Читать книгу Anders - Die tote Stadt (Anders, Bd. 1) - Wolfgang Hohlbein - Страница 6

2

Оглавление

Sie brauchten keine sechs, sondern nicht einmal fünf Minuten, um den abseits gelegenen Sportflughafen zu erreichen. Streng genommen verdiente er diesen Namen nicht einmal. Die unsauber asphaltierte Piste war wenig mehr als ein Feldweg, auf dem Anders allerhöchstens einen Drachen hätte steigen lassen, ganz bestimmt kein Flugzeug und das Gebilde, das sich Tower schimpfte, sah aus wie eine Bretterbude auf Stelzen. In dem einzigen Hangar (einer rostigen Wellblechhütte) hatte Anders noch niemals ein anderes Flugzeug gesehen als die viersitzige Cessna, die der Firma seines Vaters gehörte; und wenn er es recht bedachte, dann hatte er eigentlich auf dem gesamten Flughafen noch niemals ein anderes Flugzeug gesehen. Ein- oder zweimal hatte er sogar schon geargwöhnt, dass der gesamte Flughafen seinem Vater gehörte und keine andere Daseinsberechtigung hatte als die ein oder zwei Starts und Landungen im Jahr, wenn Jannik ihn in die Ferien flog und zurückbrachte.

Aber da er Janniks Art kannte, auf Fragen zu antworten, die er nicht beantworten wollte, hatte er gleich darauf verzichtet, sie überhaupt zu stellen …

Der rot-weiß gestreifte Schlagbaum, der die Zufahrt zum Flugplatz begrenzte, ging hoch, und anders als sonst steuerte Jannik nicht zuerst den Tower an, um die notwendigen Formalitäten zu erledigen, sondern lenkte den Jeep direkt in den Hangar, in dem die blau-weiß lackierte Cessna mit dem Firmenemblem der Beron Industries auf sie wartete. Anders wollte aussteigen, aber Jannik bedeutete ihm mit einer raschen befehlenden Geste, sitzen zu bleiben, war mit einem Satz aus dem Wagen und griff unter seinen Pullover. Anders’ Augen wurden groß, als er die verchromte Pistole sah, die plötzlich in seiner Hand erschien.

Rasch, aber sehr gründlich durchsuchte Jannik den gesamten Hangar. Er wirkte erleichtert, als er zurückkam und Anders mit einer Geste aufforderte, nun ebenfalls auszusteigen, aber nicht so erleichtert, wie es Anders lieb gewesen wäre.

»So viel zu deiner Behauptung, dass alles wie immer ist, wie?«, fragte Anders spöttisch.

Jannik machte eine ärgerliche Geste. »Komm jetzt.«

Anders rührte sich nicht, sondern schwang nur seinen Rucksack über die Schulter. »Meinst du nicht, dass es Zeit wäre, mir reinen Wein einzuschenken?«, fragte er. »Was ist hier los?«

»Später«, antwortete Jannik. Sein Blick wanderte unstet durch den Raum. Wäre die Vorstellung nicht einfach grotesk gewesen, hätte Anders geschworen, dass er Angst hatte. »Es gab … ein paar Drohungen. Ich erzähle dir alles, sobald wir auf dreitausend Fuß Höhe sind, aber jetzt steig bitte in die Maschine.«

Irgendetwas war in seiner Stimme, das Anders klar machte, wie ernst die Situation war. Er warf noch einen raschen, nun ebenfalls nervösen Blick in die Runde, doch dann beeilte er sich, die viersitzige Sportmaschine anzusteuern und die Tür auf der rechten Seite zu öffnen. Er warf seinen Rucksack schwungvoll auf die hintere Sitzbank und kletterte aus der gleichen Bewegung heraus auf den Sitz des Copiloten, und als er hinterher über diesen Augenblick nachdachte (was er unzählige Male tat), da wurde ihm klar, dass er es durchaus hätte merken können. Genau genommen merkte er es sogar, denn das Geräusch, mit dem seine Habseligkeiten auf dem vermeintlich leeren Rücksitz aufprallten, klang eindeutig wie ein halb schmerzerfülltes, halb ärgerliches Grunzen; nicht wie der Laut, mit dem ein mit Kleidern und Büchern voll gepackter Rucksack auf einem Sitz aufprallt.

Trotzdem – als wäre er einfach nicht fähig, die einmal angefangene Bewegung noch zu stoppen – kletterte er weiter, ließ sich in den Sitz fallen und begriff erst wirklich, dass hier etwas nicht in Ordnung war, als sich ein starker Arm von hinten um seinen Hals schlang und seinen Kopf zurückriss. Und er begriff erst, das etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, als eine vernarbte Hand vor seinem Gesicht auftauchte und die rasiermesserscharfe Klinge eines Messers an seine Kehle setzte.

»Ein einziger Mucks und du bist tot«, flüsterte eine Stimme an seinem rechten Ohr. »Hast du das verstanden?«

Selbst wenn Anders hätte antworten wollen, hätte er es gar nicht gekonnt. Der Arm schnürte ihm so gründlich den Atem ab, dass er keinen Laut herausbekam, und auch zu nicken erschien ihm wenig ratsam, denn die Messerklinge drückte schon jetzt so fest gegen seine Kehle, dass sie eine dünne brennende Linie über seine Haut zog. Vorsichtshalber reagierte er gar nicht.

