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1. Brief, September 1710
ОглавлениеMein lieber S.
Die Reise ist beschwerlich. Wie du sicher weißt, sind die Wege zwischen Berlin und Westfalen so unterschiedlich wie ihre Regierungen. Mal sind sie erstaunlich modern, gerade und voller Optimismus, mal konservativ langweilig, enervierend gebogen und von geringer Festigkeit. Man durchquert Grafschaften, Bistümer, Fürstbistümer, Herzogtümer und Marktgrafschaften, ein Sammelsurium altertümlicher Herrschaften also, die alle als kleine eigenständige Staaten daherkommen und wichtig tun, seien es auch nur matschige Kuh- und Getreideäcker. Also geht es zuweilen erstaunlich schnell voran, dann aber verlangsamt sich die Fahrt und es rumpelt über einen langen Zeitraum heftig oder die Kutsche rutscht gefährlich von der einen zur anderen Seite. Einmal mussten wir armen Reisenden in einem scheußlichen Regen sogar aussteigen und das verschmutzte Gefährt wieder auf den Weg zurückschieben. Du kannst dir vorstellen, wie ich danach aussah. Nur gut, dass ich, wohl wissend, den alten abgetragenen Rock trug, der nun bald nicht mehr zu flicken ist.
Eine weitere Qual waren die Poststationen, die wir jeweils zu Anbruch der Dunkelheit erreichten. Nichts mehr von der Vielfalt Berlins. Statt dessen schwarzes Brot und abgehangenes, gesalzenes Fleisch ohne Würze, in dem man ekliges Getier finden konnte, wenn man genau hinschaute. Aber meine Börse ist fast leer und so musste ich mit diesen Unannehmlichkeiten wohl oder übel vorlieb nehmen. Wenigstens war uns das Wetter meistens gnädig und wir mussten keine längeren Umwege fahren, keine Aufenthalte in entlegenen Bauernhäusern einlegen, oder die Angst bei von Blitz und Donner erschrocken durchgehenden Pferden durchstehen.
Was für eine Reise! Wann wird ein umtriebiger, erfindungsreicher Geist eine neue Art des Transports erdenken. Eine Art Gleiten oder zumindest einen gleichmäßigen Untergrund für Kutschen und ja, eine bessere Federung, damit das elende Rütteln und Ruckeln einem den Rücken nicht ganz Entzwei macht.
Du fragst dich sicherlich, warum ich das alles auf mich nehme und so überstürzt Berlin verlassen habe? Ohne Dir ein Wort von meinen weiteren Plänen mitzuteilen, ohne vernünftige Gründe zu nennen. Es ist aber ganz einfach zu erklären. Vor allem weil es vordergründig nur einen Grund gab: Den der Demütigung.
Denn wie du sicher weißt, wurde auf der letzten Versammlung der Königlichen Wissenschaften unter anderem besprochen, wer den Posten des Astronomen Teltow übernehmen sollte, welcher im letzten Winter einem tödlichen Fieber erlag und jämmerlich zu Grunde ging. Vom Können und aufgrund meiner zahlreichen Veröffentlichungen im Bereiche der Sternenbeobachtung war ich von allen Bewerbern auf die erste Stelle gesetzt. Sogar der große Leibnitz unterstützte mich. Doch es war, selbst jetzt muss ich lachen, obwohl es so entwürdigend ist, eine bittere Posse. Die trauernde Witwe hatte nichts anderes zu tun, als schnurstracks mit einem meiner Mitbewerber anzubändeln, und ohne eine angemessenen Trauerzeit abzuwarten, heiratete sie ihn auch noch. Anschließend zeigte sie ein Testament vor, von dem sie behauptete, dass es von ihrem verstorbenen Ehemann geschrieben worden wäre und in dem dieser in den höchsten Tönen von meinem Mitbewerber sprach.
