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A-PART (THEMA)

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Er wollte nie so sein wie die anderen. In der Schule war er nicht besonders, dafür war er außerhalb der von vorne herein verdorbenen Zeit, nachmittags und nachts, vielseitig künstlerisch aktiv. Er zeichnete und malte, wenn seine Mutter nicht zu Hause war, spielte ganz leidlich Klavier, was er durfte, und nahm heimlich am Konservatorium Schlagzeugstunden. Dafür musste er in einer primitiven Tanzcombo zweimal die Woche Geld verdienen. Seine Mitmusiker dort waren allesamt verheiratet. Sie brauchten die Kapelle, um ihrem Alkoholismus zu frönen und ihren geheimen erotischen Sehnsüchten nachzugehen. Sie bändelten mit betrunkenen Frauen aus dem Publikum an, machten zotige Witze, ließen die ganze besoffene Festhalle in albernen Reihen herumtoben und dumme Befehl ausführen: Die Männer fassen jetzt den Frauen an den Arsch! Oder: die Damen sehen jetzt mal nach, ob die Herren was in der Hose haben!

Er hörte meist nicht auf die Liedtexte. Nur bei: »Dich erkenn’ ich mit verbund’nen Augen, ohne Licht und in der Dunkelheit«, das der Sänger mit der originalen scharfen jugoslavischen Ach-Lautung sang, fragte er sich, worin der sprachphilosophische Kern des hervorgehobenen Unterschieds zwischen »ohne Licht« und »in der Dunkelheit« stecken mochte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie gerade Leute, die ohne Unterlass vom »Ficken« redeten, fremdgingen, sich Pornos ansahen, plötzlich zu Liedern mitsangen, in denen es hieß: »Manchmal möchte ich schon mit dir diesen unerlaubten Weg zu Ende gehen«. Oder dass Frauen bei der Textzeile mit einstimmten: »Das, was ich will, bist du!« An die wenigen Originaltexte, die er mal gekannt hatte, konnte er sich bald nicht mehr erinnern. Er hatte sie leise und leicht verändert mitgesungen: Bella, bella, bella Marie, häng dich auf ich häng dich ab morgen früh! Als er einmal in sein Mikrophon, das man ihm für die zweite Stimme hingestellt hatte, lauthals sang: Wir bumsen durch bis morgen früh und haben Durchfallera, musste er sich eine neue Combo suchen.

Damals war er noch nicht arrogant und nur mittelmäßig verzweifelt. Er glaubte, dass noch alles möglich sei. Er begann, sich mit seiner Schüchternheit abzufinden und erklärte sich seine Andersartigkeit damit, dass seine Mutter das immer gewollt hatte. Zu Fasching hatte sie ihm ein Rotkäppchen-Kostüm übergestreift. Er hatte sich erbärmlich geschämt, genauso wie in den Äppelklauer-Büchsen (so hatte sein Vater sie genannt, seine Freunde sagten: Schnellficker-Hosen dazu, wegen des mit zwei Reißverschlüssen zu öffnenden Latzes), weite karierte Kniebundhosen, die sie ihm genäht hatte. Wehrte er sich, fing sie an zu weinen und redete tagelang nicht mit ihm. Also versuchte er lieber, die Idee, die hinter ihren Wünschen stand, als seine ureigenste Andersartigkeit anzuerkennen und sie gegen die anderen zu verteidigen. Er begann zu vergessen, dass er lieber wie alle als Old Shatterhand gegangen wäre oder wie Mick Jagger aussehen wollte. Sein Vater hingegen hatte es gern, wenn er in allem so war wie die anderen, nur besser: mutiger, selbstsicherer, stärker, ehrgeiziger. Er fing an, sich abfällig über Schwächlinge zu äußern, die ihre schlechten Schulnoten nicht ertrugen und sich umbrachten, oder die überhaupt miese Zensuren hatten, obwohl sie aus reichen und gebildeten Elternhäusern stammten.

Genauso wie sein Vater konnte er nicht verstehen, wie erwachsene Männer an Schicksalsschlägen zugrunde gingen und dem Alkoholismus anheimfielen, nur weil ein Kind gestorben oder ihre Frau untreu war. Seine Schwierigkeiten mit der Normalität der anderen, ihrer Durchschnittlichkeit, erklärte er sich damit, dass er zu etwas Großartigem bestimmt war. Ab irgend einem Zeitpunkt würde er, selbst wenn er gewollt hätte, keinen Zugang mehr gefunden haben zu den ganz normalen Lebensäußerungen der Mitschüler, Freunde oder Mitmusiker.

Sein späteres politisches Engagement für die Diktatur des Kollektivs der Mittelmäßigen war zeitgemäß gewesen. Er hatte aber nie wirklich geglaubt, dass alle Menschen ihre Geschicke fortan selbst bestimmten, sondern sich in Tagträumen vorgestellt, dass er, eine redegewandte und erotisch ausstrahlende Mischung aus Daniel Cohn-Bendit und Jim Morrison, von einer Tribüne zu ihnen sprach und sie aufrief, ihre entwürdigende Fließbandarbeit aufzugeben oder in der Straßenbahn nicht mehr zu bezahlen. Da er aber die Erfahrung machen musste, dass er, wenn er aufgeregt war, leicht stotterte oder ganz den Faden verlor, nahm er sich später vor, die Massen mit guter, echter, ehrlicher Musik zu begeistern und in Bewegung zu setzen. Mit Jazz also. Für das Gro der Bevölkerung bewegte sich, fand er, die Musik, ganz gleich, ob sie Schlager hörten, billigen Rock oder Pop, hauptsächlich im Warentakt. Er wusste irgendwann nicht mehr, ab wann ihn das stumpfe Immergleiche nicht nur langweilte, sondern in ihm Übelkeit hervorrief, ab welchem Punkt seiner persönlichen Entwicklung er ein schwer zu beschriebendes Gesetz des tendenziellen Falls der Rate kulturindustriell erzeugten Lustgewinns zu ahnen begann.

