Читать книгу Anders - Die tote Stadt (Anders, Bd. 1) - Wolfgang Hohlbein - Страница 7
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Оглавление»Um Gottes willen, Mann, sind Sie wahnsinnig?«, brüllte die Lautsprecherstimme aus dem Polizeihubschrauber. »Drehen Sie sofort ab oder Sie begeben sich in extreme Lebensgefahr!«
»Was du nicht sagst«, knurrte Narbenhand. Er deutete auf die Schwärze. »Gib Gas!«
»Das ist die allerletzte Warnung!«, schrie die Lautsprecherstimme. »Drehen Sie ab!«
Jannik wollte etwas sagen, doch in diesem Moment ging ein harter Schlag durch die Cessna, wie durch ein Automobil, das unversehens durch ein Schlagloch gefahren war, und fast in der gleichen Sekunde zerplatzte der erste schwere Regentropfen auf der Windschutzscheibe.
Was folgte, war das Gespenstischste, was Anders bis zu diesem Moment jemals erlebt hatte. Das Unwetter … begann nicht. Es war von einem Sekundenbruchteil zum nächsten einfach da. Es war, als wären sie über eine unsichtbare Grenze geflogen, die die eine Welt von der anderen trennte. Gerade waren sie noch durch strahlenden Sonnenschein und nahezu unbewegte Luft geflogen und im nächsten Sekundenbruchteil schlug eine Hölle aus brüllenden Luftwirbeln, Blitzen und Hagelkörnern und faustgroßen Regentropfen über ihnen zusammen. Die Cessna bäumte sich auf wie ein angeschossenes Tier, kippte auf die Seite und begann zu trudeln. Narbenhand schrie vor Schreck und hätte um ein Haar das Messer fallen gelassen, und sein Kamerad ließ seine Pistole tatsächlich fallen und bückte sich hastig unter den Sitz, um sie wieder aufzuheben. Unter normalen Umständen wäre das der Zeitpunkt für Jannik gewesen, die Initiative zu ergreifen und die beiden Möchtegern-Kidnapper zu überwältigen, aber unglücklicherweise hatte er im Moment alle Hände voll damit zu tun, das Flugzeug wieder in seine Gewalt zu bringen.
Auch Anders war nach vorne geschleudert worden, und da er bei all der Aufregung nicht einmal daran gedacht hatte, sich anzuschnallen, konnte er gerade noch die Hände ausstrecken und seinen Sturz am Armaturenbrett abfangen, bevor er sich an dem harten Metall den Schädel einschlug. Das Ergebnis war ein heftiger Schmerz, der durch seine Handgelenke schoss und ihm die Tränen in die Augen trieb.
Das Flugzeug schaukelte so heftig, dass es Anders kaum gelang, sich wieder aufzurichten. Halb benommen und mit nahezu tauben Fingern tastete er nach dem Sicherheitsgurt und ließ ihn mit einiger Mühe einschnappen. Erst dann wagte er es, den Kopf zu heben und nach draußen zu sehen.
Er bedauerte fast sofort, es getan zu haben. Rings um die Cessna tobte die Hölle. Anders nahm alles zurück, was ihm zu der unheimlichen Dunkelheit über der Klamm durch den Kopf geschossen war. Es war ein Gewitter, und zwar das mit Abstand schlimmste, das er jemals erlebt hatte. Der Himmel über ihnen war völlig schwarz, aber Anders war nicht einmal sicher, ob es wirklich der Himmel war. Die Cessna hüpfte so wild hin und her, dass er nicht mehr sagen konnte, wo oben oder unten war, rechts oder links. Jannik schrie irgendetwas, das er nicht verstand, und der Kerl hinter ihm hatte die Pistole wieder aufgehoben und fuchtelte panisch und vollkommen sinnlos damit herum. Ab und zu zerrissen gleißende Blitze die schreckliche Dunkelheit, und in diesen Augenblicken konnte Anders das Gemisch aus kinderfaustgroßen Hagelkörnern und kaum weniger großen Regentropfen erkennen, das aus allen Richtungen zugleich auf die kleine Maschine eintrommelte.
Die Kanzel dröhnte, als würde sie von unsichtbaren Riesen mit Fäusten bearbeitet, und die meisten Instrumente auf dem Armaturenbrett schienen entweder ausgefallen zu sein oder spielten verrückt.
