Читать книгу Den haben wir voll abgezogen! - Wolfgang Kindler - Страница 5

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Nervös kaute Martini auf seinem Bleistift. Er wollte mich unbedingt sprechen. Allein. Martini hieß eigentlich Martin, er wurde aber in der ganzen Schule nur Martini genannt, denn er war sehr klein. Und er war schwach. Das konnte man im Sportunterricht sehen, wenn seine dünnen Ärmchen aus dem T-Shirt baumelten. Aber weil Martini ein netter und fröhlicher Kerl war, der mit seinem roten Haar und den Sommersprossen lustig aussah, ließ man ihn in Ruhe. Jedenfalls in meiner Klasse, der 9 a der Willy-Brandt-Gesamtschule in Essen. Bis vor Kurzem jedenfalls.

„Du musst mir helfen, Arne. Bitte.“

„Mach ich, aber erst muss ich wissen, worum es geht.“

„Du sagst nichts weiter? Keinem Menschen?“ „Ich verspreche es!“, antwortete ich leicht genervt. Martini hatte mich das jetzt schon zum dritten Mal gefragt. Er musste mächtige Angst haben. Martini sah mich prüfend an. Dann griff er in seine Tasche und zog ein Foto hervor.

Das Bild zeigte einen Hund, der spielerisch in die Luft sprang. Jemand hatte dem Hund mit dickem Filzstift eine Schlinge um den Hals gemalt, die mit einem Baum verbunden war, sodass es aussah, als hätte man den Hund aufgehängt. Martini sah mich ernst an. „Das ist mein Hund, Buster heißt er.“

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund hast.“

„Ich habe ja auch nie von ihm erzählt. Obwohl er für mich das Wichtigste auf der Welt ist.“ „Und was soll das jetzt?“ Ich begriff nichts. „Dreh das Foto mal um.“

Ich folgte seiner Aufforderung und kapierte immer noch nichts: „1000 Euro, steht hier. Mehr auch nicht. Was soll das?“

„Ich bin mir sicher, dass jemand 1000 Euro von mir haben will, damit meinem Hund nichts passiert.“


Mein erster Gedanke war, Martini zu sagen, dass er verrückt sei. Aber dann überlegte ich: Martinis Eltern waren reich, eigentlich die einzigen Eltern in meiner Klasse, die viel Geld hatten. Mit Ausnahme von Mikes Vater, der sich aber abgesetzt hatte. Die Gesamtschüler an meiner Schule stammten meist nicht aus reichen Elternhäusern. Wenn also bei jemandem aus unserer Klasse Geld zu holen war, dann bei Martini.

„Wie bist du an das Foto gekommen?“, wollte ich wissen.

„Es war in einer Schutzfolie, die an meinem Fahrrad hing. Jemand muss sie im Fahrradkeller heimlich befestigt haben. Jemand, der mich gut kennt. Das Foto ist durch die Hecke vor unserem Grundstück aufgenommen worden. Wenn man genau hinschaut, kann man unseren Garten erkennen.“

„Ich wusste gar nicht, dass ihr einen so großen Garten habt.“


Es entstand eine längere Pause. Die ganze Sache kam mir merkwürdig vor. „Und was wirst du jetzt tun?“, wollte ich wissen.

„Ich soll bis morgen das Geld in einen Umschlag legen, den ich vor der Schule unter dem Sattel meines Fahrrades verstecken soll. Das stand auf einem Zettel, der um das Foto gewickelt war.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.

Ich würde gerne wissen, was du tun willst.“ „Ich werde gut auf meinen Hund aufpassen. Und ich werde nicht bezahlen.“

Martini musste den Kopf in den Nacken legen, um mir in die Augen zu sehen. Ich war nämlich ziemlich groß, der Größte in meiner Klasse. Schon über 1,85 Meter. Außerdem war ich ziemlich stark. Ich trainierte regelmäßig in einem Boxverein. Aber meinem Gesicht sah man das nicht an. Ich hatte keine gebrochene Nase oder so etwas. Meine Mutter sagte immer, dass ich ernst aussehe. Aber eigentlich war ich das gar nicht. Im Gegenteil, ich lachte ziemlich viel.