Sein Schweigen schien dem Mann mit der Narbenhand jedoch Antwort genug zu sein, denn nach einem weiteren kurzen Moment lockerte er seinen Griff wenigstens weit genug, dass Anders wieder atmen konnte, und auch die Messerklinge zog sich um eine Winzigkeit zurück. Der brennende Schmerz wurde jedoch eher noch schlimmer und er spürte, wie ein einzelner warmer Blutstropfen an seinem Hals hinablief.

»Gut«, fuhr die zischelnde Stimme an seinem Ohr fort. »Und jetzt lächelst du deinem Freund da draußen nett zu und bittest ihn herzukommen, ist das klar?«

Diesmal deutete Anders ein Nicken zumindest an. Ein winziger Teil seines Denkens wollte ihm klar machen, dass die Worte der Narbenhand nichts als eine leere Drohung waren: Wenn der Kerl ihn entführen wollte, um ein Lösegeld oder was auch immer von seinem Vater zu erpressen, dann würde er den Teufel tun und ihm die Kehle durchschneiden. Was nutzte die wertvollste Geisel, wenn sie tot war?

Aber das war nur die Stimme seiner Logik. Sie mochte Recht haben (sie hatte Recht!), das spielte jedoch keine Rolle. Anders hatte einfach nur Angst. Das, was er so oft in seinen geliebten Fantasy-Romanen gelesen hatte, das spürte er nun am eigenen Leib: nackte Todesangst.

Und es war ganz und gar nicht lustig.

Unendlich behutsam, schon um sich nicht aus Versehen selbst die Kehle durchzuschneiden, wandte er den Kopf und hielt nach Jannik Ausschau. Sein Leibwächter, Chauffeur und Fahrlehrer hatte eine zweite Runde durch den Hangar gemacht und kam nun langsam auf die Cessna zu. Sein Blick wanderte unstet durch den großen, fast leeren Hangar, und das Blitzen der verchromten Pistole in seiner Hand erschien Anders in diesem Moment wie der pure Hohn. Jannik sah nur ganz kurz in seine Richtung und fuhr dann fort, den Hangar nach einer Gefahr abzusuchen, die längst hier drinnen auf ihn wartete.

»Komm bloß nicht auf die Idee, den Helden zu spielen«, zischte die Stimme an seinem Ohr. »Ich meine es ernst.«

Daran zweifelte Anders keine Sekunde. Er wagte es nicht, auch nur die geringste Bewegung zu machen, geschweige denn sich umzudrehen, aber er glaubte zu hören, dass sich noch ein zweiter Mann auf der Sitzbank hinter ihm befand. Der Mann mit der Narbenhand war ja auch im Lieferwagen nicht allein gewesen. Jannik hatte also doch den richtigen Riecher gehabt. Allerdings war Anders alles andere als begeistert darüber.

Jannik kam quälend langsam näher, streckte die Hand nach der Cockpittür aus – und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen wurden groß und Anders konnte sehen, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Seine Pistole kam mit einer unglaublich schnellen Bewegung hoch und richtete sich auf den Mann hinter Anders.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht versuchen«, sagte Narbenhand; jetzt so laut, dass Anders die Ohren klingelten. »Ich glaube dir gern, dass du triffst, aber ich könnte immer noch zustoßen.«

Um seinen Worten noch ein bisschen mehr Nachdruck zu verleihen, verstärkte er den Druck auf Anders’ Kehle wieder, und zu dem einzelnen Blutstropfen, der an seinem Hals hinabgelaufen war, gesellte sich ein weiterer. Anders biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken.

Jannik blieb stocksteif stehen. Anders konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Jannik war zweifellos ein ausgezeichneter Schütze, und Anders traute ihm durchaus zu, den Burschen hinter ihm zu erwischen, bevor dieser auch nur auf die Idee kam, sein Messer zu benutzen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht hätte er es sogar riskiert, aber die Kidnapper waren zu zweit, und Jannik konnte von seiner Position aus unmöglich sehen, ob der zweite Mann auch nur mit einem Messer bewaffnet war oder vielleicht mit einer Pistole.

»Komm schon, steig ein!«, zischte Narbenhand gehässig. »Wir müssen unseren Flugplan einhalten.«

Jannik zögerte noch eine endlose Sekunde, doch dann ließ er die Waffe sinken und streckte die andere Hand nach der Tür aus. Kaum war er eingestiegen, beugte sich der Mann hinter ihm vor und riss ihm die Pistole aus der Hand. In Janniks Augen blitzte es auf, aber auf seinem Gesicht zeigte sich nicht die mindeste Regung.

»So gefällt mir das schon besser«, sagte Narbenhand. »Und jetzt mach die Tür zu und starte die Kiste. Wir haben nicht alle Zeit der Welt!«

Jannik gehorchte – zumindest was die Tür anging. Er rührte allerdings keinen Finger, um den Motor zu starten. »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ihr damit durchkommt«, sagte er. »Wenn ich einfach so starte, dauert es keine fünf Minuten, bis wir einen Polizeihubschrauber am Hals haben.«

»Dann wirst du eben nicht einfach so starten, sondern dem Tower das vereinbarte Kennwort durchgeben«, erwiderte Narbenhand.

»Ich denke ja gar nicht daran!«

»Mach dich nicht lächerlich«, höhnte Narbenhand. »Wenn du so cool wärst, wärst du gar nicht erst eingestiegen und ich jetzt schon tot.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, antwortete Jannik böse.

