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Berliner Literatur im Spiegel der Geschichte

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Die französische Schriftstellerin Madame de Staël, die auf ihrer ersten Deutschlandreise vom November 1803 bis zum Mai 1804 auch die preußische Residenzstadt besuchte, schrieb in ihrem Buch „De l’Allemagne“: „Berlin, im Mittelpunkt des nördlichen Deutschland, kann sich als den Brennpunkt der Aufklärung und des Lichts betrachten. Wissenschaften und Künste sind im Flor …“ Eine Respektsbezeugung, die umso mehr Gewicht erhielt, als der wachen Beobachterin die Berliner Verhältnisse – so der weitgehende Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben – auch deutlich kritische Bemerkungen entlockten.

In der Tat ließ sich Berlin Anfang des 19. Jahrhunderts noch längst nicht mit anderen großen europäischen Metropolen wie London, Paris oder Wien vergleichen. Zu ungleich war die historische Entwicklung verlaufen. Die 1237 erstmals urkundlich erwähnte Doppelstadt Berlin-Cölln erlebte zwar schon im 13. Jahrhundert einen beachtlichen Aufschwung, aber die askanischen Markgrafen bevorzugten als landesherrlichen Sitz die ältere Domstadt Brandenburg. Das änderte sich erst, als 1411 mit dem Nürnberger Burggrafen Friedrich VI. (1371–1440) die Herrschaft der Hohenzollern begann. Allerdings ging der Aufstieg zur Residenz mit dem weitgehenden Verlust der städtischen Eigenständigkeit einher. Ein bürgerliches Selbstbewusstsein, wie in den freien Reichsstädten, konnte sich unter diesen Umständen nicht herausbilden. Auf der anderen Seite besaß das Kurfürstentum als Provinzialmacht lange Zeit hindurch zu wenig Format, um seinerseits den Wissenschaften und Künsten entscheidende Impulse zu geben.

Schwer setzte der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) der Stadt zu, die obendrein unter der schwankenden Bündnispolitik von Kurfürst Georg Wilhelm (1595–1640) zu leiden hatte. Am Ende des Krieges war Berlin wirtschaftlich ausgeblutet, die Hälfte seiner Bevölkerung Hungersnöten und Seuchen zum Opfer gefallen. Ein Trauma, dessen Bewältigung Jahrzehnte in Anspruch nahm und den weitsichtigen Friedrich Wilhelm (1620–1688), der seinem glücklosen Vater nachfolgte, zum „Großen Kurfürsten“ werden ließ.

Dessen Sohn Friedrich III. (1657–1713), der 1701 König in Preußen wurde und sich fortan Friedrich I. nannte, konnte bereits aus dem Vollen schöpfen und tat dies auch mit barocker Prachtentfaltung, die freilich mehr dem Hof als der Stadt galt. Immerhin vermochte ihm seine Gattin, die hochgebildete Sophie Charlotte, im Jahr 1700 die Gründung der Akademie der Wissenschaften abzuringen. Die Präsidentschaft trat der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz an, einer der besten Köpfe seiner Zeit.

Gleichwohl verging noch einmal ein halbes Jahrhundert, ehe Berlin so weit war, sich auch literarisch zu Wort zu melden. 1740 hatte der aufgeklärte und musisch ambitionierte Friedrich II. (1712–1786) den Thron bestiegen. Nach der nüchternen und von äußerster Sparsamkeit geprägten Regentschaft des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. (1688–1740) verlieh er Preußen nicht nur politisches Gewicht, sondern auch kulturellen Glanz. Das Opernhaus wurde erbaut. Und neben zahlreichen anderen hervorragenden Künstlern und Musikern, Gelehrten und Philosophen, die er an den Hof holte, gelang es ihm, den berühmten Voltaire zur Übersiedlung von der Seine an die Spree zu bewegen.

Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Anziehungskraft der Stadt selbst. Hoffnungsvolle Begabungen wurden angelockt, darunter Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing. Ab 1759 erschien in Friedrich Nicolais Verlagsbuchhandlung die erste Rezensionszeitschrift Deutschlands „Briefe, die neueste Literatur betreffend“. Und bereits vier Jahre zuvor hatte Lessing das erste bürgerliche Trauerspiel deutscher Sprache „Miß Sara Sampson“ vorgelegt.

Von diesem Zeitpunkt an rückte die preußische Hauptstadt zu einem der Zentren des geistigen Lebens im feudal zersplitterten Deutschland auf, woran weder die Regentschaft des aufklärungsfeindlichen Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) noch die des „Bürgerkönigs“ Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), der die reformerischen Kräfte verfolgen ließ, etwas änderten. Die Romantik, als zweite große literarische Strömung nach der Aufklärung, ist denn ohne den Anteil Berlins schon nicht mehr denkbar. Achim und Bettina von Arnim, Clemens Brentano, Adelbert von Chamisso und Joseph Freiherr von Eichendorff wirkten hier. Europäische Geltung erlangte E. T. A. Hoffmanns erzählerisches Schaffen.

