Читать книгу Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner - Страница 7

3.

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„Seit die SS weg ist“, schreibt meine Mutter abends auf das Kalenderblatt vom 27. März, „fragen die Kinder mich, warum wir nicht längst aus Danzig geflohen sind. Warum ich nicht ohne Ernst mit ihnen ins Reich gefahren bin. Im Januar hatten wir Karten für das Flüchtlingsschiff ‚Wilhelm Gustloff’. Aber ich wollte meinen Ernst nicht alleinlassen. Er war verpflichtet, in Danzig zu bleiben. Dann wurde die ‚Wilhelm Gustloff’ torpediert und ging unter – mit Tausenden von Frauen und Kindern. Und alle aus der Verwandtschaft beglückwünschten mich, dass ich im letzten Augenblick die Schiffskarten zurückgegeben hatte.“

In dieser Nacht wird es draußen ruhig, zum ersten Mal, seit im Januar die Offensive der Russen begann. Kein Fliegerangriff mehr. Keine Granaten heulen übers Haus. Keine Luftminen explodieren in unserer Nähe. Nur Gewehrfeuer ist in der Ferne zu hören. Dann verstummen auch die MGs. Die plötzliche, ungewohnte Stille macht uns Angst. Wir sitzen im Luftschutzkeller eng aneinandergedrückt und beten. Plötzlich fällt Klara etwas ein. Rasch schickt sie Diti nach oben. „Schau nach, ob die SS etwas vergessen hat, das die Russen nicht finden dürfen!“

Als Diti wieder herunterkommt, sagt er: „Die haben vielleicht gehaust! Überall stehen leere Flaschen herum! Die müssen total besoffen abgezogen sein! Und die Klos vollgekackt! Die Schweine! Sie haben doch gemerkt, dass kein Wasser mehr läuft!“

Papa fragt: „Hast du meine Uniform gut vergraben?“ Papa hatte zwei Uniformen: die braune SA-Uniform und die feldgraue Wehrmachtsuniform eines Reserveoffiziers. Beide Uniformen hat er seit langem nicht mehr getragen. Schon 1941 ist er vom Wehrdienst befreit worden. Die SA-Uniform hat Diti vor Wochen im Ofen unserer Zentralheizung verbrannt. Die Wehrmachtsuniform hat er vor ein paar Tagen in den Jäschkentaler Wald gebracht und in einen Luftminenkrater geworfen – ein Loch so groß, dass man ein Einfamilienhaus hineinstellen könnte. Zum Vergraben kam Diti nicht mehr. Die Artillerie begann wieder zu schießen, und Diti rannte um sein Leben.

„Soll ich ein weißes Laken heraushängen?“ fragt Diti. „So wissen die Russen gleich, dass aus unserem Haus nicht geschossen wird!“

Davon will mein Vater nichts hören. „Die SS könnte zurückkommen…!“

Warnend hatte der schneidige SS-Mann erzählt: „In der Halben Allee, zwischen Danzig und Langfuhr, hängen die Bäume voll deutscher Soldaten, die die weiße Fahne geschwenkt haben, die kapitulieren oder desertieren wollten…!“

Das Rosenkranzbeten macht uns schläfrig. Einer nach dem anderen verstummt, schließlich schlafen alle, unter Tischen und Stühlen, auf Matratzen, die fast den ganzen Boden des Luftschutzkellers bedecken.

Mitten in der Nacht werden wir aus dem Schlaf gerissen: Auf der Straße fahren schwere Panzer vorbei. Das Haus dröhnt vom Rasseln der Ketten. Fräulein Plasse schaut hinter ihrem Vorhang hervor und ist ganz aufgeregt: „Unsere Truppen kommen zurück!“

Ein wenig später - Schritte über uns. Männer poltern durchs Haus. Zum ersten Mal hören wir russische Stimmen. Die Tür wird aufgerissen, die in den Keller führt. Jemand tastet die dunkle Treppe herab. Wir sitzen auf unseren Matratzen am Fußboden, beten laut und starren voll Angst in den Flur. Eine Pistole mit langem Lauf schiebt sich um den Treppenvorsprung und richtet sich auf uns. Mein Herz klopft so stark, dass ich es im Hals spüre.

Ich sitze der Tür gegenüber, die in den Flur und zur Treppe führt. Auf mich kommt der Russe zu, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug – mich wird er als ersten niederknallen… Aber der russische Soldat schießt nicht. Er schaut sich überrascht im Luftschutzkeller um: So viele Frauen, Kinder und alte Leute auf so engem Raum! Fröhlich ruft er: „Guten Tag! Gitler kaputt!“

„Gitler“ klingt so komisch! Dass bisher keiner auf die Idee gekommen ist, unseren geliebten Führer ‚Gitler’ zu nennen. Wir brechen in befreiendes Gelächter aus, lachen unsere Todesangst weg, und der Russe lacht mit.

„Sind hier Faschisten? Soldaten?“ fragt der Rotarmist.

„Nein! Keine Soldaten!“ rufen wir alle.