»Verdammt noch mal, was ist da los?!«, brüllte Narbenhand. »Bring die Kiste unter Kontrolle!«
»Ich schaffe es, keine Angst«, antwortete Jannik. »Behaltet die Nerven.«
Es dauerte noch eine Weile – vielleicht nur Sekunden, die Anders wie eine Aneinanderreihung schierer Ewigkeiten vorkamen –, doch dann erkämpfte er sich die Gewalt über das bockende Flugzeug tatsächlich Stück für Stück zurück. Die Cessna torkelte immer noch hin und her wie ein kleines Boot, das in einen Orkan geraten war, und der Höllenlärm machte es weiterhin unmöglich, sich anders als schreiend zu verständigen, aber zumindest war Anders jetzt sicher, dass sie nicht mehr auf dem Rücken flogen. Wenigstens fast.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, schrie Narbenhand. »Davon war keine Rede. Wenn das ein Trick ist, wirst du es bereuen!«
»Kein Trick«, antwortete Jannik. »Die Instrumente spielen völlig verrückt! Ich muss tiefer gehen um mich zu orientieren.«
Diesmal gab es keinen Zweifel daran, dass die Angst in seiner Stimme echt war. Auf seiner Stirn perlte Schweiß, obwohl die Temperaturen in der Kanzel mit jedem Augenblick weiter fielen, und er hielt den Steuerknüppel so fest, als versuchte er ihn zu zerbrechen.
»Wie hoch sind wir?«, schrie Narbenhand.
»Keine Ahnung!«, brüllte Jannik zurück. »Aber ich gehe tiefer! Wir müssen uns orientieren!«
Narbenhand widersprach nicht, und so senkte Jannik die Nase der bockenden Maschine ein wenig. Anders spürte, dass sie an Höhe verloren. Sehen konnte er es nicht. Die Schwärze, die die Maschine umgab, war noch immer total. Die grellen Blitze, die in unregelmäßigen Abständen aufzuckten, trugen nicht im Geringsten zu seiner Orientierung bei, sondern schienen seinen Gleichgewichtssinn im Gegenteil nur noch mehr zu verwirren.
Dann, ganz kurz, sah er doch etwas. Ein ganz besonders greller, tausendfach verästelter Blitz spaltete den Himmel in zwei asymmetrische Hälften, und in seinem bleichen Widerschein erkannte Anders, dass sie sich dem Boden schon bedrohlich weit genähert hatten. Die Cessna flog allerhöchstens noch achtzig oder hundert Meter hoch und auch diese Distanz schmolz rasend schnell zusammen. Nicht nur Anders schrie in reiner Todesangst auf, sondern auch alle anderen; aber das Geräusch ihrer Stimmen ging im Brüllen des Sturmes und dem protestierenden Heulen des Motors unter, als Jannik die Maschine in einer verzweifelten Bewegung nach oben riss. Trotzdem schien ihnen der Boden noch weiter entgegenzuspringen. Langsam, unendlich und quälend langsam kippte die Cessna in die Waagerechte und begann dann endlich wieder zu steigen. Anders hatte das grässliche Gefühl, dass sie dem Boden dabei nahe genug kamen, um ihn mit der ausgestreckten Hand mühelos zu erreichen.
Aber er bemerkte auch noch etwas: Ganz kurz, bevor das gleißende Flackern des Blitzes erlosch und sie wieder in die brodelnde Wolkenmasse eintauchten, glaubte er zu erkennen, wieso die bizarr geformten Felszacken und -grate, die wie steinerne Reißzähne nach dem Bauch der Cessna schnappten, so sonderbar symmetrisch aussahen. Es waren keine Felsen. Es waren Ruinen. Unter ihnen lagen die brandgeschwärzten, ausgeglühten Ruinen einer gewaltigen Stadt.
Das flackernde Licht erlosch endgültig und die unheimliche Dunkelheit schloss sich wie ein gewaltiges Leichentuch um die Cessna.
Anders blinzelte. Als er die Augen wieder öffnete, war die Schwärze unter ihnen wieder genauso absolut wie die über ihnen. Und er musste sich getäuscht haben. Eine Stadt, so weit oben im Gebirge? Unmöglich.
Die Cessna schüttelte sich immer heftiger, kippte von einer Seite auf die andere und wieder zurück und drohte komplett abzuschmieren, bevor Jannik die Kontrolle über das Steuer zurückerlangte.
