Читать книгу Anders - Die tote Stadt (Anders, Bd. 1) - Wolfgang Hohlbein - Страница 9

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Jannik gab keinen Laut von sich. Eine geschlagene Sekunde lang stand er einfach reglos da, dann hob er langsam den Arm und betrachtete scheinbar vollkommen ungläubig den rauchenden Stumpf, der sich dicht unter dem Ellbogen befand. Er machte einen taumelnden Schritt, drehte sich halb um seine Achse und kippte dann lautlos über die Brüstung in die Tiefe.

Anders stand da wie gelähmt. Er empfand … nichts. Keinen Schrecken, keinen Schock, nicht einmal Schmerz oder Furcht. Er hatte gesehen, was passiert war, und ein Teil seines Verstandes machte ihm mit gnadenloser Sicherheit klar, dass Jannik tot war – aber irgendwie drang diese Erkenntnis nicht wirklich in sein Bewusstsein vor. Jannik war tot und nun würde auch er sterben; aber das alles schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen, als wäre es etwas, das gar nicht ihn selbst betraf, sondern jemanden, dessen Schicksal er aus sicherer Entfernung verfolgte.

Ganz langsam hob er den Kopf und sah den Helikopter an. Die gewaltige Maschine war wieder näher gekommen und der an ein Haifischmaul erinnernde Bug schwenkte genau in diesem Moment wieder herum, als der Pilot eine letzte winzige Korrektur vornahm, um ihn in eine perfekte Schussposition zu zwingen.

Anders war dem Helikopter jetzt nahe genug, um die beiden Piloten in der nur matt erleuchteten Kabine zu erkennen. Er konnte sehen, wie der Pilot die Hand ausstreckte, und wappnete sich gegen den schrecklichen, aber sicher kurzen Schmerz, mit dem ihn der blaue Lichtblitz treffen würde. Doch in diesem Moment geschah etwas sehr Sonderbares: Der zweite Mann in der Kanzel machte eine rasche Bewegung, mit der er den Piloten zurückhielt, dann deutete er mit der anderen Hand auf Anders. Auch diese beiden trugen schwarze ABC-Anzüge mit verspiegelten Helmscheiben, aber Anders glaubte ihre durchdringenden Blicke fast körperlich zu spüren.

Plötzlich kippte der Helikopter lautlos zur Seite und verschwand.

Eine Sekunde später geschah zweierlei: Die Tür des Dachaufbaus flog mit einem Knall aus den Angeln und die Lähmung fiel endlich von Anders ab. Mit fürchterlicher Gewalt begriff er, was gerade geschehen war, dass sie Jannik vor seinen Augen umgebracht hatten, und der Schmerz sprang ihn warnungslos an und grub sich mit glühenden Klauen in seine Seele. Aber er sah auch zugleich die drei schwarz vermummten Gestalten durch die aufgebrochene Tür stürmen und in seine Richtung rennen, und sein Überlebensinstinkt erwies sich zumindest in diesem Moment stärker als Wut und Trauer. Er fuhr auf dem Absatz herum und rannte davon, so schnell er konnte.

Die Auswahl an Verstecken war nicht sonderlich groß. Ein gutes Viertel des Daches wurde bereits von Flammen gesäumt. Anders konnte zwar nicht mehr sagen, ob der Boden unter seinen Füßen tatsächlich noch vibrierte, dafür aber spürte er umso deutlicher, dass er heiß wurde. Das gesamte Gebäude würde ein Raub der Flammen werden, und das wahrscheinlich innerhalb weniger Minuten.

Ein blauer Blitz raste an ihm vorbei und ließ einen Teil der Brüstung verdampfen. Anders schlug einen schnellen Haken nach links und steuerte den Wald aus Lüftungsschächten und Ventilatoren an, ein mehr als erbärmliches Versteck – streng genommen gar keines –, aber das einzige, das sich ihm anbot. Zumindest würde es für seine Verfolger ein bisschen schwerer werden, ihn zu treffen, und vielleicht gab es dort drüben ja eine zweite Feuerleiter, die in die Tiefe führte.