Ich werde es kurz machen, denn es fällt mir schwer, überhaupt über diese Geschehnisse zu sprechen. Die Versammlung, von den Tränen der Witwe und dem vermeintlichen Testament vollständig in den Bann gezogen, wählte meinen Mitbewerber zum Nachfolger, obwohl dieser nur ein besserer Assistent von Teltow gewesen war. Sogar Leibniz, auf den ich große Stücke halte und auf den ich meine ganz Hoffnung gesetzt hatte, unterstützte diese unwürdige und mir bis heute vollkommen schleierhafte Entscheidung.
Ich war enttäuscht! Zutiefst! Die Anstellung als Astronom hätte eine Wohnung, ein Gehalt und darüber hinaus aufregende Studien zu den Fixsternen nach sich gezogen. Für die trauernde Witwe und ihre zwei Kinder hätte sich sicherlich auch eine Versorgung finden lassen. So aber hat die Königliche Gesellschaft und die wissenschaftliche Welt nun einen Scharlatan mehr in ihren Reihen, von dem sie in den nächsten Jahren außer Rechnungen und Nörgeleien nicht viel zu erwarten hat.
Für mich aber gab es daher nur noch einen Schritt zu tun. Ich durchforstete die Bulletins auf der Suche nach einer Anstellung, wo immer sie auch zu finden sei. Nur fort wollte ich aus dieser unseligen Stadt, die mich so tief enttäuscht hatte. Kaum konnte ich einer Veranstaltung beiwohnen, die ich vormals so genossen hatte, noch einzelnen Mitgliedern der Königlichen Gesellschaft auf der Straße begegnen, ohne mit größten Schwierigkeiten eine Miene aufzusetzen, hinter der sich, zu meiner großen Scham, nur noch Abscheu verbarg.
Zum Glück wurde ich schon bald fündig.
In der deutschen Provinz herrscht allenthalben ein geradezu lächerlicher Mangel an Magistern, und die Familien der armen Grafen und Freiherren suchen immerwährend nach Lehrern für ihre hochherrschaftliche Kinderschar und lassen es sich einiges kosten, diese gut auszubilden, um sie dann in aufstrebende Residenzstädte zu schicken, damit sie dort eine Stelle als Hofbeamter oder, je nach Eignung, als Hofnarr, finden mögen. Damit hoffen sie dann ihren Abstieg in die Bedeutungslosigkeit zu verhindern. Die Zeiten der Kreuzzüge und der Raubritter sind nun einmal vorbei.
Mein Blick fiel also auf eine Anzeige, in der ein Lehrer für die zwei Söhne eines Grafen im Westfälischen gesucht wurde. Die Kinder seien 12 und 14 Jahre alt, verständig und gesund. Seit dem Tode des Vaters aber ein wenig verstört. Der Mutter sei es aufgrund ihres Geschlechts nicht möglich, die Erziehung selbst zu übernehmen und man suche daher einen gebildeten, in höfischen Sitten bewanderten Erzieher und Magister. Das Gehalt beliefe sich auf 10 Gulden nebst einer Wohnung und freier Kost. Der Urlaub sollte im Sommer etwa 30 Tage betragen.
Kurzfristig schrieb ich der Gräfin, und schon wenige Wochen später erhielt ich eine Bestätigung, nach dem Schlosse der Familie zu kommen, dessen Namen ich dir vorerst verheimlichen muss, da ich den Kontakt zur Gesellschaft in Berlin vorläufig vermeiden möchte. Auf brieflichem Wege werde ich dir hin und wieder berichten, wie es mir dort ergeht.
Nun, da ich hier, während einer Rast, von unserem Kutscher (der wieder einmal, wie ich sehe, dem Alkohol gehörig zuspricht) gerade gehört habe, das wir morgen unser Ziel erreichen, schließe ich nun mit einem lieben Gruß und verspreche, sobald als möglich wieder zu schreiben. Wenn ich und mein Rücken die Fahrt überleben sollten ...
Dein Thomasius