Plötzlich leuchteten auf dem Instrumentenbrett vor Jannik gleich drei rechteckige rote Warnleuchten auf und unmittelbar danach eine vierte, heftig flackernde grüne Taste. Jannik streckte die Hand aus um sie zu drücken. Eine der drei roten Lampen erlosch – und dann die zweite. Anders wusste zwar nicht wieso, aber er hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, einem gnadenlosen Countdown zuzusehen, an dessen Ende etwas Furchtbares geschehen würde.
Jannik brauchte weitere entsetzliche Sekunden, um die Cessna wieder weit genug zu stabilisieren, dass er es wagen konnte, eine Hand vom Steuerknüppel zu lösen und nach der immer hektischer flackernden grünen Taste auszustrecken.
Ein peitschender Knall erscholl und eine handlange orangerote Feuerzunge leckte an Janniks Schulter vorbei und stanzte ein rauchendes Loch in das Instrumentenpult, genau dort, wo sich das flackernde grüne Licht befunden hatte.
Jannik schrie so gellend auf, als hätte der Pistolenschuss ihn getroffen und nicht die Instrumententafel, und stieß dem Schützen den Ellbogen mit solcher Wucht ins Gesicht, dass dieser die Waffe fallen ließ und sich wimmernd in seinem Sitz krümmte. Heulend schlug er die Hände vors Gesicht.
»Du bist doch verrückt!«, wimmerte er. »Dafür bringe ich dich um, du Hund!«
»Das ist gar nicht mehr nötig«, sagte Jannik. »Du hast uns gerade alle umgebracht, du Idiot.«
Er riss so abrupt am Steuerknüppel, dass Anders schon wieder gegen das Instrumentenpult geschleudert worden wäre, hätte er sich nicht angeschnallt, und zwang die Cessna in eine steil nach unten führende Pirouette, die sie einen Großteil der gerade so mühsam gewonnenen Höhe kostete.
»Was tust du da?«, brüllte Narbenhand.
»Ich versuche unser Leben zu retten!«, antwortete Jannik. »Wir müssen hier raus!«
Wieder zuckte ein Blitz auf. Irgendetwas daran war anders, aber Anders kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn Jannik riss am Steuerknüppel und flog eine komplette Rolle, die ihn schon wieder in die Sicherheitsgurte schleuderte und den Kopf des Kidnappers hinter ihm unsanft mit dem Kanzeldach kollidieren ließ. Es folgte ein jäher Schlenker nach links und dann ein abermaliger rasender Sturzflug. Anders klammerte sich mit verzweifelter Kraft an seinem Sitz fest und auch die beiden Kerle hinter ihm, die nicht das Glück gehabt hatten, sich anzuschnallen, hatten etwas anderes zu tun, als etwas gegen Janniks wahnwitzige Flugmanöver zu unternehmen. Sie schrien irgendetwas, was Anders nicht verstand und vermutlich auch gar keinen Sinn hatte, und Jannik kämpfte immer verbissener mit dem Steuerknüppel und zwang die Cessna zu wilden Flugmanövern, die die zerbrechliche Maschine bis an die Grenzen belasteten. Er benahm sich wie ein Kampfpilot, der verzweifelt versuchte feindlichem Feuer auszuweichen.
Und es endete auch so. Jannik ließ die Cessna einen weiteren abrupten Hüpfer nach rechts machen, und es war ein reiner Zufall, dass Anders genau in diesem Moment den Kopf wandte und aus dem Fenster sah.
Es dauerte weniger als eine Sekunde. Etwas in Anders glaubte es nicht einmal in dem Augenblick, in dem er es sah: Eine ganze Salve bleistiftdünner, grellblauer Lichtbolzen raste aus der Dunkelheit herauf, stanzte eine perfekte Linie glühender runder Löcher in die Tragfläche und war wieder verschwunden, noch bevor Anders’ Augen sie überhaupt richtig erfassen konnten. Für einen kurzen Moment schlugen Flammen aus der Tragfläche und erloschen sofort wieder, als der rasende Fahrtwind sie ausblies, aber Anders sah voll maßlosem Entsetzen, dass die Tragfläche im wahrsten Sinne des Wortes perforiert war. Selbst wenn die Cessna nur ganz einfach geradeaus geflogen wäre, hätte das die angeschlagene Tragfläche wohl kaum länger als ein paar Augenblicke mitgemacht. Der mörderischen Belastung durch Janniks wildes Flugmanöver hielt sie genau …
bis jetzt stand.
Anders beobachtete aus ungläubig aufgerissen Augen, wie die Tragfläche wie in einer bizarren Zeitlupenaufnahme nach oben wegknickte, noch eine halbe Sekunde wie ein absurder Wimpel im Fahrtwind flatterte und dann endgültig abgerissen wurde.
