Читать книгу Finanzmafia - Wolfgang Hetzer - Страница 8
Оглавление1 AM ABGRUND
Es begann im Sommer des Jahres 2007. Damals war etwas passiert, das die weltweite Finanzarchitektur beinah ausgehebelt hätte und zu einer der schwersten nichtmilitärischen Bedrohungen für die Stabilität und den Wohlstand vieler Länder eskalierte. Diese Bedrohung ist keineswegs vorbei, ihre Ursachen sind nicht bezwungen. Die Nachwirkungen werden uns länger beschäftigen als jede andere Finanz- und Wirtschaftskrise in den vergangenen Jahrzehnten. Tatsächlich handelt es sich bei der Entwicklung der letzten Jahre um die gravierendste globale Finanzkrise seit der Großen Depression, egal ob man sie nach Tiefe, Ausbreitung und (potentieller) Dauer der begleitenden Rezession oder nach ihrem gewaltigen Eff ekt auf die Vermögensmärkte betrachtet.
In der globalen Wirtschaftsgeschichte stehen wir vor einer historischen Herausforderung, die Politik und Wirtschaft für mindestens eine Generation völlig verändern wird. Die Welt wird nach dieser Krise also anders aussehen als vorher. An deren Höhepunkt hatte die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, sogar von einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung gesprochen. Solch eine Rhetorik war früher ausschließlich militanten, systemfeindlichen Kräften – dem deutschen und internationalen Terrorismus – vorbehalten. Deshalb stellt sich die Frage, ob die Rhetorik übertrieben war – oder ob diese Gefährdung der Gesellschaftsordnung sich nicht bereits real vollzieht und andauert.1 Bei den Bemühungen, diese Frage zu beantworten, ist bisher große Zurückhaltung zu beobachten. Es mag einiges dafür sprechen, den Ausbruch der Finanzkrise auf den Sommer 2007 zu datieren. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entwicklung schon seit vielen Jahren auch für Spitzenpolitiker hinreichend klar erkennbar war und dass sie nicht rechtzeitig reagiert haben. Und die große Krise der globalen Finanzen ist keineswegs zu Ende. Sie hat nur eine Pause eingelegt. Die Staaten haben zwar Notmaßnahmen ergriffen und die reale Wirtschaft fürs erste stabilisiert. Aber es gibt beunruhigend klare Einschätzungen: Da die Politik in den meisten Ländern noch nicht einmal im Ansatz begriff en habe, was da eigentlich passiert ist, schwele der Brand weiter und könne jederzeit neu ausbrechen.2
Immerhin hat der Bundesminister der Finanzen a. D., Peer Steinbrück, in seinem jüngsten Buch über die Finanzkrise (Unterm Strich) zwar auf das übliche »Politikergeschwurbel« verzichtet. Den Tiefgang aber, den man von einem Zeitzeugen seines Kalibers hätte erwarten können, sucht man vergebens. Seine Schilderungen bieten keinerlei neue Einblicke, selbst die Details haben schon in der Zeitung gestanden.3 Wer auf neue Fakten gehofft hat, sieht sich enttäuscht.4 Dennoch wird es im Folgenden zunächst um die Ansichten dieses ehemaligen Amtsträgers gehen müssen, um zu beurteilen, was die politische Führung zumindest in Deutschland wusste, was sie tat oder unterließ, als sie versuchte, die weitere Annäherung an den Abgrund zu verhindern.
Peer Steinbrück sieht sich selbst zwar unverdrossen als jemanden, der dazu beigetragen hat, die Finanzkrise, so gut es ging, zu »bewältigen«. Keiner wisse aber, ob das Schlimmste schon überstanden ist. Auch Steinbrück erkennt, dass es nach wie vor tiefgreifende strukturelle Verwerfungen gibt, die das wirtschaftliche Gleichgewicht in der Welt bedrohen: zwischen den USA und China, aber auch innerhalb Europas. Man sei beim »Zähmen der Finanzmärkte« zwar einige Schritte voran gekommen. Eine Wiederholung wird aber nicht ausgeschlossen. Und die entscheidende Frage hält er für nicht beantwortet: »Wer hat den Primat – die Politik oder die Finanzindustrie?« Immerhin ist inzwischen auch Steinbrück klargeworden, welche Lage im September 2008 bestand: »Die Welt stand an einem Abgrund.«5
Es habe ein »Teufelskreis« gedroht, weswegen er und Bundeskanzlerin Merkel in einem angeblich »legendären« Auftritt am 5. Oktober 2008 der deutschen Öffentlichkeit eine Garantieerklärung für Spareinlagen gaben, ohne zu erklären, was unter diesen Begriff fällt. Für eine solche Zusage fehlte jede Legitimation. Es gab keine Rechtsgrundlage und keinen parlamentarischen Rückhalt.6 Der seinerzeitige Amtsträger Steinbrück wundert sich bis heute, dass die Parlamentarier hinterher nie gefragt haben: »Um Gottes willen, was habt ihr da eigentlich gemacht?«
Mit dieser rechtlich unverbindlichen Patronatserklärung ist es aber immerhin gelungen, einen Ansturm auf die Bankschalter (»bank run«) in Deutschland zu verhindern. Das ändert nichts daran, dass man anderenfalls in die Dimensionen eines Staatsnotstands geraten wäre.
Im späteren Verlauf bestand indes keine Gefahr, dass der Euro zerbricht, glaubt Steinbrück. Die Politik hätte das um jeden Preis verhindern müssen. Der Euro sei für Deutschland eine »Schicksalsfrage«. Der Hauptvorwurf des ehemaligen Ministers an die schwarzgelbe Bundesregierung ist gleichwohl, dass diese in der kritischen Phase der Griechenland-Krise7 und Euro-Krise nicht genügend deutlich gemacht habe, dass der Euro nicht nur ein Zahlungsmittel sei, sondern eines der großen Erfolgsprojekte der europäischen Integration. Steinbrück lässt offen, ob die Euro-Krise ausgestanden ist, da die Ursachen einer exzessiven Staatsverschuldung und einer schwindenden Wettbewerbsfähigkeit in einigen Ländern nicht beseitigt seien. Die Griechenland-Krise sei zudem nicht von Spekulanten, sondern von Regierungen zu verantworten. Die Politiker seien als Zocker aufgetreten. Die einen, weil sie sich zu hoch verschuldet und dabei auch noch »geschummelt« hätten. Die anderen, weil sie bei den »Tricksereien« zu lange weggesehen hätten. Bemerkenswerterweise schließt sich der Bundesminister der Finanzen a. D. darin ausdrücklich ein.8
Unterdessen scheint der Ausdruck »Krise« zu einem Schlüsselbegriff der Politik geworden zu sein. Steinbrück redet gar von einer vierfachen Krise: Finanz-, Wirtschafts-, Fiskal- und Staatskrise.9 Der inflationäre Gebrauch des Begriffs erreicht damit einen Höhepunkt, der schon Jahre zuvor durch die entsprechende Literatur vorbereitet wurde.10 Er kann entlasten und ein fast schon demütiges Einverständnis mit vermeintlich naturgesetzlich bestimmten Abläufen erzeugen. Insbesondere die Behandlung der »Finanzkrise« in den Medien erweckt den Eindruck, als ob es sich um ein Geschehen handelt, das vorausschauender Steuerung entzogen ist. Diese Sicht ist nicht nur irreführend. Sie ist falsch. Es handelt sich dabei um das Produkt einer geschickten Medienpolitik verantwortlicher Entscheidungsträger und Machthaber.
Angesichts der nach wie vor in jeder Hinsicht desaströsen Situation der globalen Finanzwirtschaft steht man nicht nur deshalb vor zahlreichen schwierigen Fragen.11 Sie erstrecken sich über ein weites Spektrum. Es reicht von der Ordnungspolitik bis hin zum Sicherheitsrecht. Im Hinblick auf das Wirtschaftsstrafrecht tauchen die komplexesten Fragestellungen auf, die jemals an dieses Rechtsgebiet herangetragen wurden.12 Die Wirtschaft war für das Strafrecht immer ein schwieriger Regelungsbereich. Nähert man sich ihm mit Respekt und Umsicht, sind aus der Sicht des Strafrechtsprofessors und ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, die Folgen klar:
• Konzentration der Strafbarkeit auf »handfeste« Rechtsgutsverletzungen
• Freihaltung und Sicherung eines Kernbereichs, in dem die Wirtschaft ihrer eigenen Vernunft folgt
• Einrichtung strafrechtlich flankierend gesicherter Prozeduren, die im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung Transparenz und Kontrolle ermög lichen
Damit ließe sich die interessante Frage aufwerfen, von welcher Vernunft die Wirtschaft geleitet wird und ob dieser eine strafbarkeitsausschließende Wirkung zukommen kann. Zunächst mag aber die Erkenntnis genügen, dass mit der öffentlichen Rede über die Krise eine Betäubung eingeleitet wurde, die die Suche nach den Verantwortlichen und Schuldigen einer äußerst schädlichen und gemeingefährlichen Entwicklung extrem schwierig macht.13 Es kommt hinzu, dass die notwendige Arbeit am Begriff der Wirtschaftskriminalität lange Zeit nicht in genügender Weise erfolgte, weil sie ein »Stiefkind der Kriminologie«14 war.
Die Lage scheint unterdessen sehr ernst geworden zu sein. Immerhin meldet der philosophische Zeitgeist Feindeinbruch. Richard David Precht hat sich zumindest in Deutschland nicht nur bei der publikumswirksamen Erörterung von Identitätsproblemen und Liebesfragen Verdienste erworben. Ihm ist auch ein beeindruckender Überblick über diverse andere »Gefechtsfelder« der Gesellschaft zu verdanken. Der »Feind« (sic) sei auf leisen Sohlen gekommen, weiß er im Juni 2010 im Spiegel15 zu berichten, nämlich mit der Unterspülung der Moral durch Ebbe und Flut der internationalen Finanzwirtschaft. In der gegenwärtigen Lage brauche eine Demokratie auf der obersten Führungsebene ausgewiesene und unbestechliche Experten. Nur wenn die Besten der Besten regierten, sei vertretbar, dass nicht das Volk selbst das Zepter der Macht schwinge. Die Experten in der Realität bundesdeutscher Demokratie fänden sich aber gut getarnt und verschüttet hinter Stapeln ungelesener Expertisen, predigten in Büchern, die kein Politiker lese, oder versänken im Alltag unserer Universitäten. Unsere Politiker glichen dagegen herumirrenden Wanderern, denen als Wegweiser Lobbyisten aller Couleur dienten, die im Deutschen Bundestag ein- und ausgingen. Diese bekämen die Politik, die sie wollten, sei es durch eine Parteispende, durch beharrliche Freundlichkeit oder durch Jobangebote für nebenbei und nachher. Manche Politrentner seien keine »Elder Statesmen« mehr, sondern »Elder Salesmen«.16 Wenn eine Erkenntnis und ein gegenläufiges Interesse aufeinandertreff en, gewinne das Interesse.
Damit ruft Precht natürlich die Erinnerung an Sokrates wach, dem folgender Satz zugeschrieben wird: »Wer zu klug ist, um sich in der Politik zu engagieren, wird dadurch bestraft, dass er von Leuten regiert wird, die dümmer sind als er selbst.«
Nach dem Empfinden des SPD-Politikers Hans-Peter Bartels, Sprecher der Arbeitsgruppe Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion, hat Precht in seinem Essay wieder einen ganzen Sack der altbekannten Klischees aus dem antidemokratischen Kasperletheater ausgekippt, indem er unter anderem von »Demokratie-Theater« (früher: »Schwatzbude«) spricht. Der Philosoph Precht unterstelle dem politischen Führungspersonal unserer Tage, ihm gehe es um ein paar letzte Privilegien, ein bisschen Machtgefühl, ein paar Versorgungsansprüche. Demokratie, so die Kritik an Precht, sei nicht die Herrschaft der Größten, Schönsten und Besten, sondern des mittleren Maßes – normale Menschen genügten, egal worin ihre Normalität jeweils besteht. Precht beziehe sich offenbar zustimmend auf den britischen Philosophen John Stuart Mill, der schon behauptet hatte, dass eine Demokratie auf der obersten Führungsebene ausgewiesene und unbestechliche Experten brauche und nur die Besten der Besten regieren sollten. Eine solche verfassungsmäßige Ordnung, so die Stimme aus der politischen Praxis, könnte man schaffen, es wäre allerdings keine freiheitliche Demokratie.17
Diese pseudophilosophische Debatte ist hier nicht zu entscheiden. Wichtiger ist in den folgenden Zusammenhängen die Frage, ab wann insbesondere die Konstruktion undurchschaubarer Anlageprodukte kriminell ist. Bei komplizierten Finanzprodukten scheint der Übergang von normalem zu wirtschaftskriminellem Handeln nämlich fließend geworden zu sein, da zumindest die Unwissenheit der Kunden über deren konkrete Gestaltung mitunter einkalkuliert wurde.18 Die Vermarktung der Finanzprodukte erfolgte zudem mit System. Dessen Leistungskraft wurde durch die Einbeziehung Außenstehender enorm gesteigert. Finanzielle Anreize führten zu einer Zusammenarbeit besonderer Art. Rechtsanwälte oder Abschlussprüfer wurden bezahlt, damit sie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens als geordnet und einwandfrei dokumentierten, obwohl es in bestimmten Fällen offensichtlich war, dass die Grenzen des Legitimen überschritten wurden. Vorgeblich unabhängige internationale Investmentbanken erstellten gegen exorbitante Honorare »Fairness Opinion«-Gutachten, um die Vorteile eines Geschäfts glaubhaft zu machen. Dieselben Banken waren jedoch häufig zuvor an entscheidender Stelle in diese Geschäfte eingebunden und bereiteten so die »Marktkommunikation« zu nicht nachvollziehbaren Transaktionsverläufen vor, welche zusätzlich der eigenen Risikobegrenzung dienten. In einem Satz: »Die Berater tragen wesentlich dazu bei, dass die Gefahr, mit unsauberen Geschäften Verdacht zu erwecken, auf ein Minimum reduziert wird.«19
Die Politiker haben sich unterdessen vielleicht sogar einer neuen Macht unterworfen, indem sie die »Denke« von Betriebswirtschaftlern angenommen haben und diese auf die Politik und sich selbst anwenden. Sie sind zu Vermarktern ihrer eigenen Person und Verkäufern von Botschaften geworden, die im Grunde nicht ihren Überzeugungen entspringen, sondern der jeweiligen Marktlage, sie bedienen Wählergruppen, Interessen, Stimmungen, Medien und entwickeln Kommunikationsstrategien, legen sich ein Image zu und verkaufen sich als »Marke«.