Narbenhand seufzte – und machte eine blitzartige Bewegung mit seinem Messer. Diesmal konnte Anders einen Schmerzenslaut nicht mehr ganz unterdrücken.

Jannik streckte den Arm aus und drückte den Anlasser. Der Motor rülpste zweimal und der Propeller machte eine halbe Drehung und blieb dann wieder stehen.

»Keine Tricks!«, sagte Narbenhand. »Was immer du tust, tut deinem Freund hier mehr weh als dir.«

Zu Anders’ Erleichterung verzichtete er darauf, weiter an seinem Hals herumzuschnitzen, um seiner Forderung mehr Nachdruck zu verleihen, aber Jannik schien auch so verstanden zu haben. Sofort legte er den Daumen wieder auf den Anlasserknopf, drückte ihn allerdings noch nicht. Stattdessen leitete er die erste Gegenmaßnahme ein. Er drehte sich halb, sagte hastig: »Das war keine Absicht« und brachte sein Knie in Nähe des Notschalters des Funkgeräts, dessen spezielle Funktion er Anders in den letzten Ferien erklärt hatte. »Ich bin nervös und habe einen Fehler gemacht«, fuhr er fort. »Tut mir Leid.«

»Er meint es ehrlich«, sagte Anders in einem fast verzweifelten Ton, von dem er bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hatte, dass er ihn hervorbringen konnte.

Narbenhands Blick wanderte zu Anders. »Halt deine Schnauze«, meinte er grob.

Anders zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. »Ja«, antwortete er, wobei er sich Mühe gab, möglichst kleinlaut und zerknirscht zu wirken. Sein kleines Ablenkungsmanöver schien Erfolg gehabt zu haben. Obwohl er vermied in die Richtung von Janniks Knie zu blicken, erkannte er aus den Augenwinkeln, der unauffällige graue Notfalltaster war eingedrückt, und das bedeutete nichts anders, als dass der direkte Funkkanal zur Polizei geöffnet war. Wenn das stimmte, was Jannik ihm im letzten Sommer erklärt hatte, würden bereits jetzt ein paar sehr aufmerksame Beamte das Gespräch mitverfolgen, um zu entscheiden, ob es sich um einen Fehlalarm handelte, den sie mit einer raschen Rückfrage zu den Akten legen konnten – oder sie tatsächlich eingreifen mussten.

Narbenhands Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder auf Jannik. »Dir sollten besser nicht noch mehr Fehler unterlaufen«, drohte er. »Starte endlich!«

»Ich muss einen Moment warten«, antwortete Jannik nervös. »Wenn ich gleich noch einmal zu starten versuche, säuft der Motor ab, und dann dauert es eine halbe Stunde oder ich muss den Vergaser auseinander nehmen.«

Die Worte klangen ehrlich, vielleicht gerade weil Janniks Stimme vor lauter Nervosität zitterte, und anscheinend schien auch Narbenhand zu der gleichen Überzeugung gelangt zu sein, denn er geduldete sich, bis Jannik den Anlasser abermals betätigte. Auch jetzt bewegte sich der Propeller nur widerwillig, und im allerersten Moment gab der Motor ein Geräusch von sich, das Anders gar nicht gefiel. Dann aber sprang er mit einem plötzlichen Dröhnen an und der Propeller wurde zu einem verschwommenen Schatten vor dem Bug der Maschine und schien dann ganz zu verschwinden. Jannik griff mit beiden Händen nach dem Steuerknüppel und ließ die Cessna langsam anrollen.

»Ich muss mich beim Tower melden«, sagte er. »Wenn ich es nicht tue, alarmieren sie sofort die Polizei.«

»Wir wollen doch nicht unnötig Steuergelder verschwenden«, sagte Narbenhand gehässig. »Also mach deine Meldung – und vergiss das Kennwort nicht. Wenn wir einmal in der Luft sind, haben wir nichts mehr zu verlieren.«

Jannik schenkte ihm einen bösen Blick, lenkte die Cessna aber nur wortlos aus dem Hangar und ans Ende der Startbahn und hielt dann an, um nach dem Funkgerät zu greifen.

»Hier Delta Charlie Sieben Sieben«, meldete er sich. »Erbitte Startfreigabe.«

Es verging nicht einmal eine Sekunde, bevor eine leicht verzerrte Stimme aus dem Funkgerät antwortete: »Delta Charlie Sieben Sieben, Sie haben Startfreigabe. Einen guten Flug.«

»Wenn das Wetter mitspielt«, antwortete Jannik. »Delta Charlie Sieben Sieben, over and out.«

»Und das Kennwort?«, fragte Narbenhand.

»Die Bemerkung mit dem Wetter«, sagte Jannik. »Oder haben Sie gedacht, ich sage laut und deutlich: Und jetzt noch das vereinbarte Kennwort?«

Er wartete einen Moment lang vergeblich auf eine Antwort, zuckte schließlich nur mit den Schultern und griff wieder mit beiden Händen nach dem Steuerknüppel. Das Motorengeräusch wurde lauter und die Cessna rollte an und nahm rasch Fahrt auf. Der Mann mit der Narbenhand lockerte seinen Griff ein wenig und Anders nutzte die Gelegenheit, um vorsichtig den Kopf zu drehen und einen Blick in das Gesicht des Burschen hinter Jannik zu werfen. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und hatte ein so typisches Verbrechergesicht, dass es schon fast lächerlich wirkte. Mit diesem Aussehen hatte er wahrscheinlich gar keine andere Wahl gehabt, als seinen Lebensunterhalt als Berufsganove zu verdienen. Außerdem hatte er Angst.