Zwei weitere blaue Blitze schlugen präzise je einen Meter rechts und links von ihm in den Boden, und Anders’ vorsichtige Erleichterung wich dumpfer Wut. Vielleicht war das Wunder, dem er seine Rettung verdankte, doch nicht ganz so groß und von weitaus bösartigerer Natur, als er bisher angenommen hatte. Möglicherweise wollten die Kerle einfach noch ein bisschen mit ihm spielen, um sich für den Tod ihres Kameraden zu rächen.

Er rannte trotzdem schneller, humpelte im Zickzack zwischen den Ventilationsschächten umher und verzog das Gesicht, als eines der Metallrohre in einem blauen Blitz auseinander flog und geschmolzenes Metall auf ihn herabregnete. Einen Moment später erreichte er die Brüstung und hätte vor Enttäuschung beinahe laut aufgeschrien. Es gab eine zweite Feuerleiter, aber sie bestand nur noch aus drei Sprossen, die im Nichts endeten.

Verzweifelt drehte Anders sich um und hielt nach irgendeinem anderen Fluchtweg Ausschau. Es gab keinen. Die drei Männer waren vielleicht noch zwanzig Schritte von ihm entfernt und kamen langsam näher. Sie hatten nicht nur aufgehört zu schießen, sondern ihre Waffen auch gesenkt; einer hatte sein Gewehr sogar über die Schulter gehängt. Wahrscheinlich, dachte Anders, hatten sie vor, ihn einfach über das Dach zu stoßen; oder ihm die Beine zu brechen, damit er sich nicht mehr bewegen konnte und bei lebendigem Leib verbrannte.

Etwas klapperte. Kaum einen Meter neben ihm fiel der Verschluss einer Lüftungsklappe zu Boden und in der quadratischen Öffnung dahinter erschien eine schmale Hand, die ihm hektisch zuwinkte.

Anders überlegte nicht mehr – dafür blieb ihm keine Zeit –, er handelte. Mit einem einzigen Schritt war er bei der Klappe und zwängte sich hindurch. Etwas bewegte sich vor ihm in der Dunkelheit und er hörte eine Folge polternder Laute, die sich als leiser werdendes Echo in der Tiefe fortsetzten. Aber er hörte auch noch andere Geräusche: Stampfende, schwere Schritte, die plötzlich sehr schnell näher kamen.

Er schob auch noch die letzten Zweifel beiseite und kroch auf Händen und Knien hinter dem Schatten her, der ihn in den Schacht gelockt hatte. Es war fast vollkommen dunkel hier drin, sodass er nur ein Huschen vor sich wahrnahm; doch wer immer es war, er bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit und Geschick. Selbst ohne sein verletztes Knie hätte Anders keine Chance gehabt, ihn einzuholen.

Hinter ihm erklang das Kreischen von Metall, das mit brutaler Gewalt auseinander gerissen wurde. Anders hielt nicht im Kriechen inne, sondern versuchte im Gegenteil noch mehr Tempo zu machen, drehte aber den Kopf und erkannte entsetzt, dass die Verfolger bereits da waren. Einer der Männer hatte das Ende des Luftschachtes auseinander gezerrt und starrte zu ihm herein. Das war jetzt wohl unwiderruflich das Ende. Der Schacht war entschieden zu klein, als dass der Mann in seinem klobigen Schutzanzug ihm folgen konnte, aber er war auch zu klein, um ihn zu verfehlen. Er musste nur seine Waffe heben und in seine ungefähre Richtung zielen und konnte gar nicht danebenschießen.

Doch er tat es auch diesmal nicht. Er stand einfach nur da und starrte Anders durch seine verspiegelte Helmscheibe an.