Für einen Kritiker ist klar: Auf diese Weise dient man der neuen Macht, einer unheimlichen und gesichtslosen Herrschaft, die keinen festen Wohnsitz und kein Handy hat und als Person nicht greifbar ist. Es sei der unbekannte Großinvestor mit seinen Trittbrettfahrern, den anonymen Kleinaktionären. Er hält sie für die Macht, die Autorität und die Institution, die über das Wohl und Wehe ganzer Nationen entscheiden.20 Wo ihr Geld hinflösse, blühten Oasen. Wo sie ihr Geld abziehen, wachse die Wüste. Wo sie ihr Geld einsetzen, forderten sie Rendite, zehn Prozent, 20, 25, immer mehr. Der Planet sei zum globalen Industriestandort gemacht worden. Die Zukunft gestalte sich an den Geldströmen entlang. An ihnen richte sich alles aus. Und die Politiker dürften die Entwicklung als Sachzwangvollstrecker und nachsorgende Betreuer der Opfer begleiten. Die Zukunft ergebe sich von selbst aus dem Spiel zufälliger Gewinnerwartungen und notwendiger Anpassung. Wollte man solch eine Zukunft nicht, solle man sich an eine zweite Autorität erinnern: die Verfassung. Danach sei das Volk die Autorität. »Wir« hätten darüber zu bestimmen, wie wir hier leben und arbeiten wollen, nicht anonyme Aktionärsinteressen. Unter dem Schutz der Verfassung sei es prinzipiell möglich, die an die anonymen Märkte verlorene Gestaltungsmacht zurückzuholen. Wir müssten das nur wollen. Natürlich: Es muss organisiert und es muss dafür gekämpft werden. Es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass die alten Institutionen (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften) die Chance nutzen. Die Kirchen seien viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der Blick der Parteien ende zuverlässig immer bei der jeweils nächsten Landtagswahl. Gewerkschaften fehle jegliche Vision für die Zukunft. Impulse seien eher von den international vernetzten Nichtregierungsorganisationen zu erwarten. Und von mündigen Bürgern, die als kleine Minderheit tatsächlich existierten. Angesagt wird der Kampf um die »Rückeroberung der Demokratie«. Derjenige, der ihn organisiert, führt und gewinnt werde die »Autorität« der Zukunft sein.21
Aus der Sicht von Oskar Negt, einem der bedeutendsten deutschen Sozialwissenschaftler, befinden wir uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer »Zwischenwelt der Ratlosigkeit«. Er vermisst richtige Reformen und erkennt bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Das bestimmende Merkmal der Krisenbewältigung heute sei gleichsam die »betriebswirtschaftliche Rationalisierung« der gesellschaftlichen Einzelbereiche mit einer Umverteilung nach oben und dem Sparzwang nach unten. Die Realität habe eine »gespensterhafte Qualität« bekommen. Der Rettungsfonds von 480 Milliarden Euro für angeschlagene Banken sei eine »negative Utopie«. Die gegenwärtig vorherrschende Form des falschen, verdrehten Bewusstseins laufe den traditionellen Emanzipationsidealen von Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit zuwider. Ein verkürzter, auf Anpassung an das Bestehende ausgerichteter Realitätssinn höhle die politische Moral aus und gefährde unsere Demokratie. Am Ende stehe eine »gebrochene Gesellschaftsordnung«, in der das offizielle Institutionengefüge völlig intakt und funktionsfähig erscheine – die Wahlen werden nicht gefälscht, die Korruption ist nicht endemisch, die Machtteilung wird respektiert, Recht wird gesprochen. Aber im Inneren dieser Gesellschaft brodele es. Mit Ausbrüchen sei zu rechnen. In der Abwendung vom System entstünden »politische Schwarzmarktphantasien«. Befürchtet wird der Verlust der Verantwortungsethik. Negt behauptet schließlich, dass Politik nicht in einer von Beruf und Arbeitsplatz abgetrennten Sphäre stattfinde und nicht den Berufspolitikern vorbehalten bleiben dürfe. Im übrigen hält er ganz andere Umverteilungsprozesse des gesellschaftlichen Reichtums für erforderlich. Nur ein Bruchteil fließe in die Gesellschaft, in die Schaffung von Arbeitsplätzen zurück. Die Krise werde zurzeit von denen bezahlt, die am ehesten aus der Gesellschaft ausgegliedert werden.22
Doch auch jenseits derartiger fast existentialistischer Betroff enheits lyrik hat die Entwicklung auf den Kapitalmärkten dieser Welt in den vergangenen Jahren möglicherweise eine Dimension eröffnet, in der selbst die Mathematik keine Orientierung mehr vermittelt. Das wäre nicht allzu überraschend, wenn die These stimmte, dass die internationale Finanzwirtschaft Wirtschaftsordnungen und Gesellschaften weltweit mittlerweile sogar in einen Zustand der »Obszönität« versetzt hat. Ausgangspunkt der These ist die Annahme, dass der Zufall die Antriebskraft von allem ist, was sich entwickelt. Es ist kaum bestreitbar, dass Evolutionsprozesse Krisen erzeugen, zum Beispiel Finanzkrisen. Derivate könnte man vor diesem Hintergrund nicht nur als Zufallsgeneratoren ansehen. Als Finanzinstrumente sind sie für manch einen sogar zum »Inbegriff von Bankerschamlosigkeit« geworden. Insbesondere die »Credit Default Swaps – CDS« erzeugten Zufall durch Aufschub. Diese Instrumente dienen der Kreditversicherung. Wird also ein Schuldner zahlungsunfähig, erstattet eine Versicherung dem Gläubiger den geschuldeten Betrag. Je größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Kredit nicht zurückgezahlt wird, desto höher die Gebühr für die Versicherung. Diese Gebühr ist die Rendite desjenigen, der in die Versicherung »investiert«. Je sicherer die Rückzahlung, desto geringer der Zufallseinfluss. Je risikoreicher die Rückzahlung, desto größer der Zufallseinfluss. Manche Swaps gelten aus dieser Perspektive als richtige »Zeitmaschinen«. Sie vermischten die irreversible Zeit des vollen Risikos mit einer reversiblen Zeit, in der das Risiko aufgehoben ist. Dazu müsse eine »obszöne« Voraussetzung geschaff en werden: Ein Risikogeschäft ist für Personen zu versichern, die mit dem versicherten Geschäft gar nichts zu tun haben.
Man sieht einen Ereignishorizont entstehen, vor dem das Leben noch in geordneten Bahnen verläuft und hinter dem Zufall und Chaos zuschlagen. Je größer die Swap-Beimischung bei den Krediten, die von Nationalstaaten aufgenommen werden, um die Bankenkrise zu bewältigen, desto stärker die Bildung von »Chaoshorizonten« und desto stärker die Umklammerung durch den schleichenden Staatsbankrott.23 Und desto geringer die zukünftige Fähigkeit dieser Staaten, ihre »Staatsziele« zu erreichen. Der Grund ist einfach: »Die nächste Blase werden die Staatsanleihen sein.«24
Jetzt wissen das auch die Politiker, die man für sachlich zuständig und persönlich qualifiziert hielt. Peer Steinbrück verkündete gegen Ende des Jahres 2010, dass sich ein »giftiges Gebräu« gebildet habe und benennt folgende Punkte:
• Paradigma der Deregulierung
• Jagd nach höchsten Renditen
• Politik des billigen Geldes
• massives Ungleichgewicht zwischen den USA (mit hohem Leistungsbilanzdefizit und starker Abhängigkeit von ausländischem Kapital) und China (mit hohen Exportüberschüssen und Währungsreserven)
Steinbrück hat jetzt erkannt, dass sich daraus eine Blase entwickelt hatte, deren Platzen das Weltfinanzsystem an den Rand des Abgrunds geführt habe.25 Mittlerweile weiß er auch, dass Ratingagenturen die Bonität von Papieren als hoch eingeschätzt hatten, weil die modelltheoretische Annahme galt, dass man die Ausfallrisiken der unterschiedlich strukturierten Produkte oder Verbriefungen als voneinander unabhängig ansah, also »Kaskadeneffekte« oder gar einen systemischen Zusammenbruch einfach ausschloss. Ein Grund für die Fehleinschätzungen liege auch darin, dass die Ratingagenturen am Verkauf strukturierter Produkte indirekt mitverdienten. Sie berieten die Banken bei der Strukturierung dieser Produkte und gaben ihnen dann ihr »Gütesiegel«. Je zahlreicher und je unterschiedlicher die Produkte waren, umso mehr verdienten sie.26 Auf einmal hat Steinbrück sogar auch verstanden, dass sich die Politik in Deutschland zu lange der »Deutungshoheit« entfesselter Finanzmärkte ergeben hat. Sie habe sich für Marktliberalisierungen offen gezeigt und der »Schattenwelt« beziehungsweise den »Zauberkunststücken« der Banken sehr stark Raum gegeben, um das Finanzzentrum Frankfurt am Main auf Augenhöhe mit der City of London und der Wall Street in New York City zu halten und das Gewicht der Finanzwirtschaft an dem der Realwirtschaft zu orientieren.27
Nunmehr erscheint es ihm auch unzweifelhaft, dass es eine tiefgehende Verstörung der Gesellschaft darüber gibt, was da in den letzten drei Jahren eigentlich passiert ist. Die These von der angeblich selbstregulierenden und zum Ausgleich tendierenden Kraft der Märkte sei widerlegt worden.
Die Exzesse und Spekulationen hätten zwar nicht die Legitimation der Marktwirtschaft, aber das Vertrauen in dieses Ordnungssystem schwer erschüttert. Steinbrück spürt zunehmenden Stress und Legitimationsdruck für die Demokratie. Die Bürger hätten den Eindruck, dass die staatlichen Hilfen nicht an die Geschädigten der Krise fließen, sondern an die Verursacher. Die bis jetzt gezügelte Empörung könne sich sowohl gegen »die« Banken als auch »die« Politik entladen. Einige Bankmanager hätten den Knall offenbar immer noch nicht gehört. Auch nach dem Empfinden von Steinbrück hat sich das Geschehen auf den Finanzmärkten längst von der Wirklichkeit realwirtschaftlicher Vorgänge gelöst.28
In der Erinnerung an das Verhalten des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Industriebank AG (IKB), Stefan Ortseifen, berichtet Steinbrück von seiner bittersten Erfahrung in der Finanzkrise, was Ahnungslosigkeit, Risiko ignoranz und Desinformation angeht. Weitere Erfahrungen mit Bankmanagern hätten seinen Respekt für diese unantastbar kompetent erscheinende und von ihrer eigenen Bedeutung getragene Kaste auf das Niveau sinken lassen, das diese Herren normalerweise der Politik entgegenbrächten.29
Steinbrück ist es mehr als eine Fußnote wert, dass die Deutsche Bank aus der Rettung der AIG (American International Group) durch die US-Regierung eine Zahlung über 11,8 Milliarden US-Dollar für fällige Sicherheiten erhielt. Zur Erinnerung: Der Vorstandsvorsitzende dieser Bank, Josef Ackermann, hatte bekanntlich mehrfach öffentlich erklärt, dass er sich schämen würde, staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er dürfte aber wissen, wie hoch der Abschreibungsbedarf gewesen wäre, wenn nicht eine ganze Serie staatlicher Unterstützungsmaßnahmen erfolgt wäre.30 Ohne diese Maßnahmen hätte sich nach der Schätzung von Steinbrück die Deutsche Bank einen Abschreibungsbedarf über 25 bis 30 Milliarden Euro nicht ersparen können. Und selbst deren Eigenkapitalausstattung hätte problematisch werden können.31
DAS BEISPIEL HYPO REAL ESTATE
Geradezu fassungslos war Steinbrück über den Vorstand der Hypo Real Estate Bank (HRE), der eine Krisenrunde erstklassiger Zusammensetzung und eine Bundesregierung bis hinauf zur Kanzlerin ein ganzes Wochenende mit einem 35-Milliarden-Euro-Loch in der Bilanz beschäftigt hatte und vier Tage später einen weiteren Liquiditätsbedarf von 15 Milliarden Euro zugeben musste. Mit späteren Entschuldigungen habe man sogar versucht, den Minister für dieses »Stück aus dem Tollhaus« verantwortlich zu machen. Steinbrück fühlt sich von dem damaligen Vorstandsvorsitzenden, Georg Funke, getäuscht. Ihn interessiert bis heute brennend die Frage, ob Funke bereits nach dem ersten Krisenwochenende wusste, dass die dort zugesagten Kredite nicht ausreichen würden. Immerhin hatte Funke am 29. September 2008 öffentlich erklärt, dass die Bank gerettet und ihr Kapitalbedarf auf absehbare Zeit gedeckt sei.32 Während eines Treff ens am 6. Oktober 2008 begegnete dem damals amtierenden Bundesfinanzminister in der Gestalt von Georg Funke – ein Mann, dessen Bank gerade mit 50 Milliarden Euro fremden Geldes gerettet worden war – eine solche Mischung aus Realitätsverweigerung, Selbstüberschätzung und Verständnislosigkeit gegenüber den Vorgängen der vergangenen Tage, wie er sie in seinem Leben nicht wieder erfahren habe.33
Zur Erinnerung: Als die Bundesregierung im Jahr 2008 den Münchner Immobilienfinanzierer mit Milliardensummen vor dem Zusammenbruch bewahrte, war der Schock bei den Bürgern groß, als man erfuhr, dass eine bislang weithin unbekannte Bank so wichtig für das Weltfinanzsystem sein sollte, dass eine Rettung mit Steuergeldern unausweichlich erschien. Mit acht Milliarden Euro Kapital und (unvorstellbaren) 102 Milliarden Euro an Bürgschaften hat die Bundesregierung die HRE seither gestützt und gegen verfassungsrechtliche Bedenken verstaatlicht. Und nur ein Jahr nach der Verstaatlichung erfuhren die Steuerzahler eher beiläufig, dass noch einmal 40 Milliarden Staatsgarantien nötig sind, die Bank also schon wieder am Abgrund stand. Die Bundesregierung jongliert mit gewaltigen Summen, ohne sich ausreichend zu erklären. Sie sei drauf und dran, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Vernebelung habe schon einen Tag nach der Rettung angefangen, als der damalige Finanzminister Steinbrück über eine Abwicklung »schwadroniert« habe. Dass die Vorstandschefin der Bank, Manuela Better, im September 2010 für das Jahr 2011 Gewinne in Aussicht stellte, zwei Tage bevor eine neue Rettungsaktion verkündet wurde, passe in das konfuse Bild, das Bund und Bank abgeben.34
Diese Aussage wurde in der Öffentlichkeit als »unverzeihlicher Fehler« bezeichnet, und ein Politiker beschimpfte die HRE als »Zombie-Bank«.35 Das Institut sei ein »Fass ohne Boden«. Nur zwei Jahre nach der Rettung wurde ein weiterer Garantiebedarf in Höhe von 40 Milliarden Euro reklamiert, der an der Öffentlichkeit und am Parlament vorbei beschlossen und nicht hinreichend begründet wurde. Das Management hatte unterdessen ein dramatisches Bild der Lage gezeichnet und mitgeteilt, dass der Bank spätestens Ende September 2010 das Geld ausgehen werde, wenn sich die Finanzmärkte weiter gegen sie entwickeln sollten.36 Zu diesem Zeitpunkt sollte übrigens die Aufspaltung der HRE beginnen – in eine Abwicklungsanstalt (»Bad Bank«), die mit Wertpapieren von bis zu 210 Milliarden Euro gefüllt wird, und eine kleinere Restbank, die unter dem Namen Deutsche Pfandbrief AG mit Gewerbeimmobilien- und Staatsfinanzierungsgeschäften dauerhaft als überlebensfähig gilt.37