Als er studierte und nicht mehr zu Hause wohnte, schrieb er seinem Vater einen Brief, in dem er dessen Neigung zu spießigen Vorurteilen kritisierte, seine verlogene Stehaufmännchen-Mentalität nach der tausendjährigen Barbarei, die zum Glück nach zwölf Jahren beendet war. Er hatte seinen Daddy, der immer noch missbilligend auf seine zerrissenen Jeans sah, wenn er heimkam, daran erinnert, dass er mittlerweile, bitteschön, an die dreißig sei, so alt wie ein germanischer Stammesfürst, ein Universitätsprofessor des 19. Jahrhunderts oder der statistisch durchschnittliche gefallene Soldat 1944. Wem aber erlaubt ist, tot zu sein und dem ästhetischen Empfinden der anderen seinen verfaulenden Körper zuzumuten, der darf wohl auch darüber befinden, wie er als Lebender aussehen möchte! Wem erlaubt ist, sein Leben sinnlos hinzugeben, der darf auch entscheiden, mit welchen Menschen er verkehrt, welche Partei er wählt, beziehungsweise ob überhaupt! Deine faschistischen und kriegerischen Tiraden klingen mir noch in den Ohren. Nur dass du heute zufällig Mitglied einer demokratischen Partei bist, weil deine alte verboten ist, und dass du jetzt als Ratsmitglied Freunde in Istanbul besuchst. Ehemalige Gastarbeiter, die ihr hergeholt habt, um sie auszubeuten und das deutsche Proletariat mit billiger Arbeitskraft zu erpressen. Ich hasse euer Philistertum, eure Verlogenheit und finde es beschämend für ein angeblich gereinigtes demokratisches System, dass es euch wieder hat hochkommen lassen!

Seine Mutter kritisierte er nie, nicht von Angesicht zu Angesicht und auch nicht in Briefen. Er hatte Angst, sie zu verletzen und fürchtete ihre Migräne sowie ihren Scharfsinn, ihre eisig analytische Art, die Dinge aus einer unlebendigen Distanz zu betrachten, wo sie all ihren Glamour verloren. Seinen Vater, der gelegentlich die etwas aufgebauschten Leistungen des Kronensohns, wie sie ihn dann nannte, bewunderte, ihn manchmal überschwänglich lobte, konnte er bluffen; seine Mutter durchschaute ihn, als einzige übrigens – und sie tadelte sein eitles Gehabe, seine kleinen Lügen, nicht in Worten als vielleicht »affig«, sondern kanzelte ihn durch Unbeteiligtheit ab, sagte so unüberhörbar nichts, dass sich das Wort ihm direkt aufdrängte als ihre Sprache gewordene Geste. Sie war, wie Sartre über seine Mutter sagt, eine feine Realistin in einer Familie plumper Spiritualisten.

Gelegentlich denkt Lucius, dass er vielleicht nicht hartnäckig genug kämpft, dann wieder, dass er oft schon zu viel und zu unerbittlich gefightet hat, zu weit gegangen ist, um sich noch unbeschadet zurückziehen zu können, dass er zu wütend geworden ist oder aus Angst, wütend zu werden und sich zu blamieren, nichts gesagt hat, dass er sich entblößt hat bis zur Lächerlichkeit und dann trotzdem oder gerade deswegen verloren hat, oder dass er aus Angst zu verlieren frühzeitig aufgab und dadurch nicht gewinnen konnte. Nie wieder soll ihn jemand erniedrigen, vor allem aber will er sich nicht durch unkontrollierte Überreaktion selbst lächerlich machen!

Manchmal glaubt er, dass er sich niemandem anpassen kann, mit keinem auskommt, dann wieder, dass immer er sich nur den anderen anpasst. Niemand spricht unaufgefordert mit ihm über seine Musik, stattdessen redet er mit ihnen über ihre, die er tödlich doof findet. Was sind die Rolling Stones gegen Phil Woods oder Sonny Rollins! Oder er lässt sich beispielsweise – als philosophischer Materialist – auf die blöden Glaubenssysteme von Esoterikern ein, die nicht einmal in der Lage sind, ihre als Wissenschaft daherstolzierenden haltlosen Behauptungen in einer systematischen Methode zu entfalten.

Er hat sich oft Gedanken darüber gemacht, wie es kommt, dass die Mehrheit den musikalischen und technischen Wert seiner Musik, des Jazz, nicht wahrnimmt oder zumindest nicht anerkennt. Er hatte überlegt, ob er vielleicht so tun sollte, als sei er wie sie, um nicht allein dazustehen oder einer Minderheit anzugehören. Aber die Disco-, Rock- und Popmusik deprimiert ihn, sie besitzt nicht den Reiz der komplexen Form, der relativen Freiheit der Improvisation im Rahmen eines sehr viel ausgeklügelteren Harmoniegerüsts. Er liebt den lockeren, flüssigen Beat des Swing. Die anderen, glaubt er erkannt zu haben, halten nur aus Angst zwanghaft an ihrer einfach gebauten Musik fest, weil sie merken, dass sie nicht mithalten können. Aber auch innerhalb des Jazz gibt es ungezählte Abgrenzungsgefechte. Da sind die erfolgreichen und gut bezahlten Vertreter des Bier- oder Rumpel-Jazz, wie sie den Dixieland nennen, alte Herren, Vertreter und Medizinalräte, die amateurhaft über lächerlich simple Stücke wirr durcheinanderspielen. Es gibt Boogie-Woogie-Pianisten, die als überbezahlte Alleinunterhalter bei Talkshows auftreten und es schaffen, dass sich ein Stück wie das andere anhört. Oder es gibt den Rock- beziehungsweise Fusion-Jazz, in dem sich die statischen Grooves der Popularmusik durchgesetzt haben.

Wenn er seinen Stil beschreiben soll, sucht er nach Beispielen, allerdings nicht ohne auf seine mittlerweile gewonnene geschmackliche Eigenständigkeit hinzuweisen. Er spiele so ähnlich, versucht er zu erläutern, als wären Jack DeJohnette oder Jon Christensen in die Gruppen Coltranes oder des frühen Miles Davis geraten, offener, moderner also als die Trommler der fünfziger Jahre. Bebop mit Modern Jazz vermischt. Wenn Steve Gadd Jazz spielt, den vor allem die Elektrobassisten, mit denen er gelegentlich zu tun hatte, seiner Präzision und Tempogenauigkeit wegen lobten, verlaufe die Dynamik kreisförmig, hat Lucius analysiert. Ostinate Abläufe in den Thementeilen kehren immer mit haargenau derselben Intensität wieder. Die Spielweise von DeJohnette und Christensen gleicht hingegen einer Spirale, die sich endlos vorwärts schraubt. Immer geschieht etwas Neues, nie wiederholt sich Bekanntes, ein ewiges Neu-Erfinden, das beim Spielen in einen rauschhaften Zustand versetzt, beim Zuhören gelegentlich Unruhe auslöst. Die Spirale hat keinen Anfang und endet nirgends, wie eine epische Erzählung, die mitten im Leben eines Protagonisten beginnt und eigentlich ohne Schluss bleibt. Solche Stücke werden am besten durch Ausblenden beendet, dadurch bleibt die Idee der Unbegrenztheit gewahrt. Zugleich, musste Lucius eingestehen, besitzen sie aber den Makel der ewigen Unvollendetheit, der Unabgeschlossenheit und ewigen Unfertigkeit. Unendlichkeit aber macht ihm Angst.