Anders wandte sich wieder nach vorne. Sein Führer war plötzlich verschwunden, und noch bevor er auch nur Gelegenheit fand, wirklich zu erschrecken, galt dasselbe auch für den Boden unter seinen Händen. Anders keuchte vor Schrecken und griff blindlings Halt suchend um sich, doch es war zu spät. Er kippte nach vorne und schlitterte kopfüber in die Tiefe.

Gottlob knickte der Gang nicht senkrecht ab und die rasende Schlitterpartie dauerte auch nicht lange. Anders vollführte eine unfreiwillige Achterbahnfahrt und schlug sechs oder sieben Meter tiefer auf; mit einem Dröhnen, als wollte das gesamte Gebäude rings um ihn herum zusammenbrechen, aber ohne sich wirklich wehzutun. Er blieb einen Moment benommen liegen, dann richtete er sich mit einem Ruck auf und schlug sich prompt den Kopf an der niedrigen Decke des Lüftungsschachts an.

Ein leises Lachen erscholl. Anders blinzelte, richtete sich ein zweites Mal und entsprechend vorsichtiger auf und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es war fast vollkommen dunkel hier drinnen, sodass er auch jetzt nur einen Schatten sah, aber die Stimme hatte sehr hell geklungen; und sehr jung.

»Hast du dir wehgetan?«

»Nicht besonders«, antwortete Anders. »Wer bist du?«

»Später.« Der Schatten bewegte sich raschelnd. »Komm jetzt. Wir müssen weg.«

Seine erste Einschätzung schien richtig gewesen zu sein. Die Stimme eines Kindes, vielleicht auch eines Jugendlichen, der nur unwesentlich jünger war als er selbst.

Auf jeden Fall die Stimme von jemanden, der Recht hatte. Sie mussten weg hier, und das so schnell wie möglich. Die Luft roch verbrannt und es war spürbar wärmer hier drinnen, als es sein sollte. Das Haus brannte. Und da waren immer noch seine Verfolger. Auch wenn sie ihm nicht hierher gefolgt waren, konnten sie ihn und diese ganze Bruchbude mit dem Hubschrauber in Stücke schießen, wann immer sie wollten.

»Pass auf!«, erscholl die Stimme seines Retters vor ihm. »Es geht wieder nach unten.«

Die Warnung machte es nicht viel besser. Er erschrak nicht mehr, aber die Rutschpartie wurde kein bisschen weniger unangenehm und sie dauerte auch deutlich länger als die erste. Der Aufprall war entsprechend härter und das lang nachhallende Scheppern und Dröhnen musste im ganzen Gebäude zu hören sein.

Anders richtete sich hastig auf und sah etwas, das ihn nun wirklich erschreckte: Die Dunkelheit war einem unheimlichen düsterroten Licht gewichen, das vom unteren Ende des Schachtes kam. Es war noch wärmer geworden.

»Das Haus brennt«, sagte er. »Kommen wir da durch?«

»Dort oder überhaupt nicht«, antwortete sein Retter. »Und wenn wir noch lange warten, ganz bestimmt nicht. Kannst du noch weiter?«

Anders nickte. Er konnte sein Gegenüber immer noch nicht richtig erkennen, nur dass es sehr schlank und klein zu sein schien; und sehr blass. Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, wandte die Gestalt sich um und kroch erstaunlich flink weiter. Der Gang führte ungefähr fünfzehn oder zwanzig Meter geradeaus und ging dann wieder in eine jähe Schräge über, und als Anders anhielt und in die Tiefe blickte, stockte ihm der Atem.

Unter ihnen tobte die Hölle. Ein Teil der Seitenwand war weggerissen und roter Feuerschein und Flammen züngelten in den Schacht hinein. Anders konnte nicht sagen, ob das Metall dort unten wirklich glühte oder es nur der rote Widerschein der Flammen war, den er sah. Die Hitze berührte sein Gesicht wie eine warme, unangenehm trockene Hand, und der Brandgeruch war so stark geworden, er hatte fast Mühe, zu atmen.