Tatsächlich begann die Aufspaltung in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 2010. Binnen eines Tages wurden Wertpapiere, Kredite und ganze Geschäftsbereiche im Volumen von circa 191 Milliarden Euro übertragen. Die verbleibende Kernbank soll in den kommenden Jahren weiter schrumpfen und am Ende noch über eine Bilanzsumme von circa 100 bis 125 Milliarden Euro verfügen. Zur Absicherung dieser nächtlichen »Operation am offenen Herzen« dienten auch die zuvor erwähnten neuen Garantien. Durch sie sollte sichergestellt werden, dass es im Zuge der Abspaltung wegen technischer Fehler nicht zu Geldengpässen in der Bank kommt. Zudem brauchte die HRE einen zusätzlichen Puffer, weil sich die Kurse von Währungen und Staatsanleihen zuletzt zu Ungunsten der Bank entwickelt hatten, weshalb neue Finanzierungsprobleme drohten. Die eigentliche Abwicklungsarbeit wird in den nächsten Jahren zum Ziel haben, möglichst viel für die Staatsanleihen und Kredite in der Bad Bank herauszuschlagen. Es bleibt abzuwarten, wie viel der Steuerzahler von den zehn Milliarden Euro, die der Bund in die HRE gesteckt hat, wiedersehen wird. Außerdem kommt es darauf an, ob und wie teuer der Bund die Restbank (Deutsche Pfandbriefbank) einst wieder verkaufen kann.38
Vor diesem Hintergrund sind Meldungen über 25 Millionen Euro, die an verdiente Mitarbeiter des Instituts auch nach der Verstaatlichung als »Boni« ausbezahlt wurden, nur noch ein Sahnehäubchen, das allerdings eine beachtliche Größe erreicht; zu Beginn sollen sogar 35 Millionen Euro im Gespräch gewesen sein. Alle politischen Parteien haben diese Zahlung zwar heftig kritisiert. Das Bundesministerium der Finanzen hat sie aber zunächst einmal verteidigt. Das Geld war im Juni 2010 geflossen, und die Zahlungen waren dem SoFFin und dem Ministerium bekannt. Nur zur Erinnerung: Die HRE hatte ihren Eigentümern im Jahre 2009 einen Verlust von 2,2 Milliarden Euro beschert und musste mit acht Milliarden Euro Kapital und Garantien in Höhe von 142 Milliarden Euro gestützt werden. Nach Angaben der HRE seien für 2009 keine Boni gezahlt worden. Aber mit Blick auf die erforderliche grundlegende Restrukturierung des Konzernverbunds und auf die Stabilisierung sowie zur Vermeidung von Rechtsrisiken sei den 1400 Mitarbeitern eine einmalige Zahlung angeboten worden. Der Gesamtbetrag von 25 Millionen Euro entspreche einem Bruchteil der Bonuszahlungen im Konzernverbund vor der Krise. Vor 2008 wurden mehr als doppelt soviel an Boni ausgeschüttet.39 Jeder Mitarbeiter der HRE hat also für das Jahr 2009 durchschnittlich 18 000 Euro bekommen, zusätzlich zum festen Jahresgehalt. Und jeder Mitarbeiter hat im gleichen Zeitraum circa 1,6 Millionen Euro Verlust erwirtschaftet. Manager, die eine erheb liche Mitschuld an dem Desaster tragen, drohen gleichwohl mit Klagen auf weitere Leistungen, weil sie wissen, dass sie nur schwer zu ersetzen sind. Das zeugt mindestens von mangelndem Unrechtsbewusstsein und offenbart eine erpresserische kriminelle Energie. 40
Die moderne Erregungsdemokratie kam in Deutschland weiter auf Touren, als Ende September 2010 ruchbar wurde, dass womöglich circa 200 Mitarbeiter staatlich gestützter Kreditinstitute mehr als 500 000 Euro erhalten haben. Auf diesen Betrag hatte die große Koalition im Herbst 2008 die Gehälter von Vorständen und Aufsichtsräten gedeckelt. Für Mitarbeiter unterhalb dieser Führungsebene wurden allerdings keine konkreten Obergrenzen festgelegt. Allein in der Commerzbank sollen circa 40 Spezialisten ein höheres Gehalt beziehen als der Konzernchef Martin Blessing. Nachdem bekannt geworden war, dass die 1400 Mitarbeiter der HRE für 2009 circa 25 Millionen Euro Sonderzahlungen erhalten hatten, obwohl die Bank in diesem Jahr 2,2 Milliarden Euro Verlust machte, und der frühere HRE-Chef Axel Wieandt nach einem Arbeitseinsatz von 18 Monaten Pensionsansprüche von jährlich 240 000 Euro hat und zwei weitere Vorstände mit Pensionsansprüchen von jeweils 186 000 Euro die Bank verlassen, kam Unmut auf. Den für die Regierung und die Kontrolleinrichtungen handelnden Personen wurde vom finanzpolitischen Sprecher der CDU-Fraktion, Leo Dautzenberg, mit unverkennbarer Ironie »sehr viel Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Banker« attestiert.41 Dem will die Bundesregierung jetzt angeblich einen Riegel vorschieben. Nach Angaben des Staatssekretärs im Bundesministerium der Finanzen, Hartmut Koschyk, soll das »Restrukturierungsgesetz«, das die geordnete Insolvenz systemrelevanter Banken ermöglichen soll, um einen Passus ergänzt werden, der auch die Kappung der Vergütung bei bestehenden Verträgen ermöglicht.42
Unterdessen war auf einmal sogar die Wut über die Banker wieder da. In den Monaten zuvor hatte die Erholung der Wirtschaft verdeckt, wie sehr die Rettung der Banken mit Steuergeldern das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen verletzt hat. Selbst eine naheliegende moralische Verdammung ändert nichts daran, dass es auch in der vielgescholtenen Bankenbranche keine »Kollektivschuld« gibt. Ökonomisch geht es darum, die besten Mitarbeiter mit entsprechenden Gehältern zu halten, damit sie den angehäuften finanziellen »Sondermüll« entsorgen. Das gilt offensichtlich auch für jene Investmentexperten, die den Kreditsondermüll mitproduziert haben. Zwingt man sie zum Gehaltsverzicht, mag das Rachegefühle befriedigen. Es löst aber die anstehenden Probleme nicht. Appelle an das Anstandsgefühl dürften ohnehin keine Remedur bringen. Die Politik muss von ihren Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Sie hinkt bei der Aufarbeitung der Finanzkrise regelmäßig hinterher. Exzesse dürften auch zukünftig unvermeidbar sein, wenn die gegenwärtige Struktur der Bankenwelt unverändert bestehen bleibt. Eine kleine Gruppe großer Konzerne dominiert das Geschäft weltweit und zahlt astronomische Gehälter. Das gilt vor allem für die Investmentbanken. Deshalb müssten kleinere Institute selbst drittklassigen Wertpapierspezialisten hohe Gehälter zahlen, um sie zu halten. Die Banken können auch deshalb so agieren, weil sie noch immer darauf vertrauen, im Krisenfall wegen ihrer Bedeutung für die Wirtschaft vom Staat gerettet zu werden. Hier muss die Politik endlich ansetzen, anstatt sich in Bonusdebatten zu verzetteln.43
Dort hat man es aber zunächst vorgezogen, einen Vertreter des Bundesministeriums der Finanzen, den Parlamentarischen Staatssekretär Steff en Kampeter, der Lüge gegenüber dem Deutschen Bundestag zu bezichtigen. Dieser war im Juli 2010 von einem Mitglied einer Oppositionsfraktion gefragt worden, ob Mitglieder der »schwarzroten« Bundesregierung über (vermeintlich großzügige) Pensionszusagen für den früheren HRE-Chef Wieandt informiert gewesen seien. Mitte September 2010 antwortete der Gefragte, dass weder die Regierung noch die bundeseigene Finanzmarkstabilisierungsanstalt (FMSA) Kenntnisse über den Arbeitsvertrag gehabt hätten. Schon am 22. September musste Staatssekretär Kampeter einräumen, dass der Aufsichtsrat der HRE den Entwurf des Anstellungsvertrages an die FSMA verschickt hatte. Die Opposition im Deutschen Bundestag behauptete auch erneut, dass Kampeter den Deutschen Bundestag bereits im Zusammenhang mit der »Beinahe-Pleite« Griechenlands fehlerhaft informiert hätte. Die Falschaussagen dieses Amtsträgers seien entweder absichtlich oder grob fahrlässig geschehen. In jedem Fall handele es sich um einen klaren Rechtsbruch.44
PEER STEINBRÜCK UND DIE »SCHULDFRAGE«
Aus der Sicht des Politikers Peer Steinbrück führt die grundsätzliche Frage »Wer ist schuld?« ins »Nirwana«, weil die Kausalitäten in einem so komplexen System wie dem der Finanzmärkte nicht eindeutig seien und es eine leicht zu identifizierende Verursachergruppe nicht gebe. Er sieht nur eine Gemengelage aus mehreren Faktoren in beliebiger Reihenfolge wie globale Ungleichgewichte, Philosophie der Deregulierung, Risikoignoranz und Arroganz von Bankmanagern, mangelnde »Brandmauern« und »Sicherungskästen«, Intransparenz des Marktgeschehens, Fehler der Politik, Gier von Bankkunden.45
Die Fehler der Politik bezeichnet Steinbrück folgendermaßen46:
• Unvermögen zum Abbau des fatalen ökonomischen Missverhältnisses zwischen den USA und China
• exorbitante Leistungsbilanzüberschüsse zwischen Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten der EU und des Euro-Raums
• Anhäufung gigantischer Schuldenberge
• mangelnde Nutzung der Einführung des Euro für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch ein niedriges Realzinsniveau
• mangelnder Widerstand gegen »spekulative Kreditschöpfungen«
• mangelnde Überführung der Währungsunion in eine Wirtschaftsunion
• unklare Botschaft des »Formelkompromisses von Brüssel« Ende März/Anfang Mai 2010 (Griechenlandhilfe)
• Gewährung unbegrenzter Liquidität durch staatliche Garantien für systemrelevante Banken und europäische Gewährleistungen für in Not geratene Länder
• mangelnder Druck auf eine fundamentale Umstrukturierung und Kon solidierung des Landesbankensektors
• Aufhäufung des Klumpenrisikos im Verbriefungsgeschäft bei den Lan desbanken
• mangelnde Wahrnehmung, wie stark das Schattenbanksystem anwuchs und die Geschäfte in Zweckgesellschaften außerhalb des regulierten und beaufsichtigten Bereichs ausgelagert wurden
• mangelnde Initiative für eine Ermächtigung der Bankenaufsicht zur Prüfung ganzer Geschäftsmodelle
Die Finanzkrise seit 2007 hat aber auch noch etwas ganz anderes off engelegt, wie die Autoren Rudolf Lambrecht und Michael Mueller in ihrem Buch Die Elefantenmacher deutlich machen: In bislang unvorstellbarem Ausmaß hat sich die Bundesregierung in die Abhängigkeit der Finanzwirtschaft manövriert und so das Allgemeinwohl einer aus den Fugen geratenen Bankenwelt ausgeliefert. Die Politiker hätten sich als fremdbestimmte Komparsen in einem Theater postieren lassen, dessen selbst ernannte Regisseure in den Banktürmen die Handlung bestimmten – Millionengehälter und Bonuszahlungen im Blick. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn es stimmt, dass der Ausleseprozess in der Parteiendemokratie oft genug Politiker in Spitzenämter spült, denen das für ein Regierungsamt erforderliche Mindestmaß an eigenem Sachverstand und damit an Realitätsbezug fehlt.47
Bei der Betrachtung der Fehler, der Maßlosigkeiten und der Hybris der Bankenwelt ist dem ehemaligen Finanzminister Steinbrück dagegen die deutlich unterentwickelte Sensibilität der Wirtschaftselite und ihrer »Prätorianer« gegenüber Politik und Gesellschaft aufgefallen, denen Politiker offensichtlich als »unfähig, ineffizient, verschnarcht und opportunistisch« gelten. Steinbrück beruft sich in diesem Zusammenhang auf ein Zitat, wonach die Finanzwelt ihre überirdischen Gewinne nur erzielen könne, weil sie in hohem Maße Ignoranz einsetze. Gezieltes Nichtwissen sei ihr herausragender strategischer Vorteil – die Befreiung von der Verantwortung für die Konsequenzen, die ihre Geschäfte auslösen. Indem sie die Lebenswirklichkeit der Außenwelt ausblende, gewinne sie die Autonomie der Gestaltungsfreiheit. Insofern sei die Finanzkrise auch das Ergebnis einer besonderen beruflichen Sozialisation und der Abschottung in einer Parallelwelt auf höchstem Niveau. An deren Spitze hat Steinbrück eine »Mischpoke« ausgemacht, die sich durch ein asoziales und amoralisches Verhalten auszeichne. Er sei – am häufigsten auf diversen Inseln – manchmal Maklern, Investmentbankern, Beratern und Jungunternehmern begegnet, die von einer erschreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem »gemeinen« Volk gewesen seien.
Nicht zuletzt die Finanzmarktkrise habe gezeigt, dass der mitreißende Turbokapitalismus offenbar Anlagen zu Arroganz beflügele, die den Sinn für Maß und Mitte, Proportionen und Balance getrübt hätten. Die Vertreter des globalisierten Finanzkapitalismus wüssten offenbar nicht, dass brachiale Verletzungen von Fairness und Unwuchten in einer Gesellschaft Gegenbewegungen auslösten. In einer Aufwallung von Emotionen und Irrationalität könne das Pendel in ein gegenteiliges Extrem schlagen. Kein Gesetz, keine Verordnung oder Regulierung werde Wirtschaftseliten und ihre Knappen auf das Gemeinwohl, eine Vorbildrolle und einen Blick für Fairness verpflichten können. Das lasse sich auch politisch nicht exekutieren. Deshalb, so seine Voraussage, wird die Gegenbewegung zunehmen, eines Tages organisiert auftreten und dann Konsequenzen erzwingen, die nicht weniger besorgniserregend sein könnten als die Ursachen dieser Wirtschafts- und Finanzkrise.48
Man könnte den entscheidenden Gesichtspunkt auch etwas prägnanter fassen: Die Geldkrisen der Gegenwart sind möglicherweise kein Ausdruck von Marktversagen, keine Krise des Kapitalismus, kein Argument gegen die Gier und schon gar kein Beweis für den Unsinn von Managergehältern und Renditezielen. Sie sind wohl eher Ausdruck eines staatskapitalistischen Systemversagens.49
Peer Steinbrück hätte sich besser mit dieser These auseinandergesetzt, statt in (selbst-)gefälliger Bescheidenheit zu behaupten, nach einer mehrjährigen Debatte über die Regulierung von Finanzmärkten das Rad nicht neu erfinden zu wollen. Das tut er übrigens auch nicht, wie seine hier nur auf Stichworte reduzierten Vorschläge zeigen50:
• Transparenz durch ausnahmslose Führung aller Finanzgeschäfte in der
Bilanz
• ausreichende Unterlegung der Risiken in Banken durch Eigenkapital
• Verbot schädlicher Leerverkäufe
• Einschränkung des Eigenhandels von Finanzinstitutionen mit Wertpapieren
• keine Verbriefung (und Weiterreichung) von Kreditrisiken zu 100 Prozent
• transparente Handelsplattformen ausnahmslos für alle Geschäfte mit Finanzderivaten und -zertifikaten
• Leistung von Bonuszahlungen ausschließlich aus dem Ertrag des jeweiligen Finanzinstituts unter bestimmten Beschränkungen
• Zulassung nur von verständlichen Produkten durch die Bankaufsicht
• Ermächtigung der Bankaufsicht zur Prüfung des Geschäftsmodells von Finanzinstituten
• zügiger Abschluss der Arbeiten an einem Bankinsolvenzrecht
• zielstrebige Fortsetzung der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug
• Einführung einer Umsatzsteuer von 0,1 Prozent auf alle Finanzmarkttransaktionen
• Korrekturen an den internationalen Bilanzierungsstandards
• Fortentwicklung des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu einem Frühwarnsystem
• Verbesserung der grenzüberschreitenden Bankenaufsicht
• Beseitigung des »Geburtsfehlers« der Währungsunion (mangelhafte Koordination der Wirtschafts- und Fiskalpolitik)
• Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds analog dem IWF
• Gründung einer europäischen Ratingagentur
• Konsultations- und Empfehlungsrecht für die EU bei der Aufstellung nationaler Haushaltspläne
• Entwicklung eines Szenarios für eine Umschuldung von Mitgliedsstaaten mit hoher Staatsverschuldung
• Verankerung eines Verfahrens für eine geordnete staatliche Insolvenz
• Einsatz von EU-Mitteln zur gezielten Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Mitgliedsstaaten, die ins Hintertreffen geraten sind
• Erklärungen zur Bedeutung des europäischen Projekts
IST DIE KRISE SCHON VORBEI?
Im Spätherbst des Jahres 2010 schien mancherorts die Welt auf einmal wieder in Ordnung zu sein. Insbesondere die deutschen Erfolge im Außenhandel wurden fast schon begeistert als Zeichen eines beginnenden Wirtschaftsaufschwungs bewertet, der aus den tiefen Tälern der Finanzkrise herausführen wird.