Der Mann schien seinen Blick zu spüren, denn er wandte mit einem Ruck den Kopf und funkelte Anders an. »Ist was?«, fauchte er. Seine Finger spielten nervös mit der Pistole, die er Jannik abgenommen hatte.

»Ist euch eigentlich klar, mit wem ihr euch da gerade anlegt?«, fragte Jannik, hastig und wahrscheinlich aus keinem anderen Grund als dem, den Blickkontakt zwischen Anders und dem Kerl mit der Verbrechervisage zu unterbrechen. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Der Vater des Jungen hat nicht nur Geld. Er ist auch ein verdammt einflussreicher Mann. Ein sehr mächtiger Mann. Ich hätte nicht den Mut, ihn so wütend zu machen.«

»Lass das mal unsere Sorge sein«, meinte Narbenhand.

»Du hast ja keine Ahnung, was für eine Sorge«, sagte Jannik kalt. »Wenn ihr dem Jungen auch nur ein Haar krümmt, dann werdet ihr euch bald wünschen tot zu sein.«

Die Cessna wurde immer schneller, näherte sich in rasendem Tempo dem Ende der lächerlich kurzen Rollbahn und hob im buchstäblich allerletzten Moment ab. Anders hatte dieses Manöver schon oft genug erlebt, um sich keine Sorgen mehr zu machen, und darüber hinaus wusste er natürlich, dass Jannik ein ausgezeichneter Pilot war. Dennoch klammerte er sich ganz instinktiv an seinem Sitz fest, als die Maschine abhob und so dicht über die Grasnarbe hinter der Rollbahn hinwegschoss, dass die Räder den Löwenzahn köpften. Die Männer hinter ihnen sogen erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein und Jannik setzte noch einen drauf, indem er die Maschine jäh in die Höhe zog und zugleich in eine scharfe Rechtskurve legte.

»Mach bloß keine Dummheiten«, warnte Narbenhand. »Ich könnte sonst nervös werden.«

»Ich muss so steil hochziehen«, antwortete Jannik. »Die Thermik hier ist mörderisch.«

Anders konnte sich gerade noch einen erstaunten Blick verkneifen. Das gute Dutzend Mal, das sie zuvor von diesem Flugplatz aus gestartet waren, hatte Jannik die Cessna so sanft ansteigen lassen, dass man es praktisch nicht spürte. Und was er über die Thermik erzählte, war einfach Unsinn. Der Flugplatz war viel zu weit von den Bergen entfernt, um in den Bereich der warmen Aufwinde zu gelangen, die in unmittelbarer Nähe der Bergflanken aufstiegen.

Dann begriff er: Jannik machte dieses ungewöhnliche Flugmanöver gerade deswegen, weil er unauffällig darüber reden konnte – und die Polizei auf der anderen Seite des Funkkanals mithörte, was auch immer er an Richtungsangaben in seine Worte mit einbauen konnte. Ganz nebenbei gaben die beiden Kidnapper dabei preis, ob sie etwas vom Fliegen verstanden oder nicht.

Allzu viel war es offensichtlich nicht, denn der Mann mit der Narbenhand beließ es dabei. Nur sein Kamerad entblödete sich nicht, drohend mit der erbeuteten Pistole herumzufuchteln. »Mach keinen Blödsinn!«, knurrte er.

»Oder was?«, fragte Jannik verächtlich. »Erschießt du mich sonst?«

»Nein«, antwortete Narbenhand anstelle seines Kameraden. »Aber ich könnte deinem kleinen Freund ein Ohr abschneiden. Schließlich hat er ja zwei davon.«

Jannik schenkte ihm einen fast hasserfüllten Blick, antwortete jedoch nicht, sondern konzentrierte sich darauf, die Maschine in engen Kurven in die Höhe zu schrauben, bis sie ungefähr auf tausend Meter angelangt waren.

»Jetzt wäre es ganz praktisch, wenn ich wüsste, wohin ich fliegen soll«, sagte er dann.

»Einfach nach Süden«, antwortete Narbenhand.

»Gute Idee.« Jannik nickte und richtete den fast unsichtbaren Propellerkreis vor der Nase der Cessna gehorsam in die angegebene Richtung aus. »Und gegen welchen Berg soll ich fliegen?«

Die Frage entbehrte nicht einer gewissen Berechtigung. Auf direktem Kurs vor ihnen war nichts als eine scheinbar unüberwindliche Mauer aus massivem grauem Fels. Die meisten dieser Berge, das wusste Anders, waren tatsächlich zu hoch, als dass die kleine Cessna darüber hinwegfliegen konnte.

»Halt die Fresse«, zischte Narbenhand wütend. »Flieg einfach geradeaus. Ich sag dir dann schon, wo es langgeht.« Seine Stimme erzählte eine andere Geschichte. Er war nicht nur nervös, Anders war auch ziemlich sicher, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wohin sie eigentlich flogen.