*

Er setzt sich nach der Konzertreise auf dem Weg von England über Holland gleich hinter der niederländischen Grenze von der Gruppe ab. Nicht, weil sie ihm nach so langer Zeit alle auf die Nerven gehen. Jedenfalls nicht hauptsächlich deswegen. Er muss noch einmal nach Heidelberg zurück: Nereas Vater war vor drei Tagen in einer Besenkammer der Psychiatrie erhängt aufgefunden worden, er war mit der Schuld, die er auf sich geladen hatte, nicht fertig geworden. Er hätte die nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau eingetretene Einsamkeit auch dann nicht ertragen, wenn er sie nicht selbst verursacht hätte, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben wäre, der ohnehin absehbar gewesen war.

Nerea und Lucius finden den Umstand, dass es ihm trotz ständiger Überwachung gelungen war, beinahe tröstlich: Jeder braucht eine letzte Chance! Sie trinken in der Bahnhofskneipe in Heidelberg ein letztes Bier vor seiner Abfahrt. Dann bohrt sich der Intercity nach Hannover in die Nacht. Jetzt sitzt er, müde und dumpf entspannt von den Tranquilizern, die sie genommen haben, zwar nicht am Fenster – da ist er zu spät gekommen, aber er kann wenigstens seine heiße Wange an die kühle Scheibe zum Gang lehnen und lässt nun die beiden düsteren Silhouetten der Landschaft: die eine im Glas gespiegelt, die andere dahinter, vorbeifliegen. Vereinzelte Lichtpunkte dazwischen, wie Leuchtmunition in Kriegsfilmen. Sein Blick bleibt an den ruhigeren, entfernten Lichtern haften, die in einiger Höhe am Himmel hängen. Ufos? Nur langsam setzt sich die ernüchternde Einsicht durch, dass es sich um Signale an den Türmen der Burgen auf den Anhöhen der Bergstraße handelt.

Filmhelden lernen im Zug meist, wenn sie den Blick heben, ihre erste wirkliche Liebe kennen: Sie sitzt gegenüber, blass, zerbrechlich, schön, sieht ihn wie versehentlich kurz aber tief über den Rand eines erotischen Groschenromans an. Sie sitzt ihm gegenüber, etwas pummelig, das glatte hellblonde Haar adrett in der Mitte gescheitelt, Popperfrisur: Vorsicht, Stufe! Kaut unentwegt, liest angespannt in einer kleinformatigen Broschüre, die sie in der Mitte geknickt hat. Er kann mit einiger Anstrengung einige Sätze erahnen: Weil jede Beziehung einzigartig ist ... welche Ursachen für Trockenheit am Scheideneingang ... dass viele Paare dem körperlichen Zusammensein eine viel zu kurze Zeit widmen ... wenn man bedenkt, wie viel schneller der Mann die Plateau-Phase erreicht ... die Frau bei einer geringen Dauer des Liebesaktes zu kurz kommt ... mehr Zeit der liebevollen Beschäftigung miteinander ... am Scheideneingang für Gleitfähigkeit sorgt ... Femilind gleicht mangelnde Feuchtigkeit aus.

Wenn sie gerade nicht liest oder er selbst schreibt, legen sie sorgsam ihre Blicke aneinander vorbei. Sehen sie zugleich aus dem Fenster, kreuzen sich die Katheten hinter der Scheibe am Punkt C, die Hypotenuse zwischen A und B, ihm und ihr, ist eine unscharfe Linie, eine indirekte, verschwommene Sichtverbindung aus dem Augenwinkel. So kann er jederzeit einem frontalen Aufeinanderprallen der Blicke zuvorkommen. Lässt es sich dennoch nicht verhindern, weil man nicht unentwegt in die gleiche Richtung stieren oder beim Positionswechsel des optischen Interesses von links nach rechts jedesmal wie zufällig die Augen schließen kann, lächelt sie abwesend; er pfeift. Jetzt will er seit mindestens zehn Minuten ihre Illustrierte haben, die auf dem freien Nachbarsitz liegt, findet aber keine passende Gelegenheit, sie zu fragen. Na, egal, steht ohnehin nichts drin!

Er blickt hinunter auf seine rotbraunen Marken-Turnschuhe, der rechte ist etwas blasser. Nereas Vater hatte immer auf Sonderangebote geachtet. Lucius hat sie zusammen mit einem teuren Tischtennischläger unter dem entweder liebevoll oder zwanghaft gesammelten Gerümpel im Wäschezimmer vorm Bad gefunden, zwischen Gegenständen, die überall ganz selbstverständlich und wie zum täglichen Gebrauch herumlagen. An die zwanzig kaputte Wecker standen auf der Ablage des alten Küchenschrankes. Leere Spraydosen, die er noch von früher zu kennen glaubte, benutzte Papiertaschentücher, Hosen, von ihren Besitzern kürzlich erst, als sie noch lebten, über die Stuhllehne geworfen, Pullover, Hemden, Unterwäsche, Sportzeug, alles riecht noch getragen. Jede Trennung ist schwer. Hier war er vor Jahren wie ein Kind zu Hause.

Er zerrt den Notizblock aus der Tasche, den die Staatsanwaltschaft neben einigen anderen beschlagnahmten Dingen an Nerea zurückgeschickt hatte. Das unbeschriebene obere Blatt weist die Druckspuren übereinanderliegender handschriftlich verfasster Sätze auf. Sein Versuch, die in einander gerutschten Worte durch Überschraffieren der Rückseite sichtbar zu machen, bringt wenig ein; die Konturen sind zu schwach. Wenn er aber das Blatt schräg ins Licht hält, werden einzelne Wörter und Satzfragmente sichtbar. Er ist aufgeregt und konzentriert sich auf verstehbare Zusammenhänge. Seine Augen schmerzen, es ergibt alles keinen Sinn; mal scheint es sich um Briefe, mal um flüchtige Notizen zu handeln, mehrere verschiedene Anreden über- und nebeneinander: Kollegin war hier. Staatsanwalt Ziege und Rechtsanwalt Unger Vollmacht. Bausparverträge. Ölrechnung. Auto etc. Nescafé Gold. Streuselkuchen mit Mohn 50 C. 1 Eis. Mutti: Röntgenbilder gesehen, total verkrebst (Nieren, Leber, Lunge sogar). Besuchserlaubnis per Post.