»Los jetzt!«

Anders fiel zu spät ein, dass das Licht ihm auch die Gelegenheit bieten konnte, sich seinen geheimnisvollen Retter genauer anzusehen. Dieser zögerte nur einen Sekundenbruchteil, bevor er sich abstieß und mit schützend vor das Gesicht geschlagenen Händen geradewegs in die Flammen hinabschlitterte. Anders bekam nur einen flüchtigen Eindruck von zerschlissenen braunen Stoffhosen, nackten Füßen und wehendem langem Haar von undefinierbarer Farbe, dann raffte auch er all seinen Mut zusammen und stieß sich ebenfalls ab.

Es dauerte nur Sekunden, aber es war die Hölle. Anders schloss die Augen und hielt instinktiv den Atem an und er folgte im buchstäblich allerletzten Moment dem Beispiel seines Retters und riss die Hände vors Gesicht.

Er hatte das Gefühl, über eine glühende Herdplatte zu rutschen. Es war eindeutig nicht nur der Widerschein der Flammen gewesen, den er gesehen hatte. Trotz der schützend vor das Gesicht geschlagenen Hände glaubte er zu fühlen, wie ihm die Flammen das Fleisch vom Gesicht saugten; und er schrie nur deshalb nicht vor Schmerz und Angst auf, weil er fürchtete, dass die glühende Luft seine Lungen versengen würde.

Endlich war es vorbei. Er prallte – diesmal mit grausamer Wucht – auf, schlitterte noch fünf oder sechs Meter weiter und spürte die Gefahr instinktiv. Ohne genau zu wissen warum, riss er die Arme in die Höhe und hielt sich an dem Erstbesten fest, was er zu fassen bekam. Einen Sekundenbruchteil später pendelten seine Beine frei über einem Abgrund, der ebenso gut einen, aber auch hundert Meter tief sein konnte.

Ein brutaler Ruck ging durch seine Handgelenke und setzte sich als Welle kleiner, rasend schnell aufeinander folgender Schmerzexplosionen bis in seine Schultern fort. Anders keuchte, klammerte sich aber trotzdem mit verzweifelter Kraft fest und strampelte vollkommen sinnlos mit den Beinen, als würde er Wasser treten.

»Spring!«, drang eine Stimme von unten zu ihm empor. »Lass los! Es ist nicht tief!«

Anders war so in Panik, dass er es nicht einmal wagte, nach unten zu sehen, aber er hatte auch gar keine andere Wahl, als dem Rat seines Retters zu folgen. Seine Kraft reichte nicht mehr, ihn zu halten. Er sprang.

Nicht tief bedeutete in diesem Fall einen Sprung von guten vier oder fünf Metern. Er prallte auf und rollte sich ganz instinktiv über die Schulter ab. Es gelang ihm nicht annähernd so gut, wie er gehofft hatte, und sein Sturz wurde ziemlich unsanft von etwas ebenso Hartem wie Scharfkantigem gebremst. Er blieb einen Moment lang liegen, wartete vergeblich darauf, dass das Pochen in seinem Knie nachließ, und sah ein schmales, von strähnigem Haar eingerahmtes Gesicht über sich, als er die Augen öffnete.

»Alles in Ordnung?«

»Nein«, stöhnte Anders. »Aber ich lebe immerhin noch. Danke.«

Vorsichtig stemmte er sich hoch und sah sich um. Es war beinahe schon grotesk: Sie waren wieder in der Halle, in der Janniks und seine Flucht begonnen hatte. Direkt über ihm – mindestens fünf oder sechs Meter über ihm! – zog sich ein zerborstener Luftschacht aus ausgeglühtem Metall unter der Decke entlang. Nicht tief? Es war ein Wunder, dass er sich beim Sturz aus dieser Höhe nicht alle Knochen im Leib gebrochen hatte!