Jannik fasste in Worte, was Anders gedacht hatte: »Du hast noch nie in einem Flugzeug gesessen, wie?«, fragte er. »Es gibt hier oben Luftstraßen. Wenn wir davon abweichen, haben wir schneller die Polizei am Hals, als du dir vorstellen kannst.«

Fast zu Anders’ Überraschung reagierte Narbengesicht nicht wütend, sondern schien einen Moment ernsthaft über diese Worte nachzudenken. »Wir müssen auf die andere Seite der Berge«, sagte er schließlich. Dann machte er eine Kopfbewegung nach links. »Da lang.«

Anders’ Blick folgte der Geste. Nicht allzu weit vor ihnen klaffte tatsächlich eine schmale Lücke in der ansonsten schier unüberwindlichen Mauer. Von hier aus betrachtet wirkte sie nur wie ein kaum fingerbreiter Riss, aber sie waren auch noch ein gutes Stück entfernt. Jannik rührte keinen Finger, um die Maschine in die entsprechende Richtung zu drehen.

»Hast du was an den Ohren?«, fragte Narbenhand.

»Vollkommen unmöglich«, sagte Jannik. »Das ist eine Flugverbotszone.«

»Wen interessiert das?«, erwiderte Narbenhand. »Tu, was ich dir sage.« Er schnitt Anders wieder in den Hals. Nicht sehr tief, aber es tat weh und blutete auch wieder. Jannik legte die Cessna hastig in eine Linkskurve, um Kurs auf die gewaltige Klamm zu nehmen, und sah Narbenhand eisig an.

»Wenn du Anders noch einmal anrührst, bringe ich dich um«, sagte er ruhig.

»Quatsch nicht«, fauchte Narbenhand. Aber völlig kalt schien ihn Janniks Drohung trotzdem nicht gelassen zu haben, denn er zog das Messer rasch ein Stück zurück.

»Wir bekommen wirklich Ärger«, beharrte Jannik. »Die ganze Gegend da vorne ist militärisches Sperrgebiet. Außerdem ist diese Schlucht ein Wetterloch. Die Thermik reißt uns in Stücke.«

»Du bist doch ein guter Pilot, oder?«, fragte Narbenhand. »Das schaffst du schon.«

Jannik verzichtete auf eine Antwort. Aber Anders glaubte zu spüren, dass seine Nervosität echt war. Narbenhand hatte Recht: Jannik war ein ausgezeichneter Pilot, doch diese Schlucht dort vorne machte ihm eindeutig Angst. Was wiederum ihm Angst machte. Anders war bisher davon ausgegangen, dass Jannik die Geschichte mit der Flugverbotszone nur erzählt hatte, um einem Polizeihubschrauber Zeit zum Aufholen zu geben, aber mit einem Mal war er sich dessen gar nicht mehr so sicher.

»Was habt ihr eigentlich vor, wenn ich fragen darf?«, fragte Jannik nach einer Weile.

»Darfst du nicht«, antwortete Narbenhand.

Wovon sich Jannik selbstverständlich nicht abhalten ließ und fortfuhr: »Mich interessiert nur, ob ihr auf eigene Rechnung arbeitet oder einen Auftraggeber habt.«

»Macht das einen Unterschied?«

»Und ob«, behauptete Jannik. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Wenn ihr wirklich auf eigene Rechnung arbeitet, seid ihr entweder völlig wahnsinnig oder ihr habt wirklich nicht den blassesten Schimmer, mit wem ihr euch da gerade anlegt. In diesem Fall schlage ich vor, wir landen hier irgendwo und ihr zwei Spaßvögel macht möglichst rasch, dass ihr wegkommt. Ich verspreche euch, niemand wird etwas von der Sache erfahren.«

»Und die andere?«, erkundigte sich Narbenhand.

»Solltet ihr einen Auftraggeber haben, nennt ihr mir euren Preis und den Namen. Ich garantiere, dass euch nichts passiert.«

»Klar doch«, sagte Narbenhand spöttisch.

»Ich meine es ernst«, beharrte Jannik. »Anders’ Vater dürfte sich brennend dafür interessieren, wer hinter der Sache steckt. Ich bin sogar sicher, dass er sich für entsprechende Informationen sehr erkenntlich zeigen wird.«

»Hör auf zu quatschen«, sagte Narbenhand. Doch er klang ein bisschen nervös, fand Anders. Vielleicht auch nachdenklich.

Aber das galt auch für ihn. Sein Verdacht war nicht ganz unbegründet gewesen. Janniks scheinbar völlig überzogenes Verhalten während der Fahrt hierher erschien ihm plötzlich in einem vollkommen anderen Licht; ebenso wie die schon fast lächerliche Art, mit der er in James-Bond-Manier den Hangar durchsucht hatte. Vielleicht galt die Nervosität in seinen Augen ja gar nicht der Schlucht und dem vermeintlichen Sperrgebiet, sondern etwas vollkommen anderem.

Natürlich nicht zum ersten Mal, aber doch auf eine völlig neue Art fragte sich Anders, wer sein Vater überhaupt war. Das kurze Gespräch, das Jannik und er vorhin im Wagen geführt hatten, hatte im Grunde schon fast alles enthalten, was er über seinen Vater wusste. Anders war ja praktisch auf Schloss Drachenthal aufgewachsen und die Zeit davor, die er tatsächlich zu Hause verbracht hatte, begann in seiner Erinnerung allmählich zu verblassen, nicht nur weil die Jahre der frühesten Kindheit im Allgemeinen die Tendenz hatten, unverhältnismäßig schnell aus der Erinnerung zu verschwinden, sondern vor allem weil sie so gut wie ereignislos gewesen waren. Anders hatte seine Mutter nicht kennen gelernt. Früher, als er noch ein wirklich kleines Kind gewesen war, hatte er niemals nach ihr gefragt, denn wie sollte er etwas vermissen, das es nie in seinem Leben gegeben hatte?