Bei der Betrachtung der Verhältnisse in der City of London stellte sich für einen journalistischen Beobachter sogar schon im Sommer des gleichen Jahres die ermutigende Frage, ob da einmal eine Krise war. Nicht nur die Händler von Luxusautos meldeten schon wieder exzellente Geschäfte: Auslieferung spätestens Anfang des Jahres 2011 – pünktlich zur Auszahlung der Jahresprämien. Mindestens fünf Milliarden Pfund (circa sechs Milliarden Euro) lassen die großen britischen Kreditinstitute ihren Investmentstrategen, Aktienhändlern und Analysten zukommen. Die Prämien schließen fast nahtlos an die früheren Rekordboni an.
Die Krise scheint auch in anderer Hinsicht überwunden. Die britischen Großbanken HSBC und Barclays haben für das erste Halbjahr 2010 Milliardengewinne gemeldet. HSBC, Europas größte Bank, konnte ihren Gewinn dank sinkender Belastungen aus faulen Krediten mehr als verdoppeln. Vor Steuern erreichte das Plus im ersten Halbjahr 2010 circa 11,1 Milliarden US-Dollar (circa 8,6 Milliarden Euro) nach fünf Milliarden US-Dollar im Vorjahreszeitraum. Solche Zahlen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die analytischen und ökonomischen Gründe für die desaströse Entwicklung immer noch nicht in genügender Weise geklärt sind.
Fest steht immerhin, dass hinter dem Begriff »Krise« individuelle und kollektive Selbsttäuschungen, wirtschaftliche Interessen sowie politisches Kalkül stehen. Der Sprachgebrauch unterstellt den episodischen Charakter der Entwicklung und gaukelt Beherrschbarkeit vor (»Krisenmanagement«).51 Politiker können sich als entschlossene und kompetente Schutzherren des Gemeinwohls darstellen, darauf hoffend, dass die Schutzbefohlenen ein kurzes Gedächtnis haben oder die Komplexität der Materie ohnehin nicht durchschauen und ihr »Urvertrauen« zu den vermeintlich Mächtigen behalten.52 Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik haben indessen in einer Mischung aus Ambition und Inkompetenz53 selbst die Bedingungen geschaffen, unter denen sich die internationale Finanzwirtschaft in ein Schlachtfeld verwandeln konnte. Es wird zu einem beträchtlichen Teil von überforderten Amtsinhabern und kriminellen Gestalten beherrscht, die mit dem Habitus des seriösen Bankers auftreten.54 In einem Satz: Keine Naturgewalt hat diese Finanzkrise ausgelöst, sondern beschämendes Versagen in den Vorstandsetagen.55
Und viele Regierungen haben jahrelang einfach nur zugeschaut.56 Mittlerweile gibt es eine »Chronik des Staatsversagens«.57 Plötzlich scheint man jedoch aufgewacht zu sein.58 Selbst über die Ökonomen und deren Kompetenz wird jetzt nachgedacht, haben sie sich doch ungeachtet ihrer hohen mathematischen Intelligenz gewaltig verrechnet.59 Die Welt befindet sich weiter auf dem Weg in ihren schlimmsten wirtschaftlichen und sozialen Alptraum, wie schon im Rückblick auf die Unruhen in Griechenland im Jahre 2008 gemutmaßt wurde.60 Die Symptome einer »Systemkrise« der sozialen Marktwirtschaft sind unübersehbar, und ganze Demokratien könnten in Gefahr geraten. Gleichzeitig ist der Ruf nach dem »starken Staat« zu hören.61 Fraglich ist, ob wir in einer »realwirtschaftlichen« Krise oder »nur« in einer Finanzmarktkrise stecken.62 Zweifellos hat die Finanzkrise ihren Auslöser in einem dreifachen Staatsversagen in den USA. Dieses bestand in einer jahrelangen Niedrigzinspolitik der Notenbank, die sogar negative Realzinsen zuließ, in der Verweigerung einer frühzeitigen Regulierung der Finanzmärkte sowie in dem Verzicht auf die Rettung von Lehman Brothers, einer »systemisch wichtigen« Bank.
Insbesondere das öffentliche Lamento über die »Heuschrecken-Firmen« hat unterdessen gezeigt, dass das weitverbreitete Unverständnis über die Mechanismen moderner Kapitalallokationen durch wahlkampfbedingte Heuchelei noch potenziert wird. In Deutschland spricht das Beispiel des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering für sich. Dessen öff entliche Bemerkungen über das zerstörerische Verhalten mancher Finanzinvestoren kurz vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Frühsommer 2005 steht in einem bezeichnenden Kontrast zu der Tatsache, dass die »rotgrüne« Bundesregierung unter seiner Mitverantwortung den viel geschmähten Heuschrecken (Hedge-Fonds) den Luftraum über Deutschland mit der Verabschiedung des Investmentmodernisierungsgesetzes 2004 selbst eröff net hatte.63
Der einstige CDU-Finanzexperte Friedrich Merz hat der SPD immerhin bescheinigt, dass sie mit einem kritischen Positionspapier (»Marktradikalismus statt Soziale Marktwirtschaft – Wie Private-Equity-Gesellschaften Unternehmen verwerten«) die jüngste deutsche Kapitalismusdebatte begonnen habe. Leider sei sie nie zu Ende geführt worden, denn als der SPD das Thema zu heiß geworden sei, habe sie sogar die Existenz dieses Papiers bestritten. Die Diskussion habe nach wenigen Wochen auch ein faktisches Ende gefunden. Einer der damals scharf kritisierten Investoren (Blackstone) übernahm auch mit Zustimmung von Müntefering einen Anteil von 4,5 Prozent der Deutsche-Telekom-Aktien von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und zahlte dafür 2,7 Milliarden Euro. Im übrigen liege auch nichts Verwerfliches darin, dass sich die Kapitalmärkte von den Gütermärkten abgekoppelt haben und mittlerweile auf der Welt mindestens 50-mal so viele Geldtransaktionen stattfinden wie reale Warengeschäfte. Gleichzeitig konstatiert Merz, dass die Ausdiff erenzierung der Palette von Finanzmarktprodukten schließlich dazu geführt hat, dass selbst die Profis den Überblick über das Angebot verloren haben. Vor allem in derivativen Produkten, also in abgeleiteten Finanzmarktinstrumenten, denen kein unmittelbarer Gegenwert in Form eines Firmenanteils oder eines Fonds mehr zugrunde liegt, bestehe ein beträchtliches Risiko.
Das alles hält Friedrich Merz, der zwischenzeitlich zum Berater diverser Finanzunternehmen avanciert ist, nicht von der Behauptung ab, dass Finanzinvestoren angeschlagene Unternehmen wieder wettbewerbsfähig machten. Hedge-Fonds seien eine sinnvolle Ergänzung des Kapitalmarkts, die nur dann Erfolg hätten, wenn Unternehmen an Wert verlieren. Sie korrigierten durch ihre Aktivitäten falsche Preisbildungen am Markt und trügen so zur Risikobegrenzung an den Finanzmärkten bei. Wenn spekulative Geschäfte eines Hedge-Fonds zu Problemen führen, lägen die Ursachen in der Regel nicht bei den Fonds, sondern seien meist schon früher entstanden. Die Bundesregierung habe bisher aus gutem Grund eine spezielle Hedge-Fonds-Regulierung abgelehnt. Merz glaubt, dass Müntefering ihm heute insgeheim vermutlich zustimmen würde, wenn er sagt: »Gut, dass wir nun auch in Deutschland Heuschrecken haben.«64
Dieser wirtschaftlich erfolgreiche Politiker könnte Anlass sein, sich mit dem Verschwinden der Politik auseinanderzusetzen,65 einem Verschwinden, dessen Ursprung in einem übersteigerten politischen Willen liegen könnte, der eine Ausweitung ultraliberaler Aktivitäten fordert. Gemeint ist politisches Handeln im Dienste der »allmächtigen« Privatwirtschaft, die unter dem züchtigen und beruhigenden Etikett der »Marktwirtschaft« einer dominanten und rein spekulativen Wirtschaft als Schutzschild dient, die zum Kasino degeneriert und den realen Aktiva gleichgültig gegenübersteht. Es geht also um eine virtuelle Wirtschaft, die keine andere Funktion hat, als der Spekulation und ihren Profiten den Weg zu ebnen. Gemeint sind Gewinne, die aus immateriellen Produkten (Derivaten) hervorgehen, bei denen mit dem gehandelt wird, was nicht existiert. Dazu gehört der Ankauf virtueller Risiken, die mit einem im Projektstadium befindlichen Vertrag verbunden sind, dann der Risiken, die durch den Ankauf dieser Risiken eingegangen wurden, die wiederum selbst jeweils tausenderlei weitere Risiken einschließen, die ebenfalls virtuell sind und ihrerseits Gegenstand weiterer, ebenfalls virtueller Spekulationen sind – von Wetten und weiteren Wetten auf diese Wetten, die zu den »wirklichen« Objekten der Märkte geworden sind.
Die Autorin Viviane Forrester beschreibt das Ergebnis der von Merz verteidigten Politik so: eine anarchische, mafiose Wirtschaft, die sich mit Hilfe eines Alibis – »Wettbewerbsfähigkeit« – verbreitet und eingenistet hat, eine Pseudowirtschaft, gegründet auf Produktion ohne Realität, die sie jedoch nach den Bedürfnissen des spekulativen Spiels erfindet, das selbst von jeglichen realen Aktiva, von jeglicher fassbaren Produktion abgespalten ist. Eine hysterische, wirkungslose Wirtschaft, auf Luft gegründet, Lichtjahre von der Gesellschaft und damit der realen Wirtschaft entfernt. Diese existiert jedoch nur im Bezug auf die Gesellschaft und hat nur Sinn, wenn sie mit dem Leben der Menschen verbunden ist.66
In einer fast inzestuösen Verschmelzung von Wirtschaft und öff entlicher Gewalt scheinen Regierungen mehr und mehr wie Wirtschaftsunternehmen zu agieren (und umgekehrt). Regierungen protektionieren den Gewinn, und Unternehmen sprechen von sozialer Verantwortung und Demokratie. Die Wirtschaft übernimmt die Aufgabe der Gesetzesplanung und -verabschiedung, und Regierungen kümmern sich ums Geld.67 Die gegenwärtigen Erschütterungen der Weltwirtschaftsordnung sind jedenfalls keine Folgen eines Erdbebens. Deren Unterspülung ist nicht auf eine globale Tsunamiwelle zurückzuführen. Die überall zu besichtigenden Verwüstungen traten nicht plötzlich und unerwartet auf. Alles ist Werk von Menschenhand. Die Verheerungen sind das Ergebnis des Einsatzes von »Massenvernichtungswaff en« (Warren Buffet), also Derivaten und anderen »innovativen« und strukturierten Finanzprodukten. Die Wirtschaftswelt befindet sich nach wie vor im freien Fall.68
Das ist aber keine naturgesetzliche Zwangsläufigkeit, wie man angesichts der Erfolglosigkeit hektischer politischer Gegensteuerungsversuche annehmen könnte. Gemeinsam mit Notenbanken bemühten sich Regierungen darum, das havarierte Weltfinanzsystem mit billigem Geld zu fluten und auf diese Weise wieder flott zu machen. Banken, die für »systemrelevant« erklärt wurden, erhielten unter anderem durch Zuführung von Steuergeldern Geleitschutz, damit sie wieder aus den schweren Wettern herausfinden, in die sie mit Volldampf hineingefahren waren. Den mehrfach geschädigten Bürgern wurden im Hinblick auf ihre Sparguthaben wirtschaftlich unhaltbare und rechtlich bedeutungslose Garantien gegeben.
Die Politik versucht nach wie vor überwiegend mit Beschwichtigungsritualen eine Trümmerlandschaft schönzureden. Sie gehört zur Hinterlassenschaft gewissenloser Cliquen der Finanzwirtschaft, die unbeeindruckt von wirtschaftlicher Vernunft und bis jetzt nicht genügend wirksamen Regulierungsversuchen des Gesetzgebers einen Krieg gegen die Interessen der Menschen führen, die ihren Lebensunterhalt noch auf Qualifikation, Arbeit, Fleiß und Rechtstreue gründen. Das Thema ist nicht auf »Krisenmanagement« und »Risikomanagement« zu reduzieren. Die Aufgabe ist sehr viel umfassender. Natürlich gehört auch die Vorsorge gegen allfällige Risiken dazu. Vor allem aber wird man sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es sich bei der gegenwärtigen Entwicklung um einen bedauerlichen Unfall, eine unglückliche Entgleisung, ein unabwendbares Schicksal oder um eine systemische Fehlentwicklung handelt, für die konkrete natürliche und juristische Personen beziehungsweise Gruppen und Strukturen verantwortlich sind. Der etablierte Gebrauch des Begriff s »Finanzkrise« verniedlicht die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Dramatik, die mit dieser Frage verbunden ist. Er steht für eine Augenwischerei, die den Blick auf die politisch gewollten und mit asozialer Energie genutzten exklusiven Bereicherungsmöglichkeiten auf Kosten der Allgemeinheit verhindert.
Zum Ende des Jahres 2009 hatte manch ein politisch Verantwortlicher gleichwohl schon geglaubt, dass wir aus dem Gröbsten heraus sind. Etwas vorsichtiger gab sich dagegen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie hat den Gläubigen und Gläubigern mitgeteilt, dass wir uns auf einem extrem labilen und unvorhersehbaren Grund bewegen. In der Tat geht es nicht nur um die Verdauung einer einzigen großen Spekulationsblase.69 Vor uns liegen Hochrisikojahre mit zahlreichen verschiedenen Gefahren, die sich addieren werden. Trotz weniger zaghafter Anzeichen für eine leicht wachsende deutsche Volkswirtschaft bleibt der Versuch, den in der Finanzkrise verlorenen Wohlstand zurückzuholen und zu mehren, eine Tour am Rand des Abgrunds. Wir haben ein Dauerabenteuer vor uns.70
In wissenschaftlichen Untersuchungen71 über die Folgen von Finanzkrisen in der Geschichte sind die Zeichen an der Wand zu lesen:
• Steigerung der Arbeitslosigkeit um durchschnittlich sieben Prozent
• Einbruch der Wirtschaftsleistung um 9,3 Prozent
• Abwicklung ganzer Banken
• Absturz der Aktienkurse auf Tiefstwerte
• Verdoppelung der Staatsschulden
• gesteigerte Anfälligkeit des Bankensystems
• Reduzierung des Wettbewerbs im Bankensektor
• Beanspruchung von Staatshilfen
• Wiedereröffnung hochspekulativer Geschäfte mit Schrottpapieren, Rohstoffen und Kreditversicherungen
DIESES MAL IST ALLES ANDERS
Doch im Vergleich zu früheren Krisen gibt es einen bemerkenswerten Unterschied. Viele Schwellenländer in Asien oder Lateinamerika gelten als finanziell stabil, weil sie im Ausland kaum verschuldet sind. Die finanzpolitischen Minen sind heutzutage in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden. Dazu gehören Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), vor allem Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien (»PIIGS-Staaten«) und die baltischen Staaten sowie Ungarn. Schon seit Anfang 2009 wird sogar über einen Staatsbankrott Großbritanniens nachgedacht, und Londoner Finanzanalysten spekulieren, dass das Vereinigte Königreich ähnlich bankrott gehen könnte wie Island, dessen Wirtschaft mit Hilfe eines Notkredits des Internationalen Währungsfonds (IWF) über Wasser gehalten werden muss. Britische Großbanken häuften trotz milliardenschwerer Rettungsaktionen der Labour-Regierung weiter horrende Verluste an. Das Kreditgeschäft ist ausgetrocknet. Unternehmen und Privatleute erhalten kaum noch Geld. Das britische Pfund verliert gegenüber dem Euro und dem US-Dollar beständig an Wert. Darin drückt sich der Vertrauensverlust internationaler Investoren gegenüber der britischen Wirtschaft aus. Sie ziehen ihr Geld ab. Ein gefährlicher Kreislauf von weiterer Kapitalflucht und Währungsabwertungen scheint sich abzuzeichnen.