Wahrscheinlich war Martini zu mir gekommen, weil er wusste, dass die anderen Schüler Respekt vor mir hatten, zumindest vor meiner Fähigkeit zu boxen, obwohl ich die außerhalb meines Vereins nicht zeigte.

„Dass du nicht bezahlen willst, finde ich richtig. Das ist bestimmt nur ein Spinner, dessen Drohungen man nicht ernst nehmen muss. Aber sag mal, wie kann ich dir helfen?“

„Du sollst nur ein bisschen auf mich aufpassen, damit mich keiner …“ Martini musste nicht weiter sprechen. Ich wusste, dass ich ihn beschützen sollte. Das hatte ich schon öfter getan. Meist gegen Stevie und seine Gang.


Stevie war einer der unangenehmsten Typen in unserer 9a. Er war nicht besonders groß, mehr als einen Kopf kleiner als ich, aber er wirkte stark und fit. Und weil er, wenn irgendwas vorfiel, sofort heftig reagierte, schüchterte er viele ein. Stevie hatte blondes Haar, das in alle Richtungen abstand. Auf den ersten Blick schien er nett und fröhlich zu sein, aber ich fand, er hatte einen verschlagenen Gesichtsausdruck. Außerdem klaffte zwischen seinen vorderen Schneidezähnen eine Lücke. Das sah lustig aus, aber den Leuten, die von Stevie angespuckt wurden, wenn er mal wütend war, war dann wohl kaum zum Lachen zu Mute. Stevie konnte nämlich von einer Sekunde auf die andere sehr gemein werden. Viele aus meiner Klasse fürchteten seine Wutausbrüche. Vielleicht war er deshalb der Boss von Marvin, Timo und Dominik. Die vier hingen ständig zusammen und nervten. Vor mir hatten sie allerdings Respekt und ließen mich in Ruhe. Das wusste auch Martini. „Glaubst du denn, dass Stevie und seine Gang hinter der Sache stecken?“, wollte ich wissen.

Martini runzelte die Stirn: „Keine Ahnung. Aber das kommt mir zu clever vor. Wenn Stevie mich abziehen wollte, würde er mich in einer Ecke festhalten, mich schlagen und mir drohen, glaube ich zumindest. Aber vielleicht war er es trotzdem.“

Wir rätselten noch eine ganze Weile, kamen aber nicht weiter. Ich versprach Martini, darauf zu achten, dass keiner etwas gegen ihn unternehmen würde.


„Ist dir was aufgefallen?“, wollte ich am nächsten Morgen wissen, als Martini unmittelbar nach mir in die Klasse kam.

„Nein, ich hatte nicht den Eindruck, dass ich beobachtet wurde“, meinte Martini. „Aber unser alter Fahrradkeller ist auch zu dunkel. Da sieht man nichts.“

Nach und nach füllte sich die Klasse. Kurz vor Unterrichtsbeginn kamen auch Frank und Mike. Sie wirkten wie Zwillinge. Sie waren gleich groß, hatten beide dunkles, gegeltes Haar, trugen oft schwarze Sonnenbrillen, und sie hatten wie immer ihre Lederjacken an, obwohl es heute etwas zu warm dafür war. Die beiden hingen eigentlich immer zusammen, sodass man sich keinen von ihnen als Einzelperson vorstellen konnte. Ich konnte sie gut leiden. Frank und Mike gaben nicht an, ließen sich nichts gefallen, auch nicht von einem Lehrer, und sie waren cool. Gut fand ich auch, dass die beiden großzügig waren. Sie spendierten mir und anderen aus der Klasse öfter mal etwas. Mike hatte immer Geld. Er sagte: „Das stammt von meinem Vater. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er abgehauen ist. Damit er sich besser fühlt, schiebt er mir jede Menge Kohle rüber. Und ich nehme sie ihm ab, um ihm einen Gefallen zu tun.“