Nach ein paar Jahren hatte er ein paarmal nach seiner Mutter gefragt, aber entweder gar keine oder nur eine ausweichende Antwort bekommen und es auch sehr rasch wieder aufgegeben, entsprechende Fragen überhaupt zu stellen. Mit dem instinktiven Gespür, das nur kleinen Kindern zu eigen ist, hatte er begriffen, dass die Frage nach dem Verbleib seiner Mutter das einzige, aber auch absolute Tabuthema im Hause seines Vaters war. Eine Zeit lang hatte er sich damit getröstet, dass sie vermutlich bei oder kurz nach seiner Geburt gestorben war und sein Vater nicht über sie reden wollte, weil ihm die Erinnerung einfach zu viele Schmerzen bereitete; das stellte zwar die bequemste Erklärung dar, aber tief in sich hatte er stets gespürt, dass das ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach.

Abhängig von seinem Alter und den Büchern, die er gerade las, hatte er die unterschiedlichsten und zum Teil haarsträubendsten Theorien entwickelt, angefangen damit, dass sie von Mafia-Killern entführt und niemals zurückgekommen war, bis hin zu der festen Überzeugung, seine Mutter war in Wahrheit eine Elfenprinzessin gewesen, die in ihr geheimes Reich zurückkehrte, nachdem sie seinem Vater ein Kind geschenkt hatte. Aber irgendwann war ihm natürlich klar geworden, dass die Wahrheit viel einfacher und zugleich grausamer war. Wahrscheinlich hatte seine Mutter seinen Vater schlichtweg verlassen, kurz nachdem er auf die Welt gekommen war, und er wollte nicht über sie sprechen, weil er diesen Verlust – oder vielleicht auch die Kränkung, die das für einen so stolzen Mann wie ihn bedeuten musste – bis heute nicht verwunden hatte. Und seit er ins Internat gekommen und dort ein neues Zuhause gefunden hatte, hatte er praktisch gar nicht mehr an seine Mutter gedacht.

Jetzt aber, während er dasaß und versuchte den Kopf so zu halten, dass ihm Narbenhand nicht ganz aus Versehen die Kehle durchschnitt, sollten sie in ein Luftloch geraten oder Jannik eine unvorsichtige Bewegung am Steuerknüppel machen, wurde ihm plötzlich klar, er wusste über seinen Vater im Grunde kaum etwas. Es war genauso, wie Jannik gesagt hatte: Anders war in der Obhut ungewöhnlich oft wechselnder, aber ausnahmslos netter Kindermädchen aufgewachsen, und seinen Vater hatte er manchmal wochenlang überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Seine Erinnerungen an das Haus seiner Kindheit waren die an ein großes, düsteres Gebäude mit langen Korridoren und gewaltigen Zimmern mit hohen Decken, die mit schweren antiken Möbeln eingerichtet waren. Und an seinen Vater erinnerte er sich als einen großen, schweigsamen Mann, der schon in jungen Jahren weißes Haar gehabt hatte und selbst in einem Designeranzug eigentlich immer mehr wie ein mittelalterlicher König oder ein Magier wirkte. Tatsächlich wusste er nicht einmal wirklich, was er eigentlich tat. Er herrschte über ein mittlerweile gewaltiges Firmenimperium, aber das war auch schon beinahe alles. Sein Vater sprach in den wenigen kostbaren Stunden, die sie zusammen verbrachten, niemals über das Geschäft, und Anders hatte sich auch niemals ernsthaft dafür interessiert.

Vielleicht hätte er es besser tun sollen. Janniks Bemerkung von vorhin machte ihm zunehmend mehr zu schaffen; ebenso wie das, was Jannik danach zu Narbenhand gesagt hatte. Vielleicht ging es hier ja gar nicht um Geld. Was, wenn sein Vater nicht nur ein mächtiger Mann war, sondern auch ebenso mächtige Feinde hatte?

Anders brach den Gedanken mit Gewalt ab und rief sich selbst zur Ordnung. Er musste aufpassen, dass seine Fantasie nicht mit ihm durchging. Es brachte wenig ein, wenn er am Ende so weit war, seinen Vater als eine Art Mafia-Paten zu sehen und Narbenhand und die Verbrechervisage als moderne Robin Hoods, die ihn nur entführt hatten, um gegen die Zerstörung der Umwelt zu protestieren oder eine vom Aussterben bedrohte Untergattung der Gänseblümchen zu schützen, auf deren letztem verbliebenem Ausbreitungsgebiet die Firma seines Vaters ein neues Werk errichten wollte. Wahrscheinlich hatte Jannik Recht und die beiden waren einfach Idioten, die nicht die geringste Ahnung hatten, mit wem sie sich da gerade anlegten.

Das machte sie allerdings nicht weniger gefährlich.

Die Berge kamen allmählich näher. Anders warf einen verstohlenen Blick auf das Funkgerät. Er hoffte nur, dass wirklich stimmte, was Jannik ihm erzählt hatte, und er mit dem per Knie zu erreichenden Schalter den direkten Funkkanal zur Polizei geöffnet hatte. Es wurde Zeit, dass etwas passierte, bevor sie aus der Reichweite der zuständigen Behörden waren. Der Riss im Felsmassiv war bereits viel größer geworden und Anders sah jetzt, dass es alles andere als eine schmale Klamm war, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte, sondern eine gewaltige Schlucht mit nahezu senkrecht aufstrebenden Wänden. Die Luft darüber war deutlich dunkler als anderswo. Zumindest was das Wetterloch anging schien Jannik wohl die Wahrheit gesagt zu haben.