Kein Geständnis eines Mörders, der sein Gewissen entlasten will, nicht das Vermächtnis eines Straftäters, der wenig später Hand an sich legen wird und alles preisgibt, weil er nichts zu verlieren hat. Kein Dokument der letzten Minuten vor der grausigen Tat, das dem Kommissar in die Hände fällt und der stagnierenden Recherche des Tathergangs die entscheidende Wendung gibt. Nicht in jedem Fall ist das reale Leben aufschlussreicher als die Fabel, die erfundene Geschichte.

Enttäuscht zieht er die in Heidelberg gekauften Schallplatten aus der Tasche. Sein vorrangiges Interesse gilt immer den Rückseiten der Covers. Als erstes lernt er die Besetzungen der Gruppen auswendig, dann die Titel. Hannibal Marvin Peterson, Thomas Martin Stevens, Bobby Nelson. Er ist sich nicht sicher, sieht auf dem Cover nach. Siehst du, das hab ich schon mal falsch gemacht, als er sich von mir einen Beckenständer auslieh und ich zu ihm sage: Sure, Bobby Nelson gets my best cymbal stand! Allan Nelson, sagte der andere mit Nachdruck, vielleicht beleidigt. Klar: Allan Nelson und Bobby Cochrane, so herum war es richtig.

Derartige Missgeschicke sind ihm oft jahrelang peinlich. Wie zum Beispiel die Episode mit Harry Beckett, dem er in der Garderobe von einigen der weltbesten Trompetern vorschwärmte, bevor er ihn fragte, welches Instrument er denn spiele. Well, I play a bit trumpet too, hatte der nachsichtig gelächelt, bevor er durch den Vorhang ins Rampenlicht trat.

Andererseits konnte er sich aber auch ebenso lange über gelungene Scherze freuen, die ihm meist eher beiläufig herausrutschten. Der Drummer von Phil Woods stellte sich vor: Goodwin (den Vornamen hatte er nicht mitgekriegt, »Bill« glaubte er jedenfalls verstanden zu haben). Wie er denn heiße, wollte er von Lucius wissen. Bill Badloose, hatte er eher beiläufig geantwortet. Später mussten sie alle (Phil Woods, Bill – oder wie auch immer – Goodwin, Horace Parlan und der Bassist, dessen Namen er vergessen hatte, vermutlich Harvie Swartz) hinter der Bühne lange über Bill Badloose lachen.

Er hat ihr versprochen, sie vor Göttingen zu wecken. Gegen die Müdigkeit trinkt er Kaffee, jedesmal, wenn der Wagen mit Getränken und Snacks vorbeikommt. Kurz vor Kreiensen muss er eingeschlafen sein. Celle, hier Celle, er reibt sich die Augen, die Linsen sind verklebt, brennen. Mensch, dann muss ich ja nächste Station raus! Was, Celle? Er hat Hannover verschlafen! In einem Satz ist er draußen, wenige Minuten später friert er. Er sieht auf dem Plan nach dem nächsten Zug Richtung Hannover. Er muss zwei Stunden warten, setzt sich auf eine Bank, zieht fröstelnd den Jackenkragen hoch. Als er aufwacht, ist es nach sieben.

Im Hauptbahnhof Hannover kauft er sich an der »Mampfmaschine« – er muss nach Jahren immer noch über den Namen der Imbissbude schmunzeln – ein weiches belegtes Brötchen, hastet kauend den Tunnel unter der Bahnhofspassage entlang, beim Trinken und beim Essen: vorwärts nicht vergessen. Brechblumen brechen und Blechbrunnen sich Bahn dem Aug’ des Wanderers, kommst du nach Spar.

An der Rinne im Großraumpissoir stehen sie dicht gedrängt. Immer rückt einer eng an ihn heran, der ihm ganz unverhohlen auf die offene Hose glotzt. Die sogenannten Trockenpisser sind für ihn die bedauernswerteste Kategorie des homosexuellen Spanners. Was er nicht versteht: wie man sich die Schwänze anderer ansehen kann, wenn man selber einen hat. Schon Kant betrachtete das Ding an sich!

Ey, Atze, hasse ma'n Euro oder fünf? Ick bin aufe Durchreise, zu meine Mutter in Berlin. Aber mir ist det Reisegeld ausjejangn, faschtehste?

Ausgegangen, wa? Weggelaufen! Aus der Flasche geronnen, ne?

Erzähl noch so ein, ey. Verpiss dir bloß, Keule, jeh bei deine Olle und steck dir was in Kopp, dassde noch fetter wirst!

Er beobachtet diese Szenen gern. Is gut Mann, kannst weitergehn! sagt der entlassene Sträfling, der auf dem kalten Kachelboden hockt, eine leere Blechbüchse neben sich, du verdeckst meine Auslagen: Ich habe Hunger, danke. Das Schild an die Beine gelehnt. Besuchen Sie auch unsere Filiale gegenüber! Kaufhof.

Indirekt geben ihm gestrandete Existenzen Mut: Warum mache ich mir Sorgen? Was brauche ich denn schon zum Leben! Meine Altbauwohnung im Hinterhaus, Wasser, Brot, Käse, Wurst, Milch, Kaffee, vielleicht Tee, die paar Sachen zum Anziehen. Mein Schlagzeug. Was noch?

Na gut, Bücher, Stereoanlage, Fernseher, nein, den nicht unbedingt. Ab und an ein Auto, um zu den Konzerten zu kommen. Krankenwagen müssen sein, das sollte jeder einsehen, Busse, Bahnen. Taxis vielleicht noch. Aber warum muss jeder ein eigenes Auto besitzen? Na-ja, manche Leute können ihre Arbeitsplätze gar nicht mehr anders erreichen. Bevor er die Liste der wenigen Dinge, die man braucht, ins Unermessliche anwachsen sieht, gibt er den Gedanken auf.