Die Cessna kippte über die beschädigte Tragfläche weg und begann in hoppelnden Spiralen in die Tiefe zu stürzen. Anders schrie in purer Todesangst auf und klammerte sich an seinem Sitz fest, obwohl er wusste, wie vollkommen sinnlos das war. Auch die beiden Kidnapper hinter ihm schrien, während Jannik immer noch verbissen mit dem Steuerknüppel kämpfte, der mittlerweile regelrecht nach seinen Händen zu schlagen schien.
Draußen zuckte wieder eine ganze Salve blauweißer Blitze auf, in deren flackerndem Licht Anders erkennen konnte, wie rasend schnell ihnen der Boden entgegensprang. Er sah auch, dass er sich nicht getäuscht hatte: Es waren Ruinen, die den Boden bedeckten.
Das Licht erlosch und aus dem rasenden Trudeln der Maschine wurde ein weiterer kompletter Überschlag – und dann brachte Jannik das unmögliche Wunder zustande, die Cessna nicht nur abzufangen, sondern aus ihrem unkontrollierten Sturz ein rasendes Gleiten zu machen.
Für zwei oder drei Sekunden. Dann traf etwas das Leitwerk der Maschine und riss es ab. Das Brüllen des Sturms steigerte sich zu einem trommelfellzerreißenden Crescendo, als der Fahrtwind plötzlich ungehindert durch die Kabine heulte. Nicht nur das Leitwerk war weg, sondern auch der Bursche, der auf Jannik geschossen hatte, während sich Narbenhand noch irgendwie festklammerte.
Die rasende Fahrt ging weiter. Ein neuer Blitz zerriss die Dunkelheit und zeigte Anders eine gewaltige Ziegelsteinmauer, die im Bruchteil eines Atemzugs zur Höhe des Mount Everest anzuwachsen schien, während das Flugzeug ihr entgegenraste.
Jannik riss am Steuerknüppel, und obwohl sie nur noch eine Tragfläche und kein Leitwerk mehr hatte, reagierte die Cessna darauf; wie ein sterbendes Schlachtross, das sich noch im Tode bemühte, seinen Reiter in Sicherheit zu bringen.
Vielleicht war es auch nur Zufall.
Statt in die Ziegelsteinmauer zu krachen, prallte die waidwunde Cessna dicht davor auf die Straße, sprang noch einmal in die Höhe wie ein flach über das Wasser geworfener Stein und schlitterte Funken sprühend in eine mit Trümmern und Schutt übersäte Straße unmittelbar daneben.
Sie war zu schmal, selbst für die schon kastrierte Maschine. Auch die zweite Tragfläche brach ab und der gewaltige Schlag verwandelte das Flugzeugwrack in einen sich rasend schnell drehenden Kreisel, der Trümmerstücke in alle Richtungen schleuderte. Anders wurde nach vorne in die Gurte und wieder zurückgeworfen, irgendetwas traf ihn so hart am Kopf, dass er Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. Glas splitterte. Er schmeckte Blut und spürte, wie etwas tief im Rumpf der Cessna zersplitterte. Die rasende Fahrt ging noch zwei oder drei Atemzüge weiter und endete dann mit einem letzten Schlag, der heftig genug war, um ihn abermals mit so grausamer Wucht in die Gurte zu schleudern, dass er fast das Bewusstsein verlor.
Sekundenlang saß er einfach schlaff in seinem Sitz, nur von seinen Gurten daran gehindert, endgültig zu Boden zu sinken, und kämpfte mit aller Macht darum, nicht in Ohnmacht zu fallen. Flackerndes rotes Licht drang durch seine geschlossenen Lider und sein Mund füllte sich beängstigend rasch mit seinem eigenen Blut. Er hatte sich auf die Zunge gebissen – jedenfalls hoffte er, dass es nichts Schlimmeres war – und auch an seinem Gesicht lief warmes Blut hinab. Das flackernde rote Licht bedeutete Feuer und er saß im Wrack eines abgestürzten Flugzeuges. Wenn er nicht bald hier herauskam, würde er bei lebendigem Leib verbrennen.