Das Funkgerät meldete sich. Jannik wollte nach dem Mikro greifen, aber Narbenhand schüttelte rasch den Kopf und Jannik zog die Hand mit einem angedeuteten Achselzucken wieder zurück. »Wenn ich mich nicht melde, wird es gleich ungemütlich werden«, sagte er.

Weitere fünf oder sechs Minuten vergingen. Das Felsmassiv kam unerbittlich näher und auch die brodelnde Dunkelheit über der Schlucht nahm zu. Anders war nicht mehr ganz sicher, ob es sich tatsächlich um eine Gewitterwolke handelte. Es sah eher aus, als hätte sich dort oben tatsächlich reine Dunkelheit zusammengeballt, als wäre dort oben etwas, das die Anwesenheit von Licht einfach nicht zuließ.

Was für eine unsinnige Vorstellung!

»Gleich geht der Tanz los«, verkündete Jannik unvermittelt. Narbenhand sah ihn verständnislos an und Jannik machte eine Kopfbewegung zum Spiegel hin. Als Anders’ Blick der Bewegung folgte, sah er einen winzigen grün-weiß leuchtenden Punkt, der rasch näher kam.

»Mist!«, sagte Narbenhand inbrünstig. »Wo kommen die denn so schnell her?«

Jannik deutete auf das Funkgerät, an dem noch immer ein rotes Lämpchen flackerte. »Die mögen das gar nicht gerne, wenn man nicht auf ihre Funksprüche reagiert.«

»Spar dir deine klugscheißerischen Sprüche«, zischte Narbenhand. »Gib lieber Gas und häng sie ab.«

»Du hast wirklich keine Ahnung«, seufzte Jannik. »Das hier ist kein Düsenjäger. Dieser Polizeihubschrauber ist viel schneller als wir.«

Anders unterdrückte den Impuls, Narbenhand mit ein paar deutlichen Worten klar zu machen, dass die Polizei bereits die ganze Zeit über per Liveschaltung Zeuge der Entführung geworden war. Es war besser, wenn er sich so lange zurückhielt, bis sich die Situation tatsächlich zu ihren Gunsten änderte – falls sie es denn wirklich tat.

Immerhin kam der Helikopter rasch näher. Nach kaum einer Minute war aus dem blitzenden Punkt im Spiegel ein eleganter, stromlinienförmiger Umriss geworden, der tatsächlich so aussah, als könne er es spielend mit der Cessna aufnehmen, selbst wenn Jannik alles aus der Maschine herausholte.

»Verdammt!«, murmelte Narbenhand. Das Messer an Anders’ Hals zitterte leicht.

Jannik grinste kalt. »Ich schätze, jetzt habt ihr ein Problem, Freunde. Ihr hättet mein Angebot annehmen sollen.«

»Irrtum«, antwortete Narbenhand. »Du hast ein Problem. Lass dir was einfallen, um die Bullen abzuhängen, oder dein Freund hier bekommt ein neues Gesicht.«

Der Hubschrauber holte jetzt rasch auf und das rote Flackern des Funkgerätes schien hektischer zu werden. Jannik ignorierte es und der Polizeihubschrauber machte einen überraschenden Satz und war plötzlich neben ihnen und höchstens noch zwanzig Meter entfernt. Der Pilot gestikulierte heftig und wedelte mit dem Mikrofon seines Funkgerätes, das er in der rechten Hand hielt.

Jannik sah ihn demonstrativ an und schüttelte dann zweimal übertrieben langsam den Kopf. Offensichtlich wollte er dem Piloten klar machen, dass er nicht antworten durfte.

Falls dieser es glaubte, so nutzte es jedenfalls nicht viel. Der Helikopter kam im Gegenteil noch ein gutes Stück näher, und dann hörten sie eine dröhnend verstärkte Lautsprecherstimme, die selbst das Geräusch der Motoren spielend überbrüllte. »Achtung! Delta Charlie Sieben Sieben, Sie befinden sich in einer Flugverbotszone! Drehen Sie augenblicklich bei und folgen Sie uns!«

Jannik schüttelte den Kopf.

Der Helikopterpilot wiederholte seine Durchsage noch zweimal, dann änderte er seine Taktik. Die Maschine beschleunigte, setzte sich in vielleicht fünfzig Metern Entfernung vor die Cessna und verringerte dann allmählich ihre Geschwindigkeit.

»Werd bloß nicht langsamer«, drohte Narbenhand.

Jannik hielt die Geschwindigkeit gehorsam bei, doch der Hubschrauber wurde nun deutlich langsamer, sodass der Abstand zwischen ihnen rasend schnell zusammenschmolz. Jannik hielt den Steuerknüppel mit stoischer Ruhe fest, und nicht nur Anders begann allmählich nervös zu werden. Sie waren jetzt vielleicht noch dreißig Meter vom Heck des Polizeihubschraubers entfernt, dann zwanzig, zehn … Der Pilot der Maschine hätte jetzt wieder Gas geben müssen, um weder ihn als Entführungsopfer noch sich selbst zu gefährden, aber er dachte offensichtlich gar nicht daran. Stur blieb er bei gedrosselter Geschwindigkeit auf Kurs.