Zuletzt, unmittelbar vor dem Schellen, kam Stevie mit seiner Gang in die Klasse. Er rempelte Jochen an und grölte: „Kannst du nicht einmal aufpassen?“

Jochen war ein schüchterner Typ, der stotterte, wenn er aufgeregt war. Er ging gebückt, den Kopf gesenkt, so als suchte er etwas auf dem Boden. Jochen war sehr still. Nur wenn man ihn ganz heftig ärgerte, explodierte er manchmal. Aber das wirkte nicht bedrohlich, einige fanden das sogar lächerlich. Er wurde immer wieder von Stevie und seinen Leuten gequält. Meistens machten die vier ihn nach und lachten wie verrückt, wenn Jochen vor Aufregung wieder mal stotterte. Auch jetzt lachte die Gang wieder und gab Stottergeräusche von sich, bis sie von Sümeye unterbrochen wurde.


Sümeye war eine kleine Türkin, sehr klug, immer in Bewegung, mit großer Power.

Sie war unsere Klassensprecherin, und alle hatten Respekt vor ihr. Meist strahlten ihre großen dunklen Augen fröhlich. Aber wenn sie wütend wurde, verengten sie sich zu schmalen Schlitzen und funkelten vor Energie. Dann bekam ich immer ein ungutes Gefühl und ging ihr lieber aus dem Weg.

Wenn Sümeye wütend war, schien sie jede Angst zu verlieren.

Jetzt baute sie sich vor Stevie auf. „Lasst Jochen doch endlich mal in Ruhe!“, fauchte sie.

Jochen hatte sich noch kleiner gemacht und blickte wieder starr auf den Boden, während Stevie, Marvin, Timo und Dominik so aussahen, als wüssten sie nicht, ob sie zunächst auf Jochen oder Sümeye losgehen sollten. „Hört doch endlich mal mit der Kinderkacke auf!“, sagte Mike lässig.

Seine Ruhe schien Stevie noch wütender zu machen.

„Willst du was aufs Maul?“, fauchte er.

Die ganze Klasse war ruhig. Alle warteten darauf, was als Nächstes geschehen würde. „Mike hat Recht!“ Wieder war Sümeyes Stimme zu hören. „Das ist Kinderkacke.

Euer ewiges Ärgern ist nicht witzig, das ist einfach nur doof. Erzähl doch mal, Stevie, was du davon hast, wenn du mit deinen Typen Jochen mobbst. Tut dir das gut?

Fühlst du dich dann stark? Wie mies muss man sich eigentlich selbst finden, um so etwas nötig zu haben?“

Stevie starrte Sümeye an. Er wurde erst blass im Gesicht, und dann lief er rot an. Seine Lippen zitterten vor Zorn. „Jetzt kriegst du was aufs Maul.“

„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun!“, mischte ich mich ein und schob mich zwischen Stevie und Sümeye.

Wütend starrte Stevie mich an. Erst schien er ausholen zu wollen, doch dann wich er zurück. „Du hast nur so ein großes Maul, weil du ein dämlicher Boxer bist.“

Dass ich in einem Boxverein bin, wussten bis vor Kurzem nur wenige aus der Klasse. Ich hatte Stevie einmal gewarnt, als er sich mit mir anlegen wollte. Sonst hatte ich einfach keine Lust, darüber zu sprechen. Man muss schließlich nicht damit angeben, Boxer zu sein. Bevor der Streit weiterging, kam unser Englischlehrer Herr Kuhn in die Klasse. Verspätet, wie immer. „Good morning, boys and girls.“ Damit war der Streit zunächst beendet.

Den haben wir voll abgezogen!

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