Anders erlebte ein zweites Wunder, als er aufzustehen versuchte. Es ging. Sein Bein tat weh und er konnte nicht gerade stehen, sondern war zu einer absurd schrägen Haltung gezwungen wie ein alter Seemann, der sich ein Leben lang gegen den Wind gestemmt hatte, der immer aus derselben Richtung kam. Aber er konnte stehen, und wenn er es nicht übertrieb, wahrscheinlich sogar laufen.

Zum ersten Mal konnte er seinen Retter nun genauer erkennen. In mindestens einem Punkt hatte er sich getäuscht: Es war kein Retter, sondern eine Retter in; ein dunkelhaariges Mädchen, das ungefähr in seinem Alter, aber einen guten Kopf kleiner war als er und bestimmt hübsch gewesen wäre, hätte es zwanzig Kilo mehr gewogen; oder auch dreißig. Ihre eingefallenen Wangen, die tief in den Höhlen liegenden Augen und ihre knochigen Hände jedoch zerstörten diesen Eindruck gründlich. Das Mädchen war halb verhungert, und seine schmutzstarrende Kleidung, die fast nur aus Lumpen zu bestehen schien, unterstrich diesen Eindruck noch. Anders schluckte jedoch alles hinunter, was ihm dazu auf der Zunge lag, und zwang sich zu einem verunglückten Lächeln.

»Mein Name ist Anders«, sagte er. »Ich schätze, du hast mir das Leben gerettet. Danke.«

»Katt«, sagte das Mädchen.

»Katt?« Anders blinzelte verständnislos.

»Mein Name«, erklärte sie. »Ich heiße Katt. Und wenn du noch ein bisschen länger am Leben bleiben willst, dann sollten wir von hier verschwinden.«

Ein seltsamer Name, fand Anders, aber Katt war ja auch ein ziemlich seltsames Mädchen. Und außerdem hatte sie Recht – sie mussten machen, dass sie hier wegkamen. Das Gebäude über ihren Köpfen brannte immer noch und es war auch hier unten schon spürbar wärmer geworden. Nach dem Feuersturm, der das Gebäude gründlich genug heimgesucht hatte, um selbst Glas zu schmelzen, konnte sich Anders eigentlich nicht vorstellen, was hier überhaupt noch brennen sollte. Aber offensichtlich fanden die Flammen noch genug Nahrung. Vielleicht lag es an den unheimlichen Waffen, mit denen der Hai den Brand entfacht hatte.

Er nickte. Katt wollte sich umdrehen und losmarschieren, doch in diesem Moment flammte ein grelles Licht auf, das die Halle in schon fast schmerzhafte Helligkeit tauchte. Anders riss schützend die Hände vors Gesicht, und auch das Mädchen mit dem sonderbaren Namen presste die Augen zusammen und zog instinktiv den Kopf ein.

Diesmal war es kein einzelner Scheinwerferstrahl, der durch das Fenster hereintastete. Sämtliche Fenster und auch die offen stehende Tür waren von gleißendem weißem Licht erfüllt, das so grell war, dass sich das halbe Dutzend schwarz verhüllte Gestalten, das auf das Haus zugestürmt kam, darin aufzulösen schien wie dunkle Eiswürfel in der Glut eines Heizstrahlers.

Katt schrie auf und wirbelte herum und auch Anders folgte ihr ganz instinktiv. Wenn es jemanden gab, der den Weg hier herausfand, dann war es das Mädchen.

Sie rannten fast bis zum anderen Ende der Halle und dann war Katt plötzlich verschwunden. Anders stolperte noch ein paar Schritte weiter und wäre um ein Haar schon wieder gestürzt; denn dort, wo er festen Boden vermutet hatte, gähnte plötzlich ein steil in die Tiefe führender Treppenschacht. Katt war nur noch ein verschwommener Schatten irgendwo an seinem unteren Ende.