Im wild wimmelnden Haufen einige größere Exemplare mit weißer Kappe: Hamse wenigstens nen Reisepass oder so? Wo wohnen Sie denn? Sie wissen, dass Sie hier nicht schlafen dürfen, also los jetzt! Eine johlende Meute rammt sich, Flaschen schwenkend, in Ketten zu wenigstens sechs Leuten, durch die unterirdische Verkaufsstraße, die ihn an die kalten Betongänge der Pathologie unter der Medizinischen Hochschule erinnert. Schiefe Militärmützen halb über die kantigen Visagen gezogen. Wir lieben Adolf Hitler und sein Reich, alle Juden sind uns gleich, wir lieben Skinheads und SA, schlagen Türken, ist doch klar. Stich und Hieb muss ein Landsknecht, viel Feind, viel Ehr, zwo, drei. Ein Eisbrecher, rawumm, Passanten spritzen seitlich weg. Opa, nimm dein’ Stock runter, ich helf dir jedenfalls nicht!

Vor Wochen glitzerte der Bahnhofvorplatz eines Nachts, durch kreisendes Blaulicht surreal in fliegende Leuchtstreifen zerhackt, von den Scherben zerdepperter Bierpullen. Auch eine Kristallnacht! Für den Skinhead, der sterbend auf den Stufen unter dem Monument des reitenden Landesvaters saß, hatte Lucius, der von einem Gig kam, eine Ambulanz gerufen, das Messer hatte er sich selbst aus der Brust gezogen. Einem türkischen Jugendlichen war zwei Tage zuvor der Schädel mit einem Baseball-Schläger zertrümmert worden.

Hier und dort sieht man auf dem Weg zum Kröpke Straßenmusiker im Strom, sehr gute dazwischen, amerikanische Folksänger mit lauten, beherzten Stimmen, Münzen fliegen glitzernd herüber wie Geschosse. Ein afrikanischer Congaspieler erzeugt warme, lebendig klangvolle Rhythmen, die von den toten Fassaden aus Glas und Beton widerhallen und ihre ungehörte Botschaft vom Kino-Center bis zum bankrotten Wertheimpalast verbreiten. Das immergleich stumpfe Retortengestampfe aus Stereoanlagen, das aus den Boutiquen quillt, wird bunt umwoben wie ein verlorener Polyesterfaden in einem groben Baumwollhemd. Ein paar bunte, wild zerzauste Punks tanzen und klatschen im Rhythmus. Dezent frisierte, graubärtige Jazzinteressierte stehen mit Umweltpapiertüten voll preiswerter Standardplatten wohlwollend nickend abseits, stampfen mit dem Fuß einen falschen Beat.

Die graue Plastiktüten-Spezies drängt irritiert oder betont unbeteiligt vorbei. Etwas weiter mimt ein klappriger Dirigent unter großem Gelächter zu holpriger Marschmusik aus einem Plastik-Plattenspieler, wenige Münzen im zerbeulten Hut.

Ein schmuddeliges Roma-Kind quetscht unbeholfen melancholische Tonfolgen aus einem Akkordeon. Ab und zu kommt die Mutter, in bunte Tücher gehüllt, ein Baby im Arm, und nimmt die wenigen Groschen vom Teller.

Um die Ecke das Pro-Percussion-Center. Wie alle Industriebereiche bemüht sich auch die Musikinstrumenten-Produktion, mit den Bedürfnissen schrittzuhalten, die sie erzeugt. Das totale Equipment des modernen Top-Drummers: Yamaha. Baut alles, vom Motorrad bis zum Konzertflügel. Synthies, Expander, Keyboards, Drum-Machines, Sound und rhythmische Stereotypie von Fabrikhallen als Musik kultiviert. Atemberaubend schnelles Rollen mit zwei Stöcken und einem Doppel-Fußpedal über funkelnde Kaskaden unzähliger Toms, manchmal nicht musikalischer als das Ausschütten eines Kartoffelsacks, aber technisch beeindruckend. Virgil Donati dreht die Stöcke blitzschnell beim Spielen, wie ein Zirkusakrobat. Die Meute der meist jugendlichen Zuschauer johlt begeistert. Vor Wochen hatte Jack DeJohnette hier ziemlich verloren versucht, feine Melodien und sensible Klangbilder zu entwerfen; die Kids hatten sich enttäuscht und höhnisch grinsend angesehen: das soll einer der besten Trommler der Welt sein?

Auf dem Bahnhofsvorplatz zerren sie eine zerquetschte Frau unter einer Straßenbahn hervor, der Kopf vollkommen platt. Die umstehenden Schaulustigen starren gebannt auf diesen Zustand äußerster Intimität: Ich schenke euch meinen schrecklichen Tod als Katharsis und gebe euch mein Innerstes preis zur Läuterung eurer abgestumpften Seelen. Die Ambulanz hat Mühe, sich durch die dichte Traube zu drängen.

Aus ihrem Briefkasten mit der aufgebrochenen Tür quillt die Post, Rechnungen, Mahnungen zumeist, Annette hat nicht geschrieben, an wen auch, er war ja ebenfalls nicht da. Leider müssen wir feststellen, dass Sie mit folgenden Mieten und Nebenkosten im Verzug sind: Umlagennachzahlung lt. Aufstellung EUR 289,50. Miete Februar EUR 696,00, Miete März EUR 696,00, Miete April EUR: 696,00. Betr. Ihre Thuringia Musikinstrumenten-Versicherung, Vers.Nr.: 598 782 - D/003. Beitragsfälligkeit: April, EUR 138,00. Eine statistische Umfrage für eine Diplomarbeit eines deutschen Jazz/Rock/Pop-Fachbereiches wird er später gewissenhaft am Schreibtisch beantworten. Ihm gefiel der Einwand Dieter Glawischnigs gegen die Zusammenlegung von Jazz und Pop: man unterrichte ja auch nicht Oper und Operette. Es verschafft Lucius eine traurige Befriedigung, ihnen seinen deprimierenden Einkommensdurchschnitt vorzurechnen, der sich aus der hohen Anzahl der Konzerte und seinem beängstigend niedrigen Jahreseinkommen erhellt. Auf die Frage, ob er auch mit angrenzenden Künsten (Theater, Tanz) zu tun habe, antwortet er: Ja, und ob! Jedesmal, wenn ich auf Tour fahre, macht meine Freundin Theater und führt einen unglaublichen Tanz auf.