Es war dieser Gedanke, der Anders die Kraft gab, die Schwärze wieder aus seinem Kopf zu drängen und die Augen zu öffnen. Im ersten Moment sah er trotzdem kaum etwas. Zuckendes rotes Licht verwandelte die Welt außerhalb des zerborstenen Cockpits in ein höllisches Kaleidoskop aus zusammenhanglosen Bildern und purem Schmerz, und außerdem war ihm sein eigenes Blut in die Augen gelaufen. Anders blinzelte, machte es dadurch aber eher noch schlimmer und hob mühsam die Hand um das Blut wegzuwischen.
Neben ihm kam Jannik stöhnend zu sich. Er war ebenso angeschnallt gewesen wie Anders, schien aber trotzdem mit der Stirn auf den Steuerknüppel aufgeschlagen zu sein, denn seine Sonnenbrille war zerbrochen und sein Gesicht blutüberströmt. Mühsam und mit benommen wirkenden, leicht unsicheren Bewegungen richtete er sich auf, nahm die zerbrochene Sonnenbrille aus seinem Schoß und starrte sie eine Sekunde lang verständnislos an. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf und fuhr zu Anders herum.
»Bist du verletzt?«, fragte er erschrocken.
»Keine Ahnung«, nuschelte Anders. Er bewegte sich vorsichtig und lauschte dabei aufmerksam in sich hinein. Es gab nicht besonders viele Stellen an ihm, die nicht wehtaten, aber zumindest schien er sich nichts gebrochen zu haben. »Ich glaube nicht«, verbesserte er sich. Er musste schlucken, um das Blut loszuwerden, das sich in seinem Mund angesammelt hatte. Obwohl er selbst wusste, wie absurd es in einer Situation wie dieser war, wäre es ihm peinlich gewesen, vor Jannik auszuspucken.
Jannik hob die Hand, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Er wirkte noch immer leicht benommen, wie ein Mann, der gerade aus einem tiefen Traum erwacht war und sich noch nicht vollkommen in der Wirklichkeit zurechtfand.
»Wir müssen hier raus«, sagte er. »Kannst du gehen?«
»Ich denke schon«, antwortete Anders. Welche andere Wahl hatte er schon? Jannik wirkte nicht überzeugt. Anders löste rasch seinen Sicherheitsgurt und streckte die Hand aus um die Tür zu öffnen. Sie nahm ihm die Arbeit ab, indem sie herausfiel und scheppernd zu Boden stürzte.
»Sei vorsichtig«, sagte Jannik. Anders hörte, wie er auf der anderen Seite aus der Maschine stieg, drehte sich aber nicht zu ihm um, sondern konzentrierte sich lieber darauf, selbst einigermaßen unbeschadet aus dem Cockpit zu klettern – was ihm im Übrigen sehr viel mehr Mühe bereitete, als er gehofft hatte. Er hatte überall Schmerzen und vor allem sein linkes Knie weigerte sich beharrlich, ihm mit gewohnter Präzision zu gehorchen.
Was er sah, als er umständlich aus dem Wrack der Cessna kletterte, war auch nicht unbedingt dazu angetan, ihm Mut zu machen.
Die rasende Karussellfahrt hatte in der Mitte eines großen, unsauber mit Kopfsteinen gepflasterten Platzes geendet, der an allen Seiten von mehrstöckigen Ziegelsteingebäuden gesäumt wurde. Was er im flackernden Schein des Feuers erkennen konnte, das waren ausnahmslos Ruinen, brandgeschwärzte Hüllen aus verkohltem Ziegelstein und ausgeglühten und verdrehten Stahlträgern, deren leere Fensterhöhlen ihn blicklos anzustarren schienen. Überall lagen Schutt und Trümmer, aber nirgends zeigte sich auch nur die geringste Spur von Leben.
Anders drehte sich herum. Der Anblick auf der anderen Seite unterschied sich nicht von dem hier. Das Flugzeug hatte eine unregelmäßige Spur brennender Trümmerteile zurückgelassen, aber der zerfetzte Rumpf hatte wie durch ein Wunder noch nicht Feuer gefangen. Anders verspürte ein eiskaltes Schaudern, als ihm klar wurde, wie groß das Wunder war, dem sie ihr Überleben verdankten: Der letzte Aufschlag hatte den Treibstofftank abgerissen, der in zehn oder zwölf Metern Abstand wie eine aufgebrochene Blüte aus Metall dalag und Feuer und weiße Glut in alle Richtungen versprühte. Im flackernden Feuerschein erkannte Anders eine verkrümmte Gestalt, die reglos auf dem Kopfsteinpflaster lag. Narbenhand, der es schließlich doch nicht geschafft hatte.