Im buchstäblich allerletzten Moment legte Jannik die Maschine in eine scharfe Linkskurve und tauchte zugleich unter dem Helikopter weg. Als sie unter ihm hindurchschossen, konnte Anders sehen, dass auch der Hubschrauber einen fast erschrocken wirkenden Schlenker zur Seite machte. Für einen Augenblick fiel die Maschine zurück, dann holte sie auf und nahm ihren Platz neben der Cessna wieder ein. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Anders sehen, wie wütend der Pilot war.

Einen Moment lang winkte er Jannik noch ärgerlich zu, dann stieg die Maschine wieder, setzte sich über die Cessna und sank so plötzlich wieder herab, dass Anders ernsthaft damit rechnete, das Glas des Kanzeldaches unter den Kufen zersplittern zu sehen. Im letzten Augenblick drückte Jannik den Steuerknüppel nach vorne und ging in einen kurzen, aber rasenden Sturzflug über. Das Messer ritzte Anders’ Hals und wieder lief Blut an seiner Kehle hinab.

»Verdammt noch mal, tu das Messer weg!«, fauchte Jannik, nachdem er die Maschine wieder abgefangen hatte und in Horizontalflug übergegangen war. »Oder willst du ihn ganz aus Versehen umbringen?«

Narbenhand zögerte noch einen Moment, aber dann zog er das Messer tatsächlich zurück – wenn auch nicht, ohne die Klinge an Anders’ Hemd sauber gewischt zu haben. Der Kerl war wirklich ein Idiot.

Sein Kumpan fuchtelte drohend mit der Pistole herum. »Mach nur keinen Unsinn!«

»Weil du mich sonst erschießt, ich weiß«, sagte Jannik.

Anders tastete mit der Hand über seinen Hals und spürte klebriges Blut, aber nicht annähernd so viel, wie er erwartet hatte. Erleichtert drehte er den Kopf und hielt nach dem Helikopter Ausschau. Die Maschine war ein Stück zurückgefallen, holte jedoch schon wieder auf, wenn auch nicht mehr ganz so rasant wie zuvor. Jannik flog nun ebenfalls spürbar schneller, aber Anders war trotzdem sicher, dass sie keine Chance hatten, dem Helikopter zu entkommen.

Als hätte der Pilot seine Gedanken gelesen und sie bestätigen wollen, holte er plötzlich mit fast spielerischer Leichtigkeit auf und wiederholte sein Manöver von gerade, sodass Jannik erneut zu einem haarsträubenden Sturzflug gezwungen wurde. Anders fragte sich immer verzweifelter, was hier eigentlich los war. Bei Entführungen setzten die zuständigen Stellen normalerweise auf Deeskalation, statt wie durchgeknallte Rambos einen Privatkrieg gegen die Entführer anzuzetteln. Anders wusste nicht, was ihr aggressives Verhalten zu bedeuten hatte, er wusste nur eines: Hier lief etwas schrecklich schief.

»Verdammt noch mal, häng ihn endlich ab!«, schrie Narbenhand.

»Umgekehrt«, antwortete Jannik gepresst. »Noch ein paar solcher Scherze und er zwingt uns zur Landung.«

»Dann tu was dagegen!«, brüllte Narbenhand.

»Ach, und was?«, fragte Jannik. »Soll ich ihn vielleicht rammen?«

Der Bursche hinter ihm hob seine Pistole und machte Anstalten, das Fenster zu öffnen. »Wenn er das nächste Mal vorbeikommt, knalle ich ihn ab«, drohte er. »Halt die Kiste still.«

»Eine hervorragende Idee«, sagte Jannik. »Dann schicken sie als Nächstes eine Militärmaschine und die schießt uns gleich ab. Ich wundere mich sowieso, dass sie das Feuer noch nicht eröffnet haben. Wir sind tief in militärischem Sperrgebiet.« Er brach ab, als der Helikopter erneut wie ein angreifender Raubvogel auf seine Beute herabstieß und ihn zu einem weiteren Sturzflug zwang. Sie waren mittlerweile nur noch halb so hoch wie am Anfang. Jannik versuchte zwar, sofort wieder an Höhe zu gewinnen, aber der Polizeihubschrauber bedrängte sie weiterhin.

»Da hinein!« Narbenhand deutete auf die Schlucht. »Flieg in das Gewitter!«

»Bist du verrückt?«, entfuhr es Jannik.

»Kein bisschen«, antwortete Narbenhand. »Das hier ist ein Flugzeug. Wir werden viel eher mit einem Sturm fertig als ein Hubschrauber. Der folgt uns nicht in ein Gewitter.«

Damit hatte er vermutlich sogar Recht, dachte Anders. Aber er war immer weniger sicher, dass es sich bei dieser sonderbar dräuenden Dunkelheit wirklich um ein Gewitter handelte. Es schien vielmehr etwas zu sein, vor dem das Licht floh.

Jannik setzte zu einer Antwort an, aber Narbenhand nahm ihm die Mühe ab, indem er sein Messer hob und drohend damit vor Anders’ Gesicht herumfuchtelte. Jannik schenkte ihm noch einen wütenden Blick, doch dann lenkte er die Maschine gehorsam in die befohlene Richtung. Der Helikopter holte wieder auf, stieß aber diesmal nicht auf sie herab, sondern setzte sich an ihre Seite.

Anders - Die tote Stadt (Anders, Bd. 1)

Подняться наверх