Im Hausflur sammeln sich dicke Staubflusen zwischen den Stangen des Treppengeländers, Sand und trockener Straßendreck knirscht unter den Sohlen.

Die türkische Nachbarin putzt jedes Wochenende, bis vor kurzem jedenfalls. Für zwanzig Euro im Monat wollte sie es für die anderen mit machen. Sie haben selbst wenig Geld, halten es außerdem für einen ziemlich peinlichen Snobismus, eine Türkin auszunutzen, die den ganzen Tag schwer arbeitet. Lucius und Annette versprachen, es in Zukunft selbst zu machen. Seitdem ist es dreckig. Sie hat Ärger mit den Kindern: Ich so gute Mutter, so gute Mann, arbeit ganze Tag, warum Sohn faul? Und Tochter war so gut in Schule und jetzt nicht mehr aufnehmen, warum? Sie hat sich nicht fristgemäß zurückgemeldet! Sagt die Sekretärin. Da kann ich nichts tun, tut mir aufrichtig leid! Nein, da kannst du nichts tun! Wir werden die Kanacker schon los, keine Bange!

Unten wohnte bis vor kurzem eine türkische Frau mit ihren beiden Söhnen in einer unbeheizten Zweizimmer-Wohnung. Einer ist über Nacht abgeschoben worden, der andere war aus dem Heimaturlaub nicht zurückgekehrt. Die Mutter schafft tagsüber in einem Hotel als Putzhilfe, abends hilft sie als Köchin in einem Restaurant aus, spät nachts sitzt sie am Fenster, in dicke Wollsachen gehüllt, und starrt in den Hinterhof. Sie hatte ihnen das Foto des Schrottautos gezeigt, in dem ihr Mann vor fünf Jahren bei Kassel tödlich verunglückt war. Mittwoch zwischen elf und eins Abzählung der Strom-, Gas- und Wasserzähler: ich Arbeit, nix zuhaus. Er nimmt ihren Hausschlüssel an sich.

Die Schrottkiste mit der eingeschlagenen Frontscheibe vor der Tür: Dieses Fahrzeug haben rot-grüne Chaoten demoliert, die doch angeblich gegen Gewalt sind. Der Eigentümer. Vielleicht solltest du aufhören, nachts bei offenem Fenster, mit der Lautsprecherbox auf dem Sims, Führer-Reden in die Nachbarschaft zu blasen.

Jegliches Abstellen sowie das Spielen von Kindern verboten! Der Hauseigentümer.

Nehmen Sie gefälligst ihre tote Katze mit rein! Schweinerei!

Die Wohnung riecht muffig, es ist stickig. Lucius reißt die Fenster auf. Annette hatte das Katzenklo nicht ausgeschüttet. Die Katzen sind bei Brigitte, steht auf dem Zettel, den sie an den Kühlschrank geheftet hat. Die Schlafzimmertür ist verschlossen. Er sieht sich um, betrachtet das Bett genau. Es ist nicht gemacht. Er findet nur einige lange blonde Haare von ihr. Seit geraumer Zeit sucht er hartnäckig nach verborgenen Anzeichen ihrer Untreue.

Als er nach unten sieht, sind beide Beine bis zu den Knien mit hektisch sich bewegenden schwarzen Punkten übersäht. Er knallt die Tür zu, streift sich die Klamotten vom Leib, wirft sie in den Wäschekorb. Er überschüttet die ganze Wohnung in einem wütenden Ekelrausch mit Flohpulver, künstliches Schneegestöber wie in einem Hollywood-Studio. Die beiden nächsten Tage verbringt er in der Wohnung gegenüber. Jutta, ihre Nachbarin, ist als Journalistin viel unterwegs, und sie besitzen ihren Hausschlüssel. Für alle Fälle. Er macht es sich an ihrem Schreibtisch vorm Fenster bequem. Das große schwarze Buch liegt in der Mitte der weiß getünchten Schreibfläche, robuster, harter Einband, leicht gemustert, was man nur sieht, wenn man es schräg gegen das Licht hält. Wie ein Band der Neuen Bibliothek, findet er. Nur großformatiger, wie ein alter Diercke-Atlas, jedenfalls fast so groß!

*

Sie sind über sieben lange Wochen unterwegs gewesen. Gespielt haben, sogar auf Tour gewesen sein mit klangvollen Namen der Musikbranche: Das schreibt jeder Musiker gern in seine Legende. Für Wochen gemeinsam in einem Bus sitzen, das suggeriert Intimität, Freundschaft. Man sitzt eng zusammengedrängt auf der Rückbank, jeder riecht die Schweißfüße der anderen. Die anderen: sind sie gut, bin ich es folglich auch; kein Star hat es nötig, 'ne Nulpe mitzuschleppen. Sind sie berühmt, werde ich es vielleicht durch sie.

Gute Mitmusiker sind für ihn: »Inspiration und Ansporn. Man knüpft gemeinsam an einem aus individuellen Ideen kongenial komponierten bunten Teppich. Und wenn man Glück hat, fliegt der sogar.« Der junge Praktikant von der Provinzpostille lutscht nervös an seiner Füllerkappe und kritzelt die filigran verzierten Laubsägearbeiten in seinen Block. Die Wangen glühen vor intellektueller Beanspruchung und kulturell-auratischer Erregung.

Was Lucius nicht gesagt hat: Gute Mitmusiker lösen Konkurrenzangst aus, eine fast panische Furcht zu versagen, das Gefühl, sein Licht könne verblassen in ihrem Glanz. Er erwähnt auch nicht, dass ihn das eitle Gehabe der Solisten ärgert, dass es ihn wütend macht, wenn die Zeitungen deren genialen Ideenreichtum, ihre Stilsicherheit, ihren Geschmack, ihre atemberaubende Technik loben und seine Time-Sicherheit und gruppendienliche Zurückhaltung wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Banausen!

Was er auch nicht sagt: Schlechte Mitmusiker bedeuten für ihn schamrote, heiße Wangen; im Publikum glaubt er Kichern oder gar unverhohlenes Lachen zu beobachten, manchmal hört er Pfiffe, sieht leere Säle, ganz am Ende ein schlecht besetzter Tisch, die Leute unterhalten sich angeregt, bäumen sich hin und wieder auf vor Lachen, schlagen sich prustend auf die Schenkel, er lugt verschämt oder manchmal selbst höhnisch grinsend zum Bühnenboden. Anrempeln an der Theke in den Pausen. Lieber gar nicht erst hinsehen, wer`s war. Der Wirt sieht durch ihn hindurch, überhört seine gefistelte Bestellung. Ziehen in den Schultern, Rückenschmerzen. Hoffentlich ist es bald eins!