Er hörte, wie Jannik auf der anderen Seite im Wrack der Cessna rumorte und humpelte zu ihm hin, so schnell es sein geprelltes Knie zuließ. Gerade als er die Maschine umrundet hatte, kam Jannik heraus und schob etwas unter seinen Gürtel: die verchromte Pistole, die der ebenso untalentierte wie glücklose Kidnapper fallen gelassen hatte.
»Komm jetzt«, rief Jannik. »Wir müssen weg!«
Anders nahm an, dass er immer noch Angst hatte, das Wrack der Cessna könne Feuer fangen oder einfach wie eine Bombe explodieren – eine Furcht, die nicht gänzlich unbegründet war. Der abgerissene Tank lag zwar in relativ sicherer Entfernung da, aber Anders verstand nicht genug von Flugzeugen um sicher sein zu können, dass es wirklich der einzige Tank der Cessna war; außerdem gab es im Wrack des Flugzeuges noch mehr als genug brennbares Material.
Trotzdem blieb er stehen, wo er war, und deutete zu Narbenhand zurück. »Wir müssen uns um ihn kümmern.«
Jannik tat etwas sehr Seltsames: Er legte den Kopf in den Nacken und suchte rasch, aber sehr aufmerksam den Himmel ab, bevor er antwortete. »Er ist tot«, sagte er dann. »Das kann er nicht überlebt haben.«
»Und wenn doch?«
»Würde er uns nur aufhalten«, antwortete Jannik. Er wedelte ungeduldig mit der Hand. »Komm jetzt. Wir haben keine Zeit!«
Anders war so schockiert, er reagierte gar nicht, sondern starrte Jannik nur aus großen Augen an, sodass dieser ihn kurzerhand beim Arm ergriff und mit sich zerrte. Nach ein paar Schritten verringerte er sein Tempo ein wenig, als ihm klar wurde, dass Anders mit seinem verletzten Knie nicht mit ihm Schritt halten konnte. Aber sehr viel Rücksicht nahm er auch dann nicht auf ihn, ganz im Gegenteil trieb er ihn ziemlich grob vorwärts. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie eines der ausgebrannten Gebäude und traten ein. Jannik zog ihn noch ein gutes Stück mit sich und weg vom Eingang, ehe er endlich seinen Arm losließ.
Anders war noch immer viel zu perplex, um irgendetwas anderes tun zu können als Jannik einfach fassungslos anzustarren. Das war doch nicht der Jannik, den er kannte! Auch er hatte Narbenhand nicht gerade ins Herz geschlossen, aber den Mann einfach liegen zu lassen, ohne sich auch nur davon zu überzeugen, ob er noch lebte oder vielleicht Hilfe brauchte, das sah ihm nun wirklich nicht ähnlich.
»Was soll denn das?«, murmelte er benommen. »Was geht hier vor?«
»Nicht jetzt«, zischte Jannik. Er unterstrich seine Worte durch eine entsprechende, fast befehlende Geste, blickte sich hektisch um und huschte dann mit zwei, drei schnellen Schritten zu einem der glaslosen Fenster und ließ sich davor in die Hocke sinken, um gebannt nach draußen zu sehen. Anders blieb noch ein paar Momente wie betäubt stehen, ehe er die Kraft fand, ihm zu folgen. Jannik bedeutete ihm mit einem hastigen Wink, sich ebenfalls zu ducken, und Anders gehorchte ganz automatisch.
»Jannik, was bedeutet das?«, murmelte er wieder verstört. »Wo sind wir hier? Was ist das für eine seltsame Stadt? Du weißt es doch, oder?«
Im ersten Moment war er fast sicher, dass Jannik gar nicht antworten würde, und tatsächlich verstrichen endlose Sekunden, bevor er schließlich fast widerwillig meinte: »Ja.«
»Und?«, fragte Anders. »Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Ja«, entgegnete Jannik abermals, fuhr jedoch nach einem Augenblick und in zögerndem Ton fort: »Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich, glaub mir.«
»Sehr komisch«, sagte Anders. »Du glaubst doch nicht, dass du damit durchkommst.«
»Doch, das glaube ich«, antwortete Jannik. »Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dich hier schon raus. Noch einmal versage ich nicht«, fügte er leiser und hörbar bitter hinzu.