Zwischenzeitlich war sogar von einem »Währungskrieg« die Rede. Besonnenere Kommentare gingen jedoch frühzeitig davon aus, dass die Gefahr eines Kampfes zwischen Amerikanern, Chinesen und Europäern auf der Basis aggressiver Abwertungen nicht besteht und zu keiner Zeit bestanden hat. Es geht wohl doch um etwas anderes: Die globalen Ungleichgewichte, die die Finanzkrise mit ausgelöst haben, bestehen noch immer und scheinen sich sogar noch zu vergrößern. Dies führt zu Spannungen im Weltwährungssystem, die den Aufschwung gefährden und im Extremfall zu einem regelrechten Handelskrieg zwischen China und den USA mit Strafzöllen und Ähnlichem führen können.72
Im Herbst 2010 war allerdings schon deutlich geworden, dass die Krise einen neuen Schauplatz bekommen hat: die internationalen Devisenmärkte. Es begann zu dieser Zeit nicht nur der Streit zwischen China und den USA um den Wechselkurs. Auch Japan begann mit Bemühungen, den Anstieg des Yen zu stoppen. Die Turbulenzen auf den Währungsmärkten waren schon zu jener Zeit ein Beleg dafür, dass die Krise eben nicht bewältigt ist, sondern sich nur auf ein neues Feld verlagert hat. An den Devisenmärkten werden täglich circa vier Billionen US-Dollar gehandelt. Der Welthandel wurde durch die Krise zwar gedämpft. Aber das Geschäft mit Währungen ist in den drei Jahren zwischen 2007 und 2010 noch einmal um ein Fünftel gewachsen und hat sich vom Geschäft mit Gütern weiter abgekoppelt. Während vor circa 30 Jahren der Warenhandel die Wechselkurse noch im wesentlichen bestimmt hatte, sind gegenwärtig nur noch 15 bis 20 Prozent an Warengeschäfte geknüpft.73
Die City of London steht jedenfalls bis auf weiteres unter großem Druck. Dort entstanden auch die kunstvoll gestrickten Finanzprodukte, die als »toxische Wertpapiere« die Bankenbilanzen belasten. Hier kommen aus der ganzen Welt Broker und Banker zusammen, um mit immer höheren Einsätzen zu zocken. Die einseitige Ausrichtung Großbritanniens auf die Finanzbranche könnte ein Irrweg sein, der trotz der in vielerlei Hinsicht beanspruchten europäischen Sonderstellung dieses Staates (unter anderem als Nichtmitglied der Währungsunion und Verweigerer der Charta der Grundrechte der EU) gemeinschaftsrelevante Auswirkungen hat.74 Innerhalb eines Jahres hatte sich die Entwicklung dort dramatisch zugespitzt. Schon Anfang 2010 äußerten Vertreter der Deutschen Bank die Vermutung, dass man Großbritannien in einigen Monaten so ähnlich sehen werde wie Griechenland. Das Land mache infolge der Finanzkrise prozentual deutlich mehr neue Schulden als andere Industrieländer. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt verdopple sich die britische Verschuldung, während sie in Italien um rund 20 Prozent und in den USA um rund 50 Prozent zulegte.75
Insbesondere Finanzinstitute an der Wall Street in New York und in der City of London haben mit Hedge-Fonds Assoziationen gegründet und Verbindungen gepflegt, die über die schadenstiftende Energie konventioneller krimineller Vereinigungen weit hinausgehen. Hedge-Fonds arbeiten mal ohne Kredite und mal mit enormen Schulden. Kauft man für 100 Millionen US-Dollar Aktien und verkauft sie für 110 Millionen US-Dollar, hat man eben zehn Prozent Gewinn auf das eingesetzte Kapital gemacht. 100 Prozent Gewinn fallen für den an, der von 100 Millionen US-Dollar Kaufpreis nur zehn Millionen US-Dollar aus eigener Tasche bestreitet und den Rest per Kredit bezahlt. Natürlich mussten die Fonds auf die Kredite Zinsen zahlen, doch diese lagen lange Zeit sehr niedrig. Im Extremfall zahlten die kaum rechtlichen Auflagen unterworfenen Fonds von 100 Millionen US-Dollar »Einsatz« nur drei Millionen US-Dollar mit Eigenkapital. Und die Banken spielten dieses Spiel nicht nur mit. Sie lebten mit den Hedge-Fonds sogar in einer Art Symbiose. Zum einen kassierten sie Zinsen. Und zum anderen konnten sie der Hedge-Fonds-Industrie viele riskante Papiere verkaufen, damit Gefahren aus den eigenen Bilanzen entfernen und so das Eigenkapital, das sie selbst zur Absicherung vorhalten müssen, niedrig halten.76
Die Problematik hat auch grundsätzliche Aspekte. Die Elektronisierung des globalen Geld- und Kapitalverkehrs hat undurchsichtige Finanzinstrumente, insbesondere Derivate und Zertifikate hervorgebracht, deren Risiken nicht mehr abzuschätzen sind. Dafür trägt die angloamerikanische Finanzindustrie die größte Verantwortung. Sie hat kaum zusätzliche Werte produziert, sondern nur zusätzliche Gewinne und Verluste. Man handelt mit »Wertpapieren«, denen eines gemeinsam ist: Gewinn und Einkommen des jeweiligen Urhebers sind von Anfang an gesichert, während das sorgfältig verborgene Risiko der Wertminderung allein beim Käufer des Papiers liegt. Das ist eine gut getarnte Form des »Raubtierkapitalismus«.77
Nicht nur die genannten Staaten bieten wegen ihrer katastrophalen budgetären Verfassung ein höchst interessantes Exerzierfeld für weitere Spekulationen, die schließlich die Stabilität des Euro beziehungsweise der jeweiligen Währung gefährden und damit die Grundlagen auch der deutschen Wirtschaftspolitik ruinieren können. Die Krise wird Krisen gebären. Offensichtlich haben zahlreiche Daten und Statistiken schon bei der Gründung der Euro-Zone mit der wirtschaftlichen Realität des einen oder anderen Mitgliedsstaates wenig zu tun gehabt. Die Palette möglicher Erklärungen reicht von Korruption über Inkompetenz bis hin zu staatlich geförderter Systemkriminalität. Prognosen scheinen das Ergebnis von Fieberphantasien gewesen zu sein.
Aber auch die bisherige Kompetenzlosigkeit der europäischen Statistikbehörde (Eurostat) hat dazu beigetragen und ist ein Skandalon für sich. Daran hat Deutschland einen besonderen Anteil. Dort haben sich die Verantwortlichen in den vergangenen Jahren entschlossen gegen die Übertragung der notwendigen Kontrollrechte gestemmt.78
Im übrigen hat Deutschland, das sich gerne als europäischer Musterknabe geriert, auf seine Weise erfolgreich an der Vertuschung eigener Staatsschulden gearbeitet. Die Kommunen haben etwa mit US-Finanzinstituten Leasing-Verträge abgeschlossen.79 Sie haben Klärwerke verkauft und zurückgeliehen, um an Geld zu kommen. Öffentliche Gebäude werden zudem privat gebaut und geleast, statt sie zu kaufen. Oder es wurden staatliche Immobilien und Verkehrswege verkauft, um sich Kapital zu besorgen. Dabei handelt es sich insgesamt um versteckte Staatsverschuldung, die nicht als solche ausgewiesen wird.80
Es gibt mittlerweile beeindruckende Einzelbeispiele dafür, was alles passieren kann, wenn sich Kommunen auf bestimmte Bankgeschäfte einlassen. Im August 2010 hat sich etwa die Stadt Pforzheim aus einem bitteren Geldgeschäft mit der Bank J. P. Morgan mit immerhin über 57 Millionen Euro freikaufen können. Damit sind alle Rücklagen der Stadt aufgebraucht. Sie hatte sich wie viele andere Städte Derivate andrehen lassen. Der Gesamtschaden wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Angesichts von Schuldenbergen in den Gemeinden hatten manche Kämmerer versucht, mit diesen Instrumenten die Zinslast zu senken. Pforzheim hatte drei »Spread Ladder Swaps« im Volumen von 60 Millionen Euro bei der Deutschen Bank unterschrieben, weil sie der Bank vertraute. Als das Minus mit Spekulationen auf Zinsbewegungen 20 Millionen erreicht hatte, war das Vertrauen aber dahin. Jetzt schenkte sie es J. P. Morgan und entschied sich im November 2006 zu Swap-Gegengeschäften. Der Hintergrund ist einfach: Eine Kommune hat einen Kredit mit festem Zinssatz – zum Beispiel über 20 Jahre – bei einer Bank abgeschlossen. Der Zinssatz ist ihr irgendwann zu hoch und sie tauscht (swap) für einen bestimmten Zeitraum (beispielsweise sieben Jahre) deshalb ihren festen, langfristigen Zinssatz gegen einen variablen. Im ersten Jahr ist der Zinssatz oft niedriger als vereinbart. Danach orientiert sich der Zinssatz an der Diff erenz (Spread) zwischen kurzfristigen (etwa zweijährigen) und langfristigen Zinsen (etwa zehnjährigen). Vergrößert sich die Differenz, gewinnt die Kommune, verkleinert sie sich, verliert sie. Bei der Zinsentwicklung der vergangenen Jahre habe viele Kommunen die Wette verloren.
Nach ihren Erfahrungen mit der Deutschen Bank setzte Pforzheim nun nicht mehr darauf, dass sich die Differenz zwischen kurz- und langfristigen Zinsen auseinanderentwickelt, sondern sie setzte auf das Gegenteil. So sollte das Risiko aus den Verträgen mit der Deutschen Bank begrenzt werden. Doch die neuen Swaps bescherten neue Verluste, während sich die Ursprungswette langsam erholte. Es war unterdessen nahezu ausgeschlossen, dass die Stadt mit den neuen Derivaten einen besseren Schnitt machen würde als mit den alten. Letztlich hat die Stadt der Bank viel Geld dafür bezahlt, dass diese ihr ein unbegrenztes Verlustrisiko verkauft. Gegen die Verantwortlichen der Stadt wurden Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue eingeleitet. Klärungsbedürftig ist, ob sie wussten, was sie taten, und ob sie derartige Geschäfte überhaupt abschließen durften, ob sie gegebenenfalls nur gutgläubig oder fahrlässig handelten und wann sie bemerkten, dass sie wie Pokerspieler mit fremdem Geld hoch gezockt hatten. Untersuchungsbedürftig ist natürlich auch die Rolle der Banken. Sie scheinen ihre Kunden regelrecht »angefixt« zu haben, warfen die Zinswetten im ersten Jahr nach Abschluss oft garantierten Gewinn ab. Mit der Finanzkrise ging das Pokerspiel, das auf noch höherem Niveau in vielen anderen deutschen Städten gespielt wurde, verloren.81
In Leipzig begann Ende November 2010 die juristische Aufarbeitung eines der größten kommunalen Finanzskandale in der Bundesrepublik. Am 27. November 2010 wurde der Prozess gegen den ehemaligen Geschäftsführer der Kommunalen Wasserwerke Leipzig (KWL), Klaus Heininger, eröffnet. Gegen den Angeklagten besteht unter anderem der Verdacht der Bestechlichkeit, der Untreue, der Bilanzfälschung und der Steuerhinterziehung. Er hatte sich 2006 – angeblich an den Kontrollgremien vorbei – auf hochriskante Finanzgeschäfte eingelassen. Die Folgen könnten für die Stadt Leipzig dramatisch werden. Die betroff enen Banken, darunter die Schweizer UBS und die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), fordern von der hochverschuldeten Kommune die Rückzahlung von 285,5 Millionen Euro. Heininger hat mittlerweile gestanden, dass er von den Vermittlern der Geschäfte mit 3 Millionen US-Dollar bestochen wurde.
Parallel dazu hat am 9. Dezember 2010 ein weiteres Verfahren im Zusammenhang mit den Leipziger Wasserwerken begonnen. Dort stehen der frühere Chef der städtischen Verkehrsbetriebe, Wilhelm Georg Hanss, und der einstige Stadtkämmerer Peter Kaminski vor Gericht. Auch ihnen wird Bestechlichkeit vorgeworfen. Hintergrund sind die bekannten komplizierten Finanzgeschäfte wie Cross-Border-Leasing (CBL), Credit Default Swaps (CDS), Collateralized Debt Obligations (CDO). Es lief alles nach einem eingespielten Schema. Leipzig hatte sein Trinkwassernetz 2003 mit Zustimmung des Aufsichtsrats in ein CBL-Geschäft eingebracht. Das Risiko dieser Transaktion sicherten die Wasserwerke mit CDS ab. Zu deren Finanzierung wiederum setzten Heininger und sein Kollege Andreas Schirmer auf die hochriskanten CDOs, ein Produkt, das die Finanzkrise mitausgelöst hat. Das Resultat ist klar: Auf der Stadt lasten Nachschusspflichten in dreistelliger Millionenhöhe.
Die Bank und die Stadt haben sich wechselseitig mit Klagen überzogen. Gegenwärtig (Stand: November 2010) wird vor dem High Court of Justice in London geklärt, ob die damals geschlossenen Verträge rechtmäßig zustandegekommen sind. Aus der Sicht der Stadt hätten ihre Bediensteten die Abkommen gar nicht treffen dürfen, und die Banken hätte dies wissen müssen. Sie glaubt nachweisen zu können, dass die Geschäfte nur zur persönlichen Bereicherung und nicht zum Wohl des städtischen Unternehmens ab geschlossen wurden. Sollte sich die Stadt mit ihrer Rechtsauffassung nicht durchsetzen können, dürfte ihr Schuldenberg wieder über die Milliardenmarke steigen und ihre Handlungsfähigkeit stark einschränken.82
Aber vielleicht zeichnet sich durch ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Oktober 2010 ein Silberstreif am Horizont ab. Der Abwasserzweckverband Mariatal (Ravensburg) hatte sich den Künstlern der Deutschen Bank anvertraut und einen Vertrag zur Zinsoptimierung unterschrieben (2005). Drei Jahre später standen Verluste in Höhe von circa 750 000 Euro zu Buche. Selbst in der schwäbischen Metropole hatte man sich auf ein Glücksspiel eingelassen. Die Bank hatte eine Wette verkauft, bei der nach der Auffassung der Stuttgarter Richter von Anfang an alle Gewinnchancen bei der Bank und fast alle Verlustrisiken bei dem Kommunalverband lagen, eine Vorgehensweise, die einer heimlichen Selbstbedienung der Bank am Vermögen des Kunden gleichgekommen sei. Insoweit habe auf Seiten der Deutschen Bank auch Vorsatz vorgelegen, und die Beratung sei derart schlecht gewesen, dass die Anlageentscheidungen »wie im Blindflug« getroffen worden seien.