Schlechte Musiker werden nicht engagiert, sie engagieren, lassen spielen. Sie tauchen geschickt unter, wenn’s brenzlig wird und steigen hier und da, wo es gerade nicht passt, mit eigenartigen oder wenigstens eigenwilligen, eigentlich schlicht falschen Akkorden oder Phrasierungs-Extravaganzen wie Kometen aus dem trüben Dunst der Kacke, die vor allem sie selbst zum Dampfen gebracht haben. Spannung entsteht allein aus dem fehlenden Bezug zum harmonischen und rhythmischen Gesamtzusammenhang. Oft tauchen sie als Musiker ganz unter und erstrahlen jäh als Fronttypen, Showaffen und Hampelmänner im geklauten Glanz der Leuchten im Hintergrund. Sie beherrschen als Stage-Techniker, Best Boys und Roadies den Bühnenraum, die Bretter vorm Kopf werden in halsbrecherischen Balanceakten zu jenen, die ihre Welt bedeuten. Sie wuchten herrisch und mit selbsbewusstem Getöse Verstärker und Boxen zu wackeligen babylonischen Turmbauten übereinander und setzen die ganze Bühne unter Strom: »Weg da, lass mich mal. Nimmste mal dein’ Fuß da weg!«. Stundenlang werden Mikros getestet mit falschem Gesinge oder »eins, zwei, one, two« (die »drei« ist erst nächste Klasse dran). Man hält unbekümmert stand im nervzerreißenden Gefiepe des Feed Backs, das stolz und entschuldigend zugleich achselzuckend kommentiert wird: schließlich könnte ja auch gar kein Ton kommen. Sie stehen da, breitbeinig, grinsend, wie ein besoffener Titanic-Offizier, der gerade erfährt – »lächerlich, ha ha« –, dass sein Schiff gleich sinken wird. »Da musste durch, Alter!«. Immer sind sie laut, vorm Spielen, beim Spielen, danach an der Theke: »Ja, ich bin von der Truppe; was trinkst’n du, Kleine?«

Die Typen hat er hassen gelernt! Oder besser, er hat es nicht gelernt, sie einfach hinzunehmen wie ein Naturereignis, das man nicht verhindern kann.

Er spricht nicht viel mit den anderen. Er nehme lieber das Blattgold des Schweigens vor den Mund, sagt er einmal in einem Interview.

Während der sieben Wochen, die sie auf Tournee sind, sitzt er meist im Bus oder in Kneipen abseits an einem Tisch und liest. Oder aber er schreibt Dinge in sein schwarzes Buch, Beobachtungen, Kommentare. Auch jetzt, im Rückblick, schreibt er immer noch auf, was ihm auffiel, unangenehm war oder missfallen hat. In die freien Stellen zwischen seinen Aufzeichnungen klebt er Vorankündigungen und Konzertkritiken, die ihm die Veranstalter auf seinen Wunsch zugeschickt haben und in denen er etwas über sich wiederzufinden hoffte – meist vergeblich. Jetzt, da er beim Schreiben die Dinge noch einmal durchlebt, aber nun aus der entfernten Betrachtung, geordnet, ist sein Kopf klarer als in der wirklichen Situation.

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Ina hat, wie er findet, ein hübsches Gesicht, bis zur Schulter sehr blond und gewellt eingerahmt, leicht slawisch vorstehende Backenknochen, offene, strahlend blaue Augen. Oder grüne. Ihre Stimme klingt meist etwas flach, über die Anlage kommt sie aber warm und geerdet. Er muss an die kleinen Drehorgeln denken, die immer die erste Phrase von »Für Elise« herunterleiern und nur auf Tischen und Regalen klingen. Manchmal singt sie haarscharf daneben. Zur Mitte hin gleicht sie einer Knetwachsfigur, die zu heftig aufgesetzt wurde. Nach unten läuft sie erstaunlich spitz zu. Wenn er Nappo zu ihr sagt, lächelt sie unsicher und holt zu einer drohenden Handbewegung aus. Er mag es aber auch, wenn sie ihm nur die Zunge herausstreckt und sich in einer beachtlich flinken Rotationsbewegung von ihm abwendet. Über sie schreibt er nichts, aus Angst, Annette könnte es lesen.

Er, ihr Mac, Jörn Pfuscher – den Namen hat er sich selbst zu verdanken, es ergab sich so, drängte sich förmlich auf, eigentlich heißt er Fischer –, Jörn also sucht die Musiker zusammen, die Ina helfen sollen, wenigstens so bekannt zu werden, dass das Jazzpodium über sie schreibt. Die besser sein müssen als er, damit sie nichts Schlechtes schreiben, andererseits wiederum nicht so irrsinnig gut sein dürfen, dass sie nichts über sie schreiben. Wenn sie gefragt ist, kann er davon leben. Das klingt schwierig, ist aber nicht so kompliziert zu bauen. Besser als er ist ohnehin jeder, und Musiker, die so gut sind, dass neben ihnen alle, vor allem sie beide, zu gesichtslosen Kupfermünzen verblassen wie die umstehenden Jünger auf einem barocken Heilands-Fresko, spielen eh nicht mit. Außer: Sie brauchen Geld.

Kain Cawfield braucht Geld. Zwar behauptet einer seiner Kollegen, er habe geerbt und müsse eigentlich gar nicht mehr auftreten, außerdem sei sein Alter ein stinkreicher Industriebonze. Jedenfalls nimmt Kain jeden Gig, den er kriegen kann. Er ist Münchner oder Kölner, keiner weiß das so genau. Vielleicht ist er auch Amerikaner. Sein Vater stammt angeblich aus Detroit, und er selbst soll in Frisco geboren sein. Jedenfalls »spRickt eRR AmeRikanischen Äkssent«. Andere wiederum, die mit ihm zur Schule gegangen sein wollen, behaupten, er sei aus Emden. In Memmingen jedenfalls hatte er sich auf einer früheren Tour einen ganzen Abend lang als Amerikaner ausgegeben und kein Wort Deutsch geredet. Das Publikum hatte sich rührend seiner angenommen: wie es ihm hier gefalle, ob er mit dem Niveau der deutschen Kollegen zufrieden sei und ob er nicht auch finde, dass die deutsche Sprache zu schwer sei, die sinnlosen Geschlechter der Substantive, das Chaos der Artikel, die Groß- und Kleinschreibung und die blödsinnig schwierige Unterscheidung zwischen »Du« und »Sie«. Yea, totally!

