Alltags, etwa der Aufteilung von Land und Waren oder der Planung größerer Bauten.
Manches in den »Neun Büchern« ist mathematisch anspruchsvoll. So tauchen etwa Gleichungen bis zum 14. Grad auf, das heißt: Gleichungen, bei denen die Unbekannte in der 14. Potenz (x14) auftritt. Zudem findet sich die heute als chinesisches Restklassenproblem bezeichnete Fragestellung: Gegeben ist eine unbekannte Menge von Objekten, bei der »wenn man sie in Dreiergruppen zählt, zwei, wenn man sie in Fünfergruppen zählt, drei und wenn man sie in Siebenergruppen zählt, zwei übrig bleiben«. Um wie viele Dinge handelt es sich?
Die kleinste Zahl mit den geforderten Eigenschaften ist die 23. Denn 23 lässt sich aufteilen in sieben Dreiergruppen, Rest 2, in vier Fünfergruppen, Rest 3, und in drei Siebenergruppen, Rest 2. Um die anderen möglichen Anzahlen von Dingen zu erhalten, muss man zu 23 ein ganzzahliges Vielfaches des kleinsten gemeinsamen Vielfachen von 3, 5 und 7, das heißt 105, dazuzählen. Weitere Lösungen sind demnach 128, 233 und 338. Anwendung finden solche Probleme zum Beispiel beim Kalender, etwa bei der Frage, wann die verschiedenen Zyklen des Mondes, der Monate und des Sonnenjahres zusammentreffen.
Das Titelblatt eines chinesischen Buchs von 1303 zeigt, was später als Pascalsches Dreieck bekannt wurde.