»Noch einmal?« Anders schüttelte den Kopf. »Spinnst du? Diese Landung hätte nicht einmal Captain Picard besser hingekriegt.«
»Aber der hätte sich bestimmt nicht so übertölpeln lassen. Das hätte nicht passieren dürfen.«
»Was?«
»Was? Fragtest du wirklich was?« Jannik schüttelte ärgerlich den Kopf. »Es hätte nie zu diesem Schuss kommen dürfen. Ich habe einfach nicht vorausgesehen, dass einer dieser beiden Idioten wegen des Unwetters durchdrehen könnte. Das ist doch verrückt! Wenn der Typ nicht das Cockpit zusammengeschossen hätte, hätte ich die Maschine in einem Stück runtergebracht.«
»Ich fand dein Flugmanöver auch so schon beeindruckend«, erklärte Anders. »Immerhin leben wir noch. Und außerdem bist du ja kein ausgebildetes Hijacker-Opfer, oder?«
Jannik blieb ernst. »Es hätte einfach nicht passieren dürfen«, beharrte er. »Nicht mir.«
»Du konntest schließlich nicht ahnen, dass die beiden Typen vor uns da sind«, sagte Anders nun in ebenfalls ernstem Ton. »Ich verstehe sowieso nicht, wie sie das geschafft haben, mit dieser Schrottkarre von Lieferwagen.«
Darauf erwiderte Jannik nichts, aber er sah Anders auf eine ganz spezielle Art an, die ihm klar machte, dass er es sehr wohl verstand.
Dann begriff auch er es: Es war seine Schuld. Die beiden Möchtegernganoven hätten nicht die Spur einer Chance gehabt, sie einzuholen, wenn sie ihren Vorsprung nicht freiwillig verschenkt hätten, indem er den Hummer gefahren hatte. Es war ganz eindeutig seine Schuld. Aber er sparte sich jede entsprechende Bemerkung. Er glaubte Janniks Antwort darauf regelrecht zu hören: Schließlich war es meine Entscheidung, dich fahren zu lassen.
Stattdessen deutete er wieder nach draußen. »Und das?«
Vielleicht hätte Jannik in diesem Moment tatsächlich geantwortet, denn Anders spürte, dass er plötzlich nicht mehr annähernd so entschlossen war wie noch vor ein paar Augenblicken. Doch jetzt war er es, dem das Schicksal zu Hilfe kam: Gerade als Jannik zu einer Erklärung ansetzen wollte, begann sich die verkrümmte Gestalt draußen auf dem Kopfsteinpflaster zu bewegen. Narbenhand lebte.
Anders wollte aufspringen, doch Jannik legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und drückte so fest zu, dass ihm um ein Haar ein Schmerzenslaut entschlüpft wäre. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand nach oben, in den Himmel hinauf.
Anders hob den Blick und für einen Moment stockte ihm fast der Atem.
Ohne dass es ihm bisher aufgefallen war, hatte das Unwetter ebenso schlagartig aufgehört, wie es begonnen hatte. Der Himmel jedoch war nicht leer. Zwei grelle Lichtpunkte näherten sich in rasendem Tempo, und beinahe im gleichen Moment hörte Anders ein dumpfes, rasch näher kommendes Geräusch, das er nach einem weiteren Augenblick als das typische Rotorengeräusch eines Hubschraubers erkannte.
»Na, das ging aber schnell!«, sagte er überrascht und auch unendlich erleichtert. Abermals wollte er aufspringen, und wieder legte Jannik ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück, wenn auch nicht auf so schmerzhafte Art wie gerade. Er schüttelte nur den Kopf.
»Was ist denn los?«, fragte Anders verwirrt.
»Still!«, zischte Jannik. »Und rühr dich nicht!«
Anders war so perplex, dass er sich tatsächlich nicht rührte – doch er blieb nicht still. »Aber wieso denn?«, wunderte er sich. »Das ist doch die Polizei, oder? Ich meine: Sie sind bestimmt gekommen, um …« uns zu retten? Die drei letzten Worte sprach er nicht mehr aus, als er den Ausdruck auf Janniks Gesicht sah. Wenn er jemals Angst in seinen Augen gesehen hatte, dann jetzt. Das da oben war weder die Polizei noch sonst jemand, der gekommen war um sie zu retten.