Die Deutsche Bank wurde von den Zivilrichtern verurteilt, 710 000 Euro plus Zinsen als Schadenersatz zu zahlen. Damit hat ein deutsches Oberlandesgericht zum ersten Mal eine Bank in vollem Umfang für Verluste haftbar gemacht, die kommunalen Unternehmen aus Zinsspekulationsgeschäften entstanden sind.83
EINSICHTEN EINES FINANZMINISTERS
Unterdessen bemühte sich der amtierende Bundesminister der Finanzen, Wolfgang Schäuble, in Deutschland um grundsätzliche Klärungen. Er hat herausgefunden und in seinem Buch Zukunft mit Maß beschrieben, dass die Übertreibung des Egoismus, also die Gier, gefährlich ist, weil damit eine »vernünftige Ordnung« beschädigt oder sogar zerstört werden könne. Die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise mache dies deutlich. Sie lehre uns, dass wir einen stabilen Rahmen und verlässliche Regeln brauchen, um menschlicher Maßlosigkeit in entfesselten Märkten entgegenzuwirken. Der Staat habe die Aufgabe, einen rechtlichen Rahmen für das Wirtschaften und das Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Vielfalt bereitzustellen. Er müsse für nachhaltige Entwicklungen sorgen, Regeln für Transparenz aufstellen und Fehlverhalten sanktionieren, ohne Innovation und Fortschritt zu hemmen.84 Daraus wird sich natürlich keine Welterlösungsformel ergeben, die aus den Untiefen des gegenwärtigen Krisenszenarios herausführt. Schäuble erkennt immerhin, dass der bisherige Rahmen es nicht geschafft hat, die Krise zu verhindern. Der Staat hat also in der Sicherung der modernen Daseinsvoraussetzung in epochaler Weise versagt, auch wenn Schäuble genau diese Konsequenz nicht ziehen will. Er bevorzugt den Ritt auf paratheologischen Sprachwolken und attestiert einen umfangreichen »Anpassungsbedarf«. Das bedeute aber nicht, dass wir die »soziale Marktwirtschaft« abschaffen und eine grundlegende Systemdiskussion führen sollten. Die nötigen Korrekturen könnten auch unter den Bedingungen der Globalisierung geleistet werden.85
Leider bleiben aber allzu häufig besondere Aspekte dieses Phänomens unberücksichtigt, die von dem Journalisten und Autor Jürgen Roth so beschrieben werden: »Die Vorstellung, dass die Vertreter der nationalen Ökonomie in ein System der Loyalität gegenüber dem demokratischen Sozialstaat eingebunden sind, wird zunehmend obsolet. Denn die herrschende Kultur potenter Wirtschaftsmächte, in denen totale Willkür, absolute Korruption und strukturelle Erpressung eine lange Tradition haben, wie es in den Ländern der ehemaligen UdSSR der Fall ist, vermischt sich leicht mit der Wirtschaftskultur in demokratischen Systemen. Man nennt es Globalisierung.«86
Minister Schäuble hat folgende Erklärungen im Angebot:
• langjährige laxe Geldpolitik der amerikanischen Notenbank
• unverantwortliche sozial- und integrationspolitisch getriebene An heizung des amerikanischen Immobilienmarktes
• Aufhebung der Verschuldungsgrenzen für Wertpapierhandelshäuser durch die amerikanische Securities and Exchange Commission (SEC)
• Refinanzierung und weltweite Verteilung des gigantischen Hypotheken- und Kreditausfallrisikos durch Verbriefung und »Finanzinnovationen«
• Aufblähung der (deutschen) Landesbanken mit öff entlichen Geldern
• Eingehung unvernünftiger und unverständlicher Risiken
• weitgehende Liberalisierung der Regularien für die Finanzindustrie
• Versagen von Entscheidungsträgern in der Finanzindustrie, bei Banken, Finanzberatungen, institutionellen Anlegern oder vielen anderen Unternehmen
• Gier der Marktteilnehmer und Anleger87
Diese Ansätze greifen zu kurz. Niemand war gezwungen, sich dem Streben nach kurzfristiger Rendite zu unterwerfen und wegen ein paar Basispunkten von sicheren Staatsanleihen auf spekulative Zertifikate und Derivate umzusteigen.88
Schäuble betont, dass es natürlich kein Patentrezept dafür gibt, wie man aus der Krise herauskommt und was in Zukunft genau verändert werden muss. Auch ihm ist klar, dass der Staat gefordert ist, weil in der jetzigen Situation nur er das notwendige Vertrauen hat. Mit den vom Bundeskabinett beschlossenen Maßnahmen habe die Bundesregierung gezeigt, dass sie entschlossen und kraftvoll handelt, bis das Vertrauen in die Finanzmärkte hinreichend wieder hergestellt ist.89 Man werde Liquidität schaffen, Kreditvergaben ermöglichen und so die finanziellen Grundlagen der Wirtschaft sichern.
Selbstverständlich will man auch die Auslöser und Ursachen der Krise gründlich analysieren und strategische Vorkehrungen treffen. Wir dürften uns aber nicht in eine »Systemkrise« hineinreden. Die Sinnhaftigkeit von mehr Regulierungen auf internationaler Ebene beurteilt Schäuble skeptisch. Die Förderung der mittelständischen Wirtschaft dürfe nicht vernachlässigt werden.90 Marktakteure seien Risiken eingegangen, die nicht durch ökonomische Substanz aufzufangen waren. Dies sei durch die Missachtung eines Grundsatzes ermöglicht worden, den Schäuble für ein ganz wesentliches Anreizsystem für maßvolles ökonomisches Handeln hält: die Haftung desjenigen, der Risiken eingeht.91 Es sei eine Systembedrohung entstanden, weil die Eigenkapitalquote der Handelnden immer geringer geworden sei und mit kreditfinanzierten Transaktionen immer größere »Hebel« in Bewegung gesetzt worden seien. Aus seiner Sicht sind mehrere Vorkehrungen nötig92:
• Wiederherstellung des Zusammenhangs von Nutzen und Schaden, von Risiko und Haftung durch eine Beschränkung der Weitergabe von Risiken
• Verbesserung der Aufsicht
• Verhinderung von Risiken, die nicht mit einer ausreichenden Kapital deckung unterlegt sind
• Verschärfung des Gesellschaftsrechts und des Strafrechts zur Ab schreckung vor Geschäften zu Lasten Dritter
• Herstellung von Transparenz zur Verhinderung systembedrohender Blasen
• Vermeidung der Verstaatlichung und Zentralisierung nach den Grund sätzen der Subsidiarität
• Dezentralisierung der Bewertung von Risiken
• deutliche Verkürzung aufgeblähter Bilanzen
• Kopplung der Anreize an das Schwanken der Papiere, die über den Mechanismus des Eigeninteresses wesentlich zum Verkauf beitragen
• Begrenzung der Inanspruchnahme des Steuerzahlers an den Kosten der Rettungsmaßnahmen
• Verdeutlichung der Notwendigkeit eines (gemeinwohlbezogenen) Ethos für die Eliten in der Finanzwirtschaft
• Rückbesinnung auf den Daseinszweck des Finanzwesens (effi ziente Kapitalallokation an Unternehmen und Privatpersonen)
• volkswirtschaftlich sinnvolle Risikotransformation von Einlagen zu sinnvollen Krediten
• Aufrechterhaltung eines reibungslosen Geld- und Kapitalverkehrs
• Besinnung auf die dienende (und nicht selbstbedienende) Funktion des Finanzwesens
• Aufrechterhaltung der (öff entlichen) Haushaltsdisziplin
Schäuble hat beobachtet, dass viele Menschen in Deutschland in der Krise erstaunlich gelassen geblieben sind, vielleicht weil sie wüssten, dass es keine schnelle Lösung gibt. Die Chance dieser Krise liege in einem Umdenken, also in der Wiederentdeckung von »Maß und Mitte«. Für ihn als »Christdemokraten« handelt es sich um zentrale Werte für eine freiheitliche Gesellschaft, die nachhaltig leben und wirtschaften und die so auch die Chancen für die kommenden Generationen bewahren will. Schäuble ist auf der Suche nach einer »neuen Kultur der Mäßigung und Verantwortung«. Sobald man sie gefunden hat, geht unsere Gesellschaft nach seiner Einschätzung als Ganzes gestärkt aus der Krise hervor.93
Schon im August 2010 war Schäuble zu der Auffassung gelangt, dass die aktuelle (seinerzeitige) wirtschaftliche Entwicklung Anlass zur Zufriedenheit gebe. Die Krise habe eine gesellschaftliche Bewährungsprobe dargestellt, der Deutschland gewachsen gewesen sei. Die Missachtung des Prinzips klarer Verantwortlichkeiten und Haftungsregeln und damit der Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft hätten in die Krise geführt. Als Beispiele führte Schäuble wieder die staatlichen Anreize zur Ausweitung der privaten Verschuldung in den USA genauso wie die strukturierten Finanzprodukte an, mit denen sich die Banken in aller Welt ihrer Haftung für bestimmte risikoreiche Geschäfte entledigt hätten.94 Er propagiert die Fortsetzung eines »finanzpolitischen Kurses der wachstumsorientierten Konsolidierung«, für den mehrere Randbedingungen gelten sollen:
• keine Verteilungsdebatte wegen fehlender Haushaltsspielräume
• Erforderlichkeit nachhaltiger Konsolidierung
• international koordinierte Ausstiegsstrategie aus übermäßiger Staats verschuldung
• Wahrnehmung der Verantwortung Deutschlands in Europa und der Euro-Zone durch Verankerung der deutschen Stabilitätskultur
• Schaff ung effi zienterer Eingriffsmöglichkeiten gegenüber Staaten, die die Stabilität in Europa gefährden
• regelgebundene und gestufte Überwachung der Haushaltspolitiken
• rasche Wirksamkeit von Sanktion bei geringerem politischem Spiel raum
• Ausschluss des Zugangs zu EU-Mitteln und Aussetzung des Stimmrechts für Länder bei wiederholter Missachtung der Vorgaben zur Reduzierung übermäßiger Haushaltsdefizite
• geordnetes Restrukturierungsverfahren für Mitgliedsstaaten der Eurozone
• europäische und internationale Erledigung der Regulierungsaufgaben
• Verhinderung risikofördernder Managervergütungen
• Verbesserung der Eingriffsbefugnisse der Bankenaufsicht
• Eindämmung spekulativer Exzesse auf den Finanzmärkten durch Risikorückbehalt bei Verbriefungen
• Einführung einer Bankenabgabe und eines intelligenten Regimes zur Reorganisation und Restrukturierung von Banken
• Verbot ungedeckter Leerverkäufe
Die Überlegungen des amtierenden Bundesministers der Finanzen haben das Tröstungspotential einer seelsorgerischen Ansprache. Seine analytischen Ergebnisse sind weder überraschend noch vollständig. Die Gründe für den Ausbruch der Krise sind jedem interessierten Zeitungsleser seit langem bekannt. Dazu zählt auch die in der Politik verbreitete Mischung aus Unfähigkeit und Ehrgeiz. Deren verheerende Folgen stehen nicht gerade im Mittelpunkt der Betrachtungen dieses Berufspolitikers, der sich nach kurzem Zwischenaufenthalt in der Steuerverwaltung seines Heimatlandes Baden-Württemberg seit seinem 30. Lebensjahr ausschließlich auf den Bänken des Deutschen Bundestages und diverser Regierungen mit wechselndem Erfolg beruflich betätigt hat. Seine mit salvatorischen Klauseln angereicherte Sprache verschleiert die ungelösten Interessenskonflikte, die in der gegenwärtigen Weltwirtschaftslage deutlich geworden sind. Predigerhafte Versprechungen und Ankündigungen werden der existentiell bedrohenden Entwicklung nicht gerecht. Die Anteile der internationalen und heimischen Politik an dem desaströsen Verlauf der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung bleiben diff us. Schlagworte ersetzen präzise Lösungsvorschläge. »Glaube, Liebe, Hoff nung« geraten zum Regierungsprogramm und ersetzen entschlossenes Handeln. Formelhafte Berufungen auf vermeintliche Autoritäten verhindern eine kritische Bestandsaufnahme der realen Verhältnisse. Begriffl iche Verkleisterungen erschweren die praxisnahe und sozial gerechte Aufarbeitung einer Katastrophe, die maßgeblich durch das Versagen und die kriminelle Energie angeblicher Leistungseliten, aber auch durch die Gier zahlreicher Wirtschaftssubjekte ausgelöst wurde. Das ist eine brisante Mischung.
DIE ELLENBOGENGESELLSCHAFT DER TOPMANAGER
Insbesondere die Habgier zielt auf eine Exklusivität, die sich früher oder später in eine zerstörende Asozialität verwandelt: »Der Nimmersatt will nicht nur möglichst viel zusammenraffen, er will mehr haben als die anderen, und er will haben, was andere nicht haben. Mit dem defensiven Recht auf Eigentum gibt er sich nicht zufrieden. Eine Gesellschaft der Gier ist geprägt von Furcht, Rivalität und Aggression. Wer den Zugriff der anderen fürchtet, verbirgt seine Wertsachen im Tresor. Wer andere übertreffen will, misst seinen Besitz an fremden Schätzen, jagt seltenen Stücken nach, will als Einziger das Original besitzen. Mehr noch: Er will nicht nur etwas haben, damit andere es nicht haben. Er will auch haben, was die anderen haben. Nicht im Traum denkt er daran, fremdes Eigentum zu respektieren«. Und schließlich: »Die Konkurrenz weicht dem Streit, der Rivale wird zum Feind. Was als Besitzlust begann, endet im Kampf ums Dasein.«95
Der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith war der Auffassung, dass die »Topmanager« die einzigen seien, die die »Ellenbogengesellschaft« wirklich verstünden, denn sie hätten diese schließlich erfunden. Das war seine Antwort auf die Frage, warum Manager so viel Macht, so viele Privilegien, so viel Geld akkumulieren können. In der Tat gibt es keine andere Gruppe in der Gesellschaft, die so viele Vorrechte, eine so umfassende Herrschaft unter so geringer Kontrolle mit so wenig Legitimation ausübt wie die Manager. Sie müssen sich nicht wählen lassen wie ihre Gegenspieler in den Unternehmen, Betriebsräte und Gewerkschaftsbosse, sie müssen nicht wie die Regierenden und die Parlamentarier bei Wahlen um ihre Posten bangen. Manager müssen nur Manager kennen, mit denen sie in Vorständen und Aufsichtsräten zusammensitzen, und sich dann gegenseitig zu Topmanagern befördern.96
Der in Wolkenkuckucksheimen und Topetagen übliche Wohnkomfort fördert nicht die Bereitschaft, sich mit der »Systemfrage« zu beschäftigen. Schon ihre Existenz wird nicht anerkannt. Die Welt schien tatsächlich nur um einen Millimeter dem Abgrund einer wirtschaftlichen Kernexplosion entgangen zu sein. Dennoch ist sie direkt in die verheerendste aller Systemkrisen gestürzt. Es gibt weitere bedrohliche Ankündigungen: Die »Apokalypse« sei noch lange nicht vorbei. Die Krise habe sich in eine globale Rezession verwandelt. Es drohe Deflation. Der Kapitalismus sei vielleicht noch nicht am Ende.97 Die Krise markiere aber das Ende der deregulierten Wirtschaft und damit das Ende einer ganzen Ära, das heißt des Ultra liberalismus, des mafiosen Kapitalismus und der Globalisierung der Finanzmärkte, deren Opfer in den Industrieländern mehrheitlich der Mittelstand und die Arbeitnehmer seien. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass der Staat sie im Stich lässt, während er gleichzeitig schuldige Banker rettet und diese zudem mit skandalösen vergoldeten Rettungsschirmen geradezu belohnt.