Anders griff hastig nach dem verbogenen Treppengeländer und nutzte seinen eigenen Schwung, um die ersten Stufen in die Tiefe zu stürmen. Bevor er unter dem Bodenniveau der Halle verschwand, sah er noch einmal zum Eingang zurück. Seine unheimlichen Verfolger stürzten genau in diesem Moment hintereinander durch die Tür in die Halle. Keiner von ihnen hatte seine Waffe in der Hand, aber das hatten sie auch gar nicht nötig. Trotz ihres plump erscheinenden Äußeren bewegten sie sich mit einer Schnelligkeit, mit der Anders vermutlich nicht einmal dann hätte mithalten können, wenn er ausgeruht und unversehrt gewesen wäre – und er war keines von beidem.

Katt hatte am unteren Ende der Treppe angehalten und wartete auf ihn. In dem herrschenden Zwielicht war ihr Gesicht wieder zu einem bleichen Fleck ohne scharfe Konturen geworden, aber er konnte ihre Nervosität überdeutlich spüren. Sie wedelte ungeduldig mit der Hand und fuhr herum, kaum dass er neben ihr angelangt war.

Anders war vollkommen außer Atem, doch Katt machte keine Anstalten, ihr Tempo zu verringern, sondern eilte ganz im Gegenteil immer wieder ein paar Schritte voraus und blieb dann erneut stehen, um ungeduldig zu ihm zurückzusehen. Auch Anders blickte ein paarmal hastig über die Schulter zurück, jeden Moment darauf gefasst, Männer in schwarzen Schutzanzügen und mit schrecklichen Waffen hinter sich auftauchen zu sehen, aber das geschah sonderbarerweise nicht. Dabei hätte die Zeit für ihre Verfolger mehr als gereicht, sie einzuholen.

»Keine Angst«, sagte Katt plötzlich. Sie hatte seinen Blick richtig gedeutet. »Sie kommen niemals hier herunter.«

»So?«, fragte Anders atemlos. »Und warum rennen wir dann so?«

»Weil wir auch nicht hier sein sollten«, antwortete Katt in leicht verwundertem Ton; so als hätte er die dümmste aller nur vorstellbaren Fragen gestellt. »Es ist schon viel zu spät. Beeil dich.«

Anders versuchte es, doch sein Knie machte mittlerweile so sehr zu schaffen, dass sein Tempo immer langsamer wurde. Seine ausgemergelte Führerin reagierte mit sichtlicher Ungeduld darauf, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars. Anscheinend hatte sie eingesehen, dass er einfach nicht mehr schneller konnte.

Während er erfolglos versuchte wenigstens mit seiner rätselhaften Retterin Schritt zu halten, sah er sich zum ersten Mal wirklich aufmerksam um; allerdings mit kaum größerem Erfolg. Es war so dunkel, dass er selbst Katt nur noch als verschwommenen Schemen erkennen konnte, obwohl sie kaum drei Schritte vor ihm ging. Und selbst wenn das Licht besser gewesen wäre, hätte es wahrscheinlich gar nicht viel zu sehen gegeben – sie befanden sich in einem kahlen Gang aus nacktem Beton. Verrostete Rohrleitungen zogen sich unter der Decke entlang und auch hier entdeckte er in unregelmäßigen Abständen offen stehende Klappen in den Wänden, aus denen zerfetzte Kabelstränge hingen. Dennoch gab es einen Unterschied zwischen diesem Tunnel und dem Treppenhaus oben: Die zerborstenen Lampen, die in regelmäßigen Abständen unter der Decke hingen, waren nicht geschmolzen, und die Wände waren zwar ebenfalls geschwärzt, aber nicht zu Schlacke verbrannt. Die Hitze war hier unten nicht ganz so verheerend gewesen.

»Ich habe mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt«, sagte er nach einer Weile.

»Doch, hast du«, antwortete Katt.

»Dann tue ich es eben noch einmal«, beharrte Anders. »Warum hast du es getan?«

Katt drehte den Kopf und sah zu ihm zurück. Anders konnte ihr Gesicht jetzt noch viel weniger erkennen als vorhin, aber er glaubte ihre Verwirrung regelrecht zu spüren. Sie antwortete auch erst mit einiger Verzögerung und in dem fast flapsigen Ton, in dem man eine bewusst dumme Antwort auf eine ganz besonders dumme Frage gibt. »Mir war gerade danach.«

»Du hast dich selbst in Lebensgefahr gebracht.« Anders blieb ernst.