Kain ist groß, hat eine schlanke, etwas eckige Katalog-Figur und ein Gesicht zwischen Marlon Brando, Jean-Paul Belmondo, Paul und Randy Newman. So in etwa, findet Lucius. Seine Unterlippe hängt etwas vom Saxophonspielen, das macht sein markantes, aber glattes Dekorationspuppengesicht etwas wirklicher, lebendiger. Er wechselt täglich die Slips, lächerlich winzige Dinger, groß wie Augenklappen, und nutzt die Pausen zwischen den Stücken, in denen er, ungerührt, fast steif beginnend, immer weit hinter dem Beat spielend, wie Dexter Gordon, dann, im dritten, vierten Chorusdurchlauf sich ungeahnten emotionalen Rückfällen in die schweißnasse Raserei der Kindertage des Bebop bewusstlos überlassend, wobei er das rechte Bein leicht anzieht und den Oberkörper vorbeugt (beim Blues beugt er ihn weit zurück, solange er noch nicht zu besoffen ist) – die Pausen also, wenn er vom Klo zurück ist, nutzt er für kleine improvisierte Sketche: Er hat jahrelang mit Dizzie Gillespie gespielt und ist ihm irgendwann auf ‘ner Fete in New York aufs Horn gelatscht. Seitdem steht es vorne hoch. Er hat mit Miles Davis zehn Jahre getourt und auch mit Art Blakey, die immer sehr geschwitzt haben. Aber nach einiger Zeit habe es ihn nicht einmal mehr gestört, dass sie Schwarze waren und auch so rochen. Die umstehenden Gäste lächeln verschämt und irritiert in ihr Weizenbier. Kain wechselt abrupt die Nummer, torkelt lallend und gröhlend zur Theke, I didid mmy wayii, wo er drei, vier Weinbrand runterstürzt.

Derweil meldet sich die gelangweilt, leicht arrogant und verstimmt klingende Contratenorstimme eines der angewiderten studentischen Ökos, die den Laden betreiben und hinter einer schmuddeligen Glasvitrine Unmengen selbstgebackener Grünkernklopse stapeln, zwischen langen Fettsträhnen, zwei tiefen, deprimierten Magenfalten und dem hochgezogenen Rollkragen seines selbstgestrickten kratzigen Wollpullis zu Wort und traut sich verstockt zu fragen, wer denn der eklige Faschist sei. Kain grinst von der Theke her breit über sein Branntweinglas und zwinkert herüber. Früher ließ er gern zusätzlich ein Wallraff-Buch, als man ihn noch las, aus der Jackett-Tasche lugen, um die Verwirrung perfekt zu machen.

Kain Cawfield ist wenig über zwanzig. Die sich zusehends ausweitende, mittlerweile kniescheibengroße Fontanellen-Lichtung im heftig angegrauten Kurzhaarschnitt macht ihn gut zehn Jahre älter. Nicht wenige behaupten, er sei wirklich so alt wie er aussieht und habe seine Biographie geschönt, um den Jugendbonus der Musikszene nutzen zu können. Noch gesetzter machen ihn die ausgesucht teuren, etwas altmodischen Tweed-Anzüge, die dezente weinrote Krawatte, die immer blütenweißen taillierten – er würde kalauern: talentierten – Oberhemden, die seine Mutter ihm bügelt, nicht zuletzt der enge schwarze geheimdienst-chronische Ledermantel und der locker nach rechts vorne gekippte graue Humphrey-Bogart-Revival-Hut. Auch bei Kollegen achtet er auf stilvolle und adrette Kleidung. Einmal hat er einen fetten, immer schwitzenden Trompeter wegen seiner verstunkenen Polyesterhemden gefeuert. Mit fünfzehn spielte Cawfield eine verzerrte, irrsinnig laute Hendrix-Gitarre. Als einer mal über ihn lästerte: »Der Anfänger im Rocken«, hörte er, wie man sich erzählt, von heute auf morgen damit auf und begann, Saxophon zu spielen.

Kain hat jeden Abend zwei glanzvolle Solo-Features über »Oleo« und »There will never be another You«, die er nach Belieben, wenn er zum Beispiel will, dass Klammfinger Pfuscher, der doppelt so alt ist wie er, sich im Mittelteil, den er wahlweise mit Trompete, Flügelhorn, Posaune oder Altsaxophon spielt (Jörn ist nämlich Multi-Instrumentalist, ja-ha! Kann alles gleich gut), mal wieder so richtig verhaspelt, die zählt er also nach Belieben in einem so absolut abgehenden Up-Tempo an, dass selbst Stan und ich, die schnellste Rhythmusgruppe zwischen Leine und Ihme, nur noch mit hängender Zunge hinterherzockeln. Dann lächelt er wie entschuldigend oder mitleidig zu Ina rüber, die sich für Jörn rote Backen schämt. Er könnte auch ebenso gut sagen: Sorry Baby, hab ich glatt vergessen, dass dein Mac nicht so schnell kann. Sag ihm, er muss üben, wenn er mit mir spielen will.

Als Sechzehnjähriger hatte Kain im Schultheater verschiedene Rollen gespielt. Die des sentimentalen kleinen Jungen, dem seine Mutti, um nachts Ruhe vor ihm zu haben, statt Milch Whisky gegeben und ihn dann ausgesetzt hat, worauf sich jetzt allabendlich mehrere andere Mütter anerbieten, dem besoffenen und deprimierten Findling aus der nassen Windel zu helfen, inszeniert er seit Jahren erfolgreich.

Auch Ina drängt bisweilen, wenn Jörn auf Toilette ist oder selbst an einem anderen Nahkampf-Schauplatz sein Glück versucht, in die Traube. Die unkontrolliert mitschwankende Flasche Southern Comfort gräbt sich unkomfortabel und klebrig tropfend in ihr weißes Schulterfleisch.

Ach, Kain, warum hast du deine Mutter befleckt? Ss waa isch doch gaanisch, ss waa Ödipus!

Jazz

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