Deshalb stellt sich die Frage, ob es ein Zufall war, dass die Jugend in Griechenland unter dem Schlachtruf »Kugeln für die Jungen, Geld für die Banken« auf die Straßen ging, um gegen den Tod eines jungen Mannes zu protestieren, der am 6. Dezember 2008 von Polizisten erschossen wurde. Die zornigen jungen Griechen hätten gezeigt, dass sie vom herrschenden Wirtschafts- und Sozialmodell die Nase gestrichen voll haben. Sie wollten nicht mehr zusehen, wie ihr Leben ausgeplündert wird. Wie aber kann man verhindern, dass sich vergleichbare Unruhen auch in anderen Ländern ereignen, da dieses Gesellschaftsmodell auch überall sonst in der EU vorherrscht? Es kursieren beunruhigende Antworten: Man solle die »Diebe der Wall Street« lynchen, die Asylbewerber zurückschicken, die uns unsere Jobs wegnehmen, die multinationalen Konzerne stoppen, die unsere Arbeitsplätze nach Indien verlagern, und die Reichen zur Verantwortung ziehen, die nicht genug Steuern zahlen. Die Krise werde lange anhalten und ungeheures soziales Leid hervorrufen. Man möge von dem Schock profitieren, um endlich das internationale Wirtschaftssystem sowie das ungerechte und überholte Entwicklungsmodell zu ändern.98
Solche Gedanken passen natürlich nicht zur Behaglichkeit eines christdemokratischen Welterklärungsmodells deutscher Provenienz. Es geht nicht darum, mit Hilfe einer Art Checkliste gleich ein ganz neues Wirtschaftssystem zu gründen, obschon erste Schritte leicht zu benennen wären:
• verbesserte Kontrolle der Banken
• enge Grenzen für den Derivatehandel
• Bekämpfung der »Steuerparadiese«
• Überwachung der Vergütungen der »trader«
• Abschaffung übertriebener Boni
• Reform der großen Ratingagenturen
• Regulierung spekulativer Fonds
• Veränderung der Buchungsnormen
• Begrenzung der Bündelung von Krediten zu Derivaten
• Verbot von Hedge-Fonds
• Steigerung öff entlicher Ausgaben
Es wäre vielleicht schon ausreichend, in den Köpfen mancher Amtsträger intellektuelle Sperren zu beseitigen. Sie könnten dann erkennen, dass die gegenwärtige Krise allein durch ihr Ausmaß und ihre Intensität die Gelegenheit bietet, die geoökonomische und die geopolitische Architektur der Welt endlich zu verändern.99 Die Wahrscheinlichkeit, dass der deutsche Finanzminister dies sogar zu seinen Amtspflichten rechnen könnte, ist jedoch angesichts seiner zitierten Bemerkungen äußerst gering. Seine Sprache ist auch in diesem Zusammenhang verräterisch. Den damit verbundenen analytischen Herausforderungen nachzugehen wäre sinnvoller, als sich mit psychoanalytischen Spekulationen zu beschäftigen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass »das Dienen« des Wolfgang Schäuble etwas Protestantisches habe. Diese Mentalität des Dienens, des Verzichtens und Sparens sei vom aggressiven Hedonismus des Kapitalismus auf Pump, der Schäuble so zuwider sei, ganz weit weg. Schäuble verkörpere das, was der Finanzmarkt, die Wirtschaft und deren Protagonisten noch lernen sollten: Entsagung.100
Zurück zu realitätsnäheren Ansätzen: Die »Erpressungsfalle« funktionierte bis jetzt perfekt. Langfristig wirksame Regeln, etwa zur Kreditvergabe und zur Eigenkapitalausstattung involvierter Banken zeichnen sich nicht in der wünschenswerten Klarheit ab. Eines ist aber deutlich geworden: Die Lobbyisten der Finanzwirtschaft haben verstanden, dass sich nicht nur existentielle Bedrohungen stellen, sondern trotz und wegen der Krise weitere und neue lukrative Gewinnmöglichkeiten eröffnen. In dieses paradox anmutende Dilemma ist die Weltwirtschaft hineingeschlittert, weil sich auf dem Humus politischer Nachlässigkeit, fachlichen Unverstands und Gier eine Systemkriminalität entwickelt hat, der man mit ordnungspolitischen Mitteln und mit den gegenwärtigen Sanktionsmöglichkeiten des konventionellen Strafrechts nicht mehr Herr werden kann. Manche empfinden die Zukunftsaussichten als entsprechend bedrohlich: Die Weltwirtschaft tickt längst nicht wieder synchron. Am Ende steht sogar das Szenario einer neuen Megablase, geschaffen durch entfesselte Banken, die mit Billiggeld der Zentralbanken weltweit Kurse und Preise explodieren lassen. Damit steigt die Inflationsgefahr, die ohnehin aus den USA droht, noch weiter an. Nicht nur die deutsche Bundesregierung wird deshalb über Jahre wahre Jonglierkunststücke zwischen Wachstums- und Gefahrenabwehrpolitik erbringen müssen.101
Immerhin gibt es in der Wissenschaft mittlerweile interessante Bemühungen, die Entwicklung der Blasen besser zu verstehen. Daran sind die Volkswirtschaftswissenschaftler bekanntlich seit vielen Jahren gescheitert. Das ist umso bedauerlicher, wenn die These richtig ist, dass es der Wirtschaft insgesamt besser ginge, könnte man Blasen vermeiden. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen Preise – etwa für Aktien oder andere Wertpapiere – weit über das wirtschaftlich gerechtfertigte Maß steigen. In solchen Situationen fließt viel Geld an die falsche Stelle. Die Erkennbarkeit von Blasen ist aber nach wie vor umstritten. Es herrscht allgemeine Unklarheit darüber, welcher Kurs für Wertpapiere gerechtfertigt wäre.
In jüngerer Zeit wird die Entstehung von Blasen sogar mit physikalischen Methoden untersucht. Dazu analysiert man die Kurse der Wertpapiere aus früheren Blasen, um daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen – und vergleicht die Kursentwicklungen mit Naturphänomen, zum Beispiel mit epileptischen Anfällen oder mit Druckwellen von Erdbeben. In diesem Zusammenhang soll ein charakteristisches Muster auftreten. Eine Blase soll dann entstehen, wenn die Kurse überexponentiell ansteigen, also wenn sie um immer höhere Prozentsätze wachsen. Mit einem Modell soll gezeigt werden können, wann die Kurse ihren Höhepunkt erreichen. Kurz vorher schwankten die Anleger nämlich immer wieder zwischen Gier und Angst hin und her. Dann bewegten sich die Kurse in einem Muster, das auch andere chaotische Prozesse in der Physik zeigen. Auch hochentwickelte mathematische Ansätze sind in diesem Umfeld nicht immer zuverlässig.
Der an der Universität Zürich forschende Ökonom Didier Sornette hatte beispielsweise sowohl 2002 als auch 2003 einen Aktiencrash für das folgende Jahr prophezeit. Doch die Aktienkurse stiegen in beiden Jahren. Dies wird damit erklärt, dass die amerikanische Notenbank viel Liquidität auf den Märkten geschaffen hatte, ein Umstand, der hohe Kursgewinne ermöglichte. Dieser Effekt war in den Annahmen zuvor nicht berücksichtigt worden. In anderen Bereichen (etwa amerikanischer Immobilienmarkt, Ölmarkt, chinesischer Aktienindex Shanghai Composite) erwiesen sich die Voraussagen von Sornette als zutreffend. Er will mit seinen Prognosen zukünftig jedenfalls besser sein als der Zufall.
Andere Wirtschaftsphysiker bleiben skeptisch. Sie halten zwar die Idee, dass sich ein Zyklus aus Gier und Angst bildet, der eine Blase gebiert, für einleuchtend. Man glaubt dennoch nicht, dass diese Erkenntnisse für eine Blasenprognose reichen. Gegenwärtig sei nicht untermauert, dass sich Menschen genauso verhalten, wie es in den von Sornette verwandten Modellen der Geophysik beschrieben ist. Es gebe auch keine psychologische Erklärung, die diese Modelle stützen würde. Im übrigen sei es oft schwer, die Entscheidungsfreiheit von Menschen in wirtschaftsphysikalischen Modellen zu berücksichtigen. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die von Sornette begonnenen »Finanzblasen-Experimente« wirklich zu nachhaltig aussagekräftigen Ergebnissen führen können.102
MASCHINENHERRSCHAFT AUF DEN FINANZMÄRKTEN
Zu ganz besonderen Problemen hat die Automatisierung internationaler Finanztransaktionen geführt. Der 6. Mai 2010, ein Donnerstag, dürfte mindestens den Aktienhändlern an der Wall Street in New York einige Zeit im Gedächtnis bleiben. Innerhalb von Minuten fiel der Dow Jones um fast 1000 Punkte und verlor damit mehr als neun Prozent. Es war der höchste Punktverlust während des Handels an einem Tag. Normalerweise wenig schwankungsanfällige Aktien (zum Beispiel Procter & Gamble) sackten innerhalb von Minuten um 37 Prozent ab. Einige Titel wurden ebenfalls innerhalb weniger Minuten praktisch wertlos, ehe sie sich etwas erholten. Die Kurse amerikanischer Aktien hatten an diesem Tag zwar ohnehin schon vor dem Absturz unter Druck gestanden. Der genaue Grund für die ungewöhnlichen Schwankungen blieb aber zunächst unbekannt. Es kam allerdings früh der Verdacht auf, dass ein Händler der Bank Citigroup bei einem Auftrag für ein Termingeschäft statt 16 Millionen US-Dollar den Betrag von 16 Milliarden US-Dollar eingetippt hatte. Das reichte möglicherweise aus, um computergestützte Verkaufsprogramme auszulösen.
Diese Erklärung galt aber nach sehr kurzer Zeit als falsch. Es bleibt abzuwarten, ob die von der Börsenaufsicht SEC und der Wertpapierbehörde CFTC (Commodity Futures Trading Commission) sofort eingeleiteten Ermittlungen jemals den wirklichen Grund herausfinden werden. Als wahrscheinlich gilt, dass die ultraschnellen Handelscomputer von Banken und Investmentfirmen eine erhebliche Rolle bei dem Absturz spielten. Deren Großrechner sind so programmiert, dass sie auf »Stresssignale« reagieren. Am fraglichen Donnerstag hatten die Systeme einen massiven Wertverlust des Euro gegenüber dem Yen registriert. Dies werteten sie als Indikator dafür, dass Investoren riskante Handelspositionen auflösten. Schlagartig gaben die Computer Millionen von Verkaufsordern ab. Als dann die Kurse unerwartet heftig einbrachen, schalteten sich einige Rechner aus – als Vorsichtsmaßnahme. Dadurch schrumpfte aber das Handelsvolumen noch am gleichen Tag. Es fanden sich praktisch keine Käufer mehr.
Die Situation wurde noch dadurch verschärft, dass die Computer während einer Aussetzung für einzelne Aktien an der New Yorker Börse (NYSE/New York Stock Exchange) auf andere Handelsplattformen auswichen.103 Es verbreitete sich jedenfalls der Eindruck, dass die Maschinen die Kontrolle übernommen hatten. Der Markt zeigte jedenfalls plötzlich die gleiche Volatilität wie im Herbst 2008. Es gab sogar ein parlamentarisches Nachspiel. Nach der Auff assung des Vorsitzenden des zuständigen Unterausschusses des Repräsentantenhauses kann man es sich nicht erlauben, dass technische Fehler die Märkte erschrecken und Panik auslösen.
Mittlerweile wird auch in Frankfurt am Main fast die Hälfte der Handelsgeschäfte von »Algo-Tradern« generiert. Das sind Handelshäuser, die Computer so programmiert haben, dass sie bei bestimmten Handelssignalen Aktien automatisch kaufen und oft binnen weniger Sekunden wieder verkaufen. Die Deutsche Börse hat jedoch bei jedem einzelnen Wert die Möglichkeit der Volatilitätsunterbrechung. An der NYSE werden zwei Drittel aller Aufträge für den Wertpapierhandel von Computern eingeleitet und automatisch mit anderen Computern ausgeführt. Es wird nach technischen Analysen gehandelt. Die Spekulation findet durch mathematische Formeln statt. Das Ergebnis des seit einiger Zeit andauernden technologischen Wettrüstens ist, dass wenige Broker dank ausgeklügelter Algorithmen binnen eines Wimpernschlags Millionen von Kauf- und Verkaufsorders automatisch erfassen, kleinste Preisdifferenzen analysieren und eigene Positionen mit satten Gewinnen neu justieren, bevor einfache Händler und Investoren auch nur eine Ahnung von neuen Trends im neuen Markt haben. Mehr als die Hälfte des Wertpapierhandels sollen von wenigen dieser Broker gemacht werden. Dieser Hochfrequenzhandel geht über wirtschaftlich gesunde Effekte von Börsenspekulationen hinaus. Er beschneidet die Funktion der Aktienmärkte als Allokationsplatz des Kapitals und begründet Zweifel am Primat des Menschen im Verhältnis zur Maschine.104
An der Wall Street ist schon vom »Rise of the Machines« die Rede, also dem Aufstieg der Maschinen, mit deren Hilfe übrigens of ein Dutzend Finanzmärkte gleichzeitig nach Anomalien durchstöbert werden, dressiert auf Ineffizienzen und winzige Handelsschwankungen, ausgestattet mit der Macht, eigenständig zu kaufen und zu verkaufen. Eingesetzt werden sie oft von Firmen, die bei der Finanzaufsicht gar nicht registriert sind. Die Hochgeschwindigkeitshändler verwandeln die Finanzmärkte vollends in ein Hightech-Kasino. Es ist pure Mathematik, gepaart mit Tempo. Der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Michel Barnier, hat im September 2010 angekündigt, dass er den Hochgeschwindigkeitshandel sehr genau unter die Lupe nehmen werde. Es bleibt abzuwarten, was er dann sehen wird.105
Die Fülle der hochkomplexen Informationen, die in immer kürzer werdenden Zeitabständen zu verarbeiten sind, erzwingt jedenfalls eine permanente elektronische Aufrüstung. Eine Vielzahl unterschiedlichster Situationen bedarf ständiger Beobachtung und Beurteilung. Das ist eigentlich die Aufgabe der »Investoren«. Die Frage ist nur, ob man diese Gestalten identifizieren und dingfest machen kann oder ob sie unerkennbar hinter ganzen Batterien von Computern verschwinden. Man sollte sie zwar nicht einfach zu Ganoven stempeln. Sie taugen aber auch nicht zum smarten Helden unserer Zeit. Es besteht kein Anlass, sie als »Meister des Universums« zu feiern, die das kapitalistische System mit Hilfe perfekter Automaten für sich ausnutzen.
Indessen drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass sie in einer Welt leben, in der die moralische Güte von Entscheidungen kein Kriterium ist. Sie scheinen amoralisch zu handeln und nur der Logik des System zu folgen, dessen Hebel sie kühl bedienen.106 Man analysiert das menschliche Verhalten und nimmt den Menschen, wie er ist oder wie man ihn sich vorstellt: ungeduldig, undiszipliniert, subjektiv, gierig, arrogant und immer wieder ziemlich realitätsblind. Den besten Hedge-Fonds gelingt es wohl immer wieder, diese Eigenschaften in die binäre Sprache der Computer zu übersetzen. Man hat die Hoffnung, aus einer unfassbaren Datenfülle Muster ableiten zu können, wiederkehrende Verläufe, Wahrscheinlichkeiten künftiger Entwicklungen, Strukturen des menschlichen Herdentriebs. Ziel ist die Übersetzung von Hoffnung und Angst, Gier und Vorsicht in Zahlen. Die Geschäfte der Hedge-Fonds werden fast zu 95 Prozent vollautomatisiert abgewickelt. Bei bestimmten Konstellationen wird die Maschine von selbst aktiv. Sie kauft oder verkauft Positionen unabhängig davon, was Politiker beschließen oder Kommentatoren schreiben. In dieser Umgebung sind Menschen nur noch dazu da, die Rechner auf dem neuesten Stand zu halten, ihre Software zu pflegen, die Algorithmen zu justieren und Programmfehler zu eliminieren.107 In der Hauptsache geht es um die Zukunft (»Futures«), Termingeschäfte, die sich jedes Jahr völlig unterschiedlich entwickeln.