Mit klopfendem Herzen sah er wieder zum Himmel. Die beiden Lichtpunkte kamen rasch näher und sie bewegten sich unabhängig voneinander, was bedeutete, dass es tatsächlich zwei Helikopter waren, nicht eine Maschine mit zwei Scheinwerfern. Das war seltsam. Fast so seltsam wie die Tatsache, dass die vermeintlichen Rettungskräfte jetzt schon hier sein sollten – auch wenn es ihm nach all den hektischen und turbulenten Ereignissen viel länger vorkam, so waren seit ihrer Begegnung mit dem Polizeihubschrauber doch allerhöchstens zehn Minuten vergangen; und wahrscheinlich eher weniger. Eigentlich war es unmöglich, dass sie so schnell auftauchten.
»Was ist hier los?«, fragte er wieder.
Jannik schüttelte abgehackt den Kopf. »Nicht jetzt.« In seiner Stimme war fast so etwas wie Panik. Anders sah, wie seine Hand an seinem Pullover hinunterwanderte und nach der Waffe griff, die er unter den Gürtel geschoben hatte, sich dann aber im letzten Moment wieder zurückzog.
Er blickte erneut nach oben. Die beiden grellen Lichtkreise waren mittlerweile so nahe gekommen, es war ihm kaum noch möglich, sie anzusehen, ohne dass die gleißende Helligkeit ihm die Tränen in die Augen trieb. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Motorengeräusch. Er konnte nicht genau sagen was, aber es klang nicht wirklich wie das normale Motorengeräusch eines Helikopters. Das sonderbar gedämpfte Flappen nahm weiter an Lautstärke zu, dann wurde aus einem der beiden Lichtpunkte plötzlich der grelle Strahl eines Suchscheinwerfers, der wie eine Pfütze aus grellweißem Licht über die Straße tastete, einen Moment am Wrack der Cessna hängen blieb und dann weiterglitt.
Auch Narbenhand hatte das Licht natürlich bemerkt und richtete sich mühsam auf. Seine Bewegungen wirkten schwach und sonderbar unkoordiniert. Anders nahm an, dass er weniger Glück gehabt hatte als Jannik und er und ziemlich schwer verletzt war. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
Die beiden Lichtkreise teilten sich endgültig. Der Scheinwerferstrahl blieb unverrückbar auf Narbenhand gerichtet, der mittlerweile vollends aufgestanden war und die linke Hand über das Gesicht gehoben hatte, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen. Der zweite Lichtpunkt erlosch plötzlich, und nur einen Moment später senkte sich der sonderbarste Hubschrauber auf den Platz herab, den Anders jemals gesehen hatte.
Die Maschine war riesig, stromlinienförmig und aggressiv geformt wie ein Hai und von einem so tiefen Schwarz, dass sie das Licht regelrecht aufzusaugen schien. Sie war außerdem sehr leise. Das Geräusch, das Anders gehört hatte, war nur das Zischen der Luft, die die bizarr geformten Rotorblätter durchschnitten. Die Turbine selbst schien vollkommen lautlos zu arbeiten.
Doch wenn er den Helikopter schon sonderbar fand, dann fehlten ihm für die drei Gestalten, die nach einem Moment aus dem fliegenden Raubfisch ausstiegen, beinahe die Worte.
Es waren zweifellos Menschen. Aber das war auch so ziemlich alles, was er auf Anhieb sagen konnte. Die drei Männer (wenn es Männer waren) trugen einteilige, glänzende schwarze Anzüge, die nahtlos in Handschuhe und wuchtige schwarze Helme übergingen. Ihre Gesichter verbargen sich hinter schwarz verspiegelten Scheiben und sie trugen klobige Gewehre mit plumpen Läufen in den Händen.
»Wer ist das?«, fragte Anders. Jannik brachte ihn mit einer fast erschrockenen Geste zum Schweigen und Anders wandte sich mit klopfendem Herzen wieder dem Geschehen auf dem Platz zu.
Narbenhand stand nach wie vor im Zentrum des Suchscheinwerfers, den der zweite Hubschrauber auf ihn richtete. Er hatte sich halb umgedreht, um sich dem gelandeten Helikopter zuzuwenden. Die linke Hand hatte er noch immer schützend über die Augen erhoben, mit der anderen winkte er den Männern zu, die aus dem gelandeten Hubschrauber gestiegen waren.
»Dieser Dummkopf«, flüsterte Jannik.
Anders kam nicht einmal dazu, ihn zu fragen, wie diese Worte gemeint waren.
Er sah es.
Narbenhand machte einen Schritt auf die Männer in den unheimlichen schwarzen Schutzanzügen zu und winkte noch einmal, und einer der Männer hob seine Waffe und drückte ab, ohne länger als einen Sekundenbruchteil gezielt zu haben.