Unter dem „Romantiker auf dem Thron“ Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), der den gebürtigen Berliner Ludwig Tieck aus Dresden nach Preußen zurückholte und den Dichter Friedrich Rückert, die Brüder Grimm sowie den Philosophen Wilhelm Joseph Schelling berief, strebte diese Epoche ihrem Höhepunkt zu und rief zugleich die oppositionellen Literaten des Vormärz auf den Plan, die in Bettina von Arnim eine Wortführerin und in Karl Varnhagen von Ense einen ihrer Förderer fanden.

Als 1871 der preußische König Wilhelm I. (1797–1888) zum Kaiser gekrönt wurde, war Berlin schon längst die geistige und kulturelle Hauptstadt des deutschen Reiches geworden. Führend in Wissenschaften und Künsten, gab es kaum noch einen Schriftsteller von Rang, der hier nicht wenigstens zeitweise weilte. Literarisch werden die Gründerjahre von Theodor Fontanes Romanwerk überstrahlt, der, wie kein anderer vor ihm, Berlin zum Schauplatz des Erzählens und zum Hintergrund seiner Figuren machte.

Die Naturalisten um Gerhart Hauptmann, die Expressionisten um Georg Heym, Jakob van Hoddis und Else Lasker-Schüler sind schon fast ausschließlich Berliner Phänomene oder zumindest ohne die sozialen und gesellschaftlichen Erschütterungen, die in der Hauptstadt am heftigsten zu spüren waren, nicht denkbar.

Nach der Abdankung Wilhelms II. (1859–1941) in der Novemberrevolution 1918 erlebte Berlin während der Weimarer Republik geradezu eine Entfesselung seiner schöpferischen Kräfte. Die Universität konnte auf mehr als vierzig lebende Nobelpreisträger in ihren Reihen verweisen. Architektur, Musik und Kunst setzten neue Maßstäbe. Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Heinrich Mann gehörten zu denen, die mit ihren literarischen Arbeiten weltweite Aufmerksamkeit errangen. Russische Emigranten wie Vladimir Nabokov oder Marina Zwetajewa erwählten sich die Stadt als Zuflucht, Christopher Isherwood oder Thomas Wolfe kamen als Besucher.

Mühsam war es, nach dem Terrorregime der Nazis und den Jahren des Zweiten Weltkrieges neues kulturelles Leben zu erwecken. Bedingt durch den „Kalten Krieg“ und den Mauerbau von 1961 entwickelten sich zudem zwei unterschiedliche Literaturen. Während es in Ostberlin zunächst die aus dem Exil zurückgekehrten Autoren waren, darunter Bertolt Brecht, Anna Seghers und Arnold Zweig, die die Stadt als literarischen Ort wieder ins Gespräch brachten, vermochte sich im freien Teil Berlins schon zeitig eine Ägide der jungen bundesdeutschen Nachkriegsliteratur zu etablieren, die mit Namen wie Günter Grass und Uwe Johnson verbunden ist. Ein Prozess, der, immer wieder ideologisch ausgebremst, in der „Hauptstadt der DDR“ erst mit Verzögerung in Gang kam, aber mit Autoren und Autorinnen wie Heiner Müller oder Christa Wolf ebenfalls internationale Anerkennung erfuhr.

Auf zehn Spaziergängen, die in der historischen Mitte beginnen und in die gründerzeitlichen Stadtteile und -bezirke Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Schöneberg, Friedenau, Charlottenburg oder Wilmersdorf führen, wird in dem Band jenes Berlin erkundet, wie es seit dem 18. Jahrhundert bis in die jüngste Gegenwart hinein von Dichtern und Dichterinnen, Publizisten, Künstlern und Gelehrten beschrieben worden ist. Sehenswürdigkeiten und stille Winkel der Stadt, Erhaltenes und Verlorengegangenes, literarische Schauplätze, Künstlertreffpunkte und Wohnorte, Schriftstellerbegegnungen, Freundschaften, ästhetische und weltanschauliche Auseinandersetzungen geraten in den Blick.

In den stadt- und zeithistorischen Zusammenhang gestellt, gestatten die ausgewählten Texte zugleich eine Reise durch mehr als drei Jahrhunderte wechselvoller Berliner Geschichte: von der friedericianischen und wilhelminischen Epoche über die Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches bis in die Jahre der deutschen Teilung und ihrer Überwindung nach 1989.

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