Im Vergleich zu früheren Zeiten gibt es also mindestens zwei markante Veränderungen. Es handelt sich zum ersten um die Automatisierung und den immensen Fortschritt der Finanzmathematik und zum zweiten um die Abkopplung der Geld- und Geldtermingeschäfte von realwirtschaftlichen Vorgängen. Millionenbeträge werden nicht mehr gekauft und verkauft, weil man bestimmte Währungseinheiten braucht, sondern weil man im Sekundentakt (»pips«) Kursgewinne weit hinter dem Komma erzielen möchte. Wertpapiere werden nicht erworben, weil jemand an eine bestimmte Firma glaubt oder auf Rendite hofft. Transaktionen finden statt, weil man die Aktien gegen Gebühr an Kunden ausleihen kann, die auf den Niedergang ihres Wertes spekulieren wollen (»short selling«). Die Abwicklung substantiell sinnloser Geschäfte ist Prinzip. Es geht ausschließlich um Geldvermehrung, indem man selbiges von einem Ort zu anderen verbringt (»carry trades«). Auf dem internationalen Währungsmarkt werden täglich für mehr als 3500 Milliarden US-Dollar Devisen umgesetzt. Die meisten Geschäfte finden im Wechselspiel zwischen US-Dollar und Euro statt. Kein einzelner Investor, auch keine Gruppe von Investoren, schon gar kein Hedge-Fonds hätte genug Kapital zur Verfügung, um diesen Markt nennenswert zu bewegen. Ähnliches gilt für die Geschäfte mit Staatsanleihen, das heutzutage meistgenutzte »Instrument« der Finanzwelt. In den USA, dem größten Anleihemarkt der Welt, werden an einem normalen Handelstag Staatsschulden im Wert von mehr als 400 Milliarden US-Dollar gekauft und verkauft. Durch den gesamten Weltmarkt wandern staatliche Verbindlichkeiten von (geschätzt) 40 000 Milliarden US-Dollar.108
Das Finanzsystem gilt manch einem erfahrenen Bankmanager jenseits dieser Größenordnungen und dem Phänomen der Elektronifizierung und Automatisierung mittlerweile als Sackgasse, in der sich ein Schneeballsystem ungeheuren Ausmaßes etabliert hat. Insbesondere der Handel mit Kreditausfallversicherungen zeigt, dass Computer sich heutzutage in Gelddruckmaschinen verwandelt haben und die Banken sogar eine Lizenz zum Gelddrucken besitzen. Zahlt ein Kleinanleger 100 Euro auf seiner Bank ein, hat sie 100 Euro mehr, die sie verleihen kann. Aus diesem Betrag werden mühelos 500 Euro oder mehr. Davon werden mindestens 100 Euro am nächsten Bilanztag als Reingewinn in den Büchern der Bank stehen. Die Bank hat die 100 Euro als Sicherheit für den Verleih von 500 Euro genommen. Für diesen Betrag schließt sie einen Kreditausfallvertrag (CDS/Credit Default Swap) ab, obwohl sie keinen Hinweis darauf hat, dass der Schuldner insolvent werden könnte. Sie hat tatsächlich auch kein Sicherungsinteresse. Mit Hilfe der CDS will sie nur ihre Bilanz »aufhübschen«. Mit dem Kauf der Ausfallversicherung verschwindet der 500-Euro-Kredit zwar nicht aus ihren Büchern. Er ist aber »gehedgt« und damit – buchhalterisch – getilgt. Im Ernstfall würde ja die Versicherung einstehen und nicht die Bank. Daher könnte sie mit den 100 Euro des Kleinanlegers als Sicherheit gleich wieder einen neuen Kredit vergeben und wieder eine Versicherung auf ihn abschließen. Und so weiter. Und so weiter.109
Investoren denken über die Sinnhaftigkeit derartiger Strukturen und Geschäfte meistens nicht nach. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, mit naturwissenschaftlichen Methoden menschliche Schwächen auszunutzen. Dem Kasino- und dem Turbokapitalismus ist der Technokapitalismus gefolgt, in dem das Prinzip persönlicher Verantwortung funktionslos geworden ist. Dabei denkt jeder, er folge dem Rationalitätspostulat. Dessen Erfüllung geschieht allerdings nur dadurch, dass man sich in ein System integriert, das von Computern überwacht wird: Die Maschinen haben den Markt übernommen. Algo-Trader verstärken jedenfalls in Krisensitua tionen den Herdentrieb. Computerprogramme können aktuellste Börsennachrichten automatisch auswerten und binnen Sekundenbruchteilen in Wertpapierkäufe umsetzen. Die damit verbundenen Gefahren sind evident. In den USA hat eine Debatte über ein Verbot des »Blitz-Trading« begonnen.110
Sie müsste auch das Gebaren von Hedge-Fonds berücksichtigen. Dort arbeiten Menschen, die eine ganze Reihe höchst anspruchsvoller Voraussetzungen erfüllen. Sie sind in Mathematik, Physik, Ingenieurswissenschaften oder Ökonometrie promoviert, verfügen über mehrjährige Erfahrungen bei einem führenden Hedge-Fonds oder einer Bank, weisen hochkarätiges Fachwissen in Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Algorithmen-Handel, Aktienderivaten, Stochastik, implizierter Volatilität, Korrelationen, Verteilungen und beherrschen Programmierung in Java, Matlab, SAS, SQL, C++ und weitere. Natürlich sind sie auch exzellente Teamplayer und hervorragende Kommunikatoren. Diese Experten betreiben vor allem quantitative Analysen, die der Grundidee folgen, dass sich Aktienkurse aus dem Zusammenspiel einer Unzahl von makro- und mikroökonomischen Daten bilden. Mit Computermodellen will man historische Daten analysieren, um Korrelationen zwischen Daten zu finden, die mit relativ hoher Sicherheit die nächste Bewegung des Aktienkurses voraussagen lassen.
Untersuchungsgegenstände sind potentielle Abhängigkeiten zwischen vielen Größen und Faktoren (Gewinn, Wachstum, Buchwert, Eigenkapitalrendite, Bilanzwerte, Handelsvolumen, Liquidität und vieles mehr. Damit sollen zum Beispiel Aktiengruppen (»cluster«) herausgefiltert werden, bei denen bestimmte Datenkorrelationen Preisbewegungen vorhersagen lassen. Können die entdeckten Korrelationen und Ineffi zienzen am Markt mit extrem kurzfristiger Arbitrage ausgenutzt werden, dann findet »High-Frequency-Trade« statt, der in Bruchteilen von Sekunden stattfindet. Die rein quantitativ orientierten Fonds achten darauf, dass sich ihre Kauf- und Verkaufspositionen ausgleichen, ihre Gesamtposition also möglichst »marktneutral« ist. Darüber hinaus nutzen sie einen Fremdkapitalhebel (Leverage), um den Erfolg ihrer Strategie zu maximieren. Dies alles kann natürlich nur so lange funktionieren, wie die historisch vom Computer entdeckten Korrelationen weiterbestehen.
Genau das ist in extremen Schock- und Krisensituationen jedoch nicht mehr der Fall. Deshalb gab es im August 2007 ein böses Erwachen. Damals kündigte sich in der Nervosität um den amerikanischen Immobilienmarkt die erste Verkaufswelle an den Aktienmärkten und damit die Krise an den Finanzmärkten an. Die bisherigen Korrelationen waren auf einmal bedeutungslos geworden, und es war mit der Vorhersagefähigkeit der Computerbatterien vorbei. Die zuvor berechneten Hedge-Strategien gingen nicht mehr oder liefen sogar gegen die Fonds. Und die Verluste potenzierten sich wegen ihres hohen Leverage. Das war aber erst der Beginn des Desasters. Die Investoren gerieten bald in Panik und zogen Kapital von den Hedge-Fonds ab. Immer mehr Marktpositionen mussten aufgelöst werden, der Teufelskreis drehte sich immer schneller. Die ausschließlich quantitativ orientierten Fonds hatten in der Regel in hochliquide Aktien investiert und wurden deshalb von der Panik des Gesamtmarktes auch am härtesten getroffen. Zahlreiche dieser Fonds bluteten regelrecht aus, allen voran das Paradepferd von Goldman Sachs, der »Global Equity Opportunities Fund«, der auf dem Höhepunkt seiner Popularität sieben Milliarden US-Dollar verwaltete und im August 2007 den dramatischen Verlust von fast einem Viertel seines Kapitals und anschließend einen stetigen Abfluss seiner Mittel verkraften musste. Trotz Unterstützungsleistungen von Goldman Sachs in Höhe von zwei Milliarden Pfund erholte sich dieser hausinterne Fonds nicht mehr. Ende 2009 war das Kapital auf 200 Millionen US-Dollar zusammengeschmolzen, und Goldman Sachs schloss das Anlagevehikel. Der Vorsitzende der »Quant-Strategie« von Goldman Sachs, Robert Litterman, ging im Januar 2010 in den Ruhestand.
Andere Fonds folgten dem Niedergang in der Finanzkrise. Mittlerweile hat sich die Branche etwas erholt, und die Forschungen an quantitativen Computermodellen gehen munter weiter. Der »High-Frequency-Trade« spielt an der Börse wieder hohe Kommissionen ein. Die entsprechenden Transaktionen machen an der Londoner Börse circa 30 Prozent des Umsatzes aus, die von 30 bis 40 Adressen getätigt werden. Je schneller und technisch perfekter die Handelsplattformen der Börsen sind, desto effizienter und gewinnbringender sind diese Transaktionen. Das neue Londoner Handelssystem »Turquoise« braucht für eine Transaktion nur noch 126 Mikrosekunden. Damit ist es (derzeit) das schnellste System der Welt.111
In diesem System ist kein Mensch mehr haftbar, niemand mehr schuld daran, dass die Welt seit zwei Jahrzehnten von einer Staatskrise nach der anderen erschüttert wird. Damit ist auch die Frage aufgeworfen, wofür Politik überhaupt noch gut sein kann, wenn es um die Finanzmärkte geht. Alle Versprechungen für eine Remedur sind bis jetzt wirkungslos geblieben. Die Wirkungslosigkeit vieler Vorschriften rührt übrigens unter anderem daher, dass die Politik der Finanzwelt erlaubt, die sie betreff enden Regeln selbst zu formulieren. Wirkliche Veränderungen müssten dadurch eingeleitet werden, dass die Politik den Banken ans Geld geht, indem sie sicherheitsrelevante Vorschriften zur Eigenkapitalausstattung erlässt und deren Einhaltung rigoros überwacht und Verletzungen entschlossen sanktioniert. Das gilt auch im Hinblick auf das Geldverleihgeschäft. Ohne derartige Maßnahmen, die für sich natürlich noch lange nicht reichen, bleibt alle Politik bloßes »Gefuchtel«.112
Unabhängig von physikalischen Ansätzen und dem Stand der Technologie bestehen indessen massive Zweifel an der ordnungspolitischen Akzeptanz des deutschen Managements der Finanzkrise. Die zahlreichen Fälle staatlicher Bankenrettungen in den Jahren 2008 und 2009 werfen Grundsatzfragen nach dem Verhältnis von Staat und Banken auf. In Deutschland und anderen Ländern hat der Staat die Banken mit kurzfristigen Garantien und Liquiditätshilfen, durch Bilanzierungserleichterungen und staatliche Kapitalzuführungen im Gesamtumfang eines dreistelligen Milliardenbetrages gestützt. Bei der Commerzbank belief sich der Staatsanteil am Eigenkapital im Februar 2010 auf 25 Prozent plus eine Aktie. Aus den Rettungsaktionen könnte man mindestes drei grundlegende Lehren ziehen:
• Eine Revision des Insolvenzrechts dient dem Ziel, auch bei systemisch relevanten Finanzinstituten anfallende Verluste verursachungsgerecht zu privatisieren.
• Ein staatliches »Bankenhospital« soll eine kurzfristige Rettung von Banken und insbesondere eine Sonderbehandlung ihrer systemisch bedeutsamen Forderungen und Verbindlichkeiten ermöglichen, ohne die Gesellschafter (Aktionäre) und Gläubiger der betroffenen Banken von ihrer Mithaftung zu befreien.
• Die Haftung der Kapitalgeber verhält sich gegenläufig zu ihrem Ranganspruch (Seniorität), beginnt also bei den Gesellschaftern und endet bei den Einlegern, soweit sie nicht durch Einlagensicherungsfonds geschützt werden.
Mit ihrer Umsetzung könnte die vorrangige Verantwortung der Kapitalgeber als grundlegende Spielregel der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung endlich wieder in Kraft gesetzt werden. Leitgedanke könnte es sein, Subventionen nur insoweit zu leisten, wie es für die Funktionsfähigkeit des Bankensystems erforderlich ist. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Kategorie »systemisches Risiko«. Es entsteht, wenn zahlreiche Banken ähnliche, wertmäßig hoch korrelierte Portfolios halten und intensiv miteinander handeln. Für dieses aus dem Interbankenhandel resul tierende Risiko gibt es allerdings bisher weder eine verlässliche Messtechnik noch ein Frühwarnsystem oder gar eine Politikempfehlung. Das systemische Risiko wird durch die Verpflichtung des Staates verschärft, die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems um beinahe jeden Preis zu vertei digen. Daraus folgt ein moralisches Risiko. Banken können auf die staat liche Notfallhilfe bauen. Sie müssen nicht mehr selbstverantwortlich für Extremfälle vorsorgen.
Dennoch muss staatliche Sicherung systemisch bedeutsamer Finanzbeziehungen nicht notwendig bedeuten, dass insolvente Institute am Leben erhalten werden. Eine erstrangige Haftung trifft die Gesellschafter. Neben einer Reorganisation des Unternehmens kommt insbesondere eine Beteiligungsfinanzierung in Betracht. Üben sie diese Option nicht aus, lohnt es sich anscheinend nicht. Damit geben die Gesellschafter ihre Rechte weitgehend auf. Dieses gesetzlich verankerte Insolvenzmodell passt ordnungspolitisch in eine Marktwirtschaft. Sein Nutzen wird aber durch die geschilderte Entwicklung beeinträchtigt. In jedem Fall sollen temporäre Verstaatlichung von Banken und vorübergehende »Hospitalisierung«, die sowohl zur Gesundung als auch zur Liquidation führen können, den Konflikt zwischen privater Verantwortung und Sicherung der Finanzstabilität entschärfen, indem sie das Vertrauen in die Finanzstabilität festigen und die Steuerzahler möglichst wenig belasten.113
Wenn eine Großbank in eine Schieflage gerät, soll der Staat zukünftig die systemrelevanten Teile abspalten können – auch gegen den Willen des Geldinstituts. Dadurch will das Bundesministerium der Justiz sie gegen die Folgen einer Insolvenz abschotten. Die Kosten für die Bewältigung solcher Schieflagen könnte der Staat aber grundsätzlich nicht tragen. Hier sind vor allem die Eigentümer gefordert. Der Widerstand privater Akteure gegen eine Restrukturierung soll durch eine hoheitliche Anordnung überwunden werden können. Dahinter stehen offensichtlich die Erfahrungen mit dem amerikanischen Finanzinvestor Christopher Flowers, den die seinerzeit amtierende Bundesregierung enteignen wollte, um die HRE aufzufangen.
Standen die Banken nach der Lehman-Pleite im Jahre 2008 kurz vor einer »Kernschmelze«114, sah die Lage dank der enormen Finanzhilfen der Staaten und Notenbanken ein Jahr später anders aus. Die internationalen Großbanken meldeten nicht mehr Milliardenverluste, sondern Milliardengewinne. Man konstatierte gerade im Bereich des Investmentbanking einen beachtlichen »Swing«. Nachdem die Banken im vierten Quartal 2008 ihre toxischen Wertpapiere abschreiben mussten, verdienten sie im gesamten Folgejahr wieder prächtig, besonders mit der Herausgabe und dem Handel von Anleihen, mit denen sich Staaten und Unternehmen in der Krise finanzierten. Die Starken sind durch die Finanzkrise noch stärker geworden und die Schwachen noch schwächer.115 Die entscheidende Frage ist, ob die Lösung der Krise nur gelungen ist, indem man die nächste vorbereitet hat. Der Preis für die Bankenrettung ist off ensichtlich eine enorme und höchstgefährliche Staatsverschuldung.