»Kaum«, antwortete Katt. »Sie haben mich schon oft gejagt, aber noch nie bekommen. Sonst wäre ich kaum hier, um dir den Hals zu retten.« Ihre Stimme wurde leiser. »Sie haben deinen Freund umgebracht.«

»Ja«, meinte Anders. Plötzlich hatte er Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Natürlich hatte er Jannik nicht vergessen, aber Katts Worte hatten den Schmerz aus dem Gefängnis befreit, in das er ihn bisher in seinem Bewusstsein eingesperrt hatte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, spulte sich die ganze furchtbare Szene noch einmal vor seinem geistigen Auge ab, im Bruchteil einer Sekunde und dennoch mit einer grässlichen Präzision, die ihm nicht die kleinste Kleinigkeit ersparte. Den Ausdruck in Janniks Augen, als er sich umdrehte und in die Tiefe stürzte, würde er nie wieder vergessen.

»Ja«, sagte er noch einmal. »Aber vorher hat er auch einen von ihnen erledigt.«

Katt blieb abrupt stehen, er konnte nicht schnell genug reagieren und prallte gegen sie, sodass sie beide taumelten. Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm um und starrte ihn an. »Was?«

»Er hat einen von ihnen erschossen«, wiederholte Anders. »Oder zumindest schwer verletzt. Und er hätte noch mehr von ihnen erwischt, wenn sie ihm einen fairen Kampf geliefert hätten. Jannik war …«, er musste schlucken um die Tränen niederzukämpfen, »… ein guter Mann.«

Anders war selbst fast ein wenig erstaunt, mit welcher Kälte er über den Tod eines Menschen sprach. Und es war nicht nur so dahingesagt. Er wünschte sich in diesem Moment, dass Jannik noch mehr von den Männern in den schwarzen Schutzanzügen erschossen hätte; wenn es möglich gewesen wäre, am besten alle. Auch ihnen war ein Menschenleben nichts wert. Sie hatten Narbenhand kaltblütig ermordet und sie hätten auch Jannik und ihm ohne zu zögern in den Rücken geschossen, wenn sie gekonnt hätten. Sie hatten es schließlich oft genug versucht.

»Das war jetzt nicht dein Ernst«, meinte Katt. »Das sagst du nur um mich zu beeindrucken.«

»Was? Dass er einen von ihnen erschossen hat?« Anders schüttelte den Kopf. »Mir tut nur Leid, dass es nicht mehr gewesen sind.«

Katt starrte ihn durchdringend an. Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen und herauszufinden, ob er log, schien aber zu keinem eindeutigen Ergebnis zu gelangen. Schließlich trat sie kopfschüttelnd zurück. »Wenn das stimmt, wundert es mich nicht mehr, dass sie so wütend sind.«

»Was sind das überhaupt für Kerle?«, fragte Anders. »Du scheinst sie ja ganz gut zu kennen.«

Diesmal ließ Katts Blick keine Zweifel daran aufkommen, dass sie an seinem Verstand zweifelte. »Du bist wirklich ein komischer Bursche, Anders«, sagte sie. »Woher kommst du?«

»Von … weither.« Anders wusste selbst nicht warum, doch er hatte plötzlich das sehr sichere Gefühl, dass es besser war, wenn er ihr noch nicht die ganze Wahrheit sagte.

»Das scheint mir auch so«, entgegnete Katt grimmig. »Aber wenn du mich auf den Arm nehmen willst, dann musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.« Und damit drehte sie sich mit einem Ruck um und stürmte mit so weit ausgreifenden Schritten weiter, dass Anders zurückfiel und sie schon nach einem Moment aus den Augen verlor.

Anders - Die tote Stadt (Anders, Bd. 1)

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