Der Russe steckt die Pistole in die Ledertasche, die an seinem Gürtel hängt, und greift nach dem Glas Wein, das Papa ihm zur Begrüßung reicht. Doch beim ersten Schluck verzieht der Soldat das Gesicht und flucht. Gleich ist bei uns die Angst wieder da. Was hat Papa falsch gemacht? Er hat die Flaschen verwechselt - versehentlich hat er dem Russen Wasser eingeschenkt. Schnell öffnet Diti eine Weinflasche. Diesmal schmeckt es dem Russen, er strahlt. Aus seiner Feldflasche bietet er Papa einen Schluck an, und Papa trinkt. „Wodka!“ sagt Papa anerkennend, ehe er die Feldflasche dem Russen zurückgibt.

Andere Soldaten kommen herunter, drängen sich im engen Keller, schauen neugierig, freundlich zu uns herein. Auch sie wollen einen Begrüßungsschluck – und kriegen ihn.

Ein Russe schlägt den Vorhang beiseite, hinter dem sich Fräulein Plasse versteckt. Verlegen lächelnd kreuzt sie die Arme vor der Brust. Dabei wird ihre Armbanduhr sichtbar. Der Russe bedeutet ihr, sie abzunehmen. Fräulein Plasse reicht ihm die Uhr, und er geht.

Der Russe, der nach ihm kommt, zerrt Fräulein Plasse aus ihrer Ecke. Sie hat das Unglück, der Tür am nächsten zu sitzen. Papa stolpert über die Matratzen, um Fräulein Plasse zu Hilfe zu kommen. Begütigend redet er auf den Russen ein. Der stößt ihn weg, zerrt weiter an Fräulein Plasses Arm. Wir schreien durchdringend. Fluchend geht der Russe aus dem Keller.

„Die Frauen nach hinten“, sagt Papa, „hinter die Pfeiler, schnell!“

Von unserem Geschrei alarmiert, kommt ein russischer Offizier die Treppe herunter, ein kleiner drahtiger Mann mit tadellos gepflegter Uniform voller Ordensspangen.

„Warum habt ihr geschrien?“ fragt er auf Deutsch. Weinend zieht Fräulein Plasse in die dunkelste Ecke des Kellers um. „Ich bin Kommandant! Ihr könnt mich immer rufen! Ich wohne oben! Wenn meine Soldaten sich schlecht benehmen…“

In dieser Nacht rufen wir ihn ein paarmal. Er kommt zwar nicht herunter, aber das durchdringende Geschrei von zwölf Kindern schlägt die Russen, die den Keller auf der Suche nach Uhren und Frauen durchstöbern, in die Flucht.

Am Morgen wage ich mich hinter Diti hinaus in den Garten. Wo vorher die Raupenfahrzeuge der SS standen, sind jetzt Panjewagen der Russen, leichte, zerbrechlich aussehende Leiterwagen, und kleine Pferde mit dreckigem Fell und struppiger Mähne sind an unsere Obstbäume gebunden und fressen Hafer aus einem Sack, der ihnen um den Hals hängt.

„Wie sind die Russen auf diesen Wägelchen den weiten Weg aus Russland gekommen?“ frage ich Diti.

„Sie haben unsere Hühner geschlachtet“, stellt Diti fest.

Auf der Wiese haben die Russen ein Lagerfeuer gemacht. Am Spieß über dem Feuer braten Hühner. Die Russen, die um das Feuer herumsitzen, springen auf, als ein Panjewagen, der Kisten, Säcke und Fässer geladen hat, in den Garten fährt. Jeder bringt einen Eimer, eine Schüssel herbei – einer hält den riesigen Meißener Teller hoch, auf dem Klara immer das Obst servierte.

„Sie haben unsere Küche geplündert!“ schimpft Diti.

Der Soldat auf dem Panjewagen verteilt Mehl, Butter und Eier. Eine gewaltige Bratpfanne wird herbeigebracht.

„Die machen Pfannkuchen!“ sagt Diti. „Das muss ich sehen!“

„Ob die uns was abgeben?“ frage ich. Doch bis die Pfannkuchen gebacken sind, kann Diti nicht warten. Auf dem Johannisberg fahren Panzer vorbei. Die will er von nahem sehen. Aber auch die Panzer interessieren Diti nicht mehr, als ein kleiner Trupp russischer Soldaten mit einer Kuh aus dem Jäschkentaler Wald kommt. Mitten auf der Straße, gegenüber unserem Haus, erschießt ein Soldat die Kuh mit seiner Pistole. Ein anderer sticht mit einem langen Messer in ihren Hals und fängt das Blut in einem Eimer auf. Im Nu ist die Kuh abgehäutet. Einer der Russen hat einen großen Kugelkessel aus blankem Kupfer herbeigeschafft. Den stellt er auf einen Dreifuß und macht Feuer darunter. Jemand bringt einen Eimer Wasser und schüttet es in den Kessel. Kaum ist die Kuh ausgenommen, säbelt einer der Russen große Stücke herunter und wirft das Fleisch ins Wasser, das schon zu dampfen beginnt. Er gibt uns zu verstehen, wir sollen hierbleiben, gleich würden wir eine Kostprobe kriegen. Als er sich eine Zigarette dreht, will Diti es ihm nachmachen. Beim ersten Mal klappt es nicht, und der Russe lacht. Er dreht Diti eine Zigarette und flucht, als Diti den Tabak, der aus Krümeln und Stängeln besteht, zur Hälfte verschüttet. Wir hocken uns am Feuer nieder; der Duft, der aus dem Kupferkessel steigt, macht uns hungrig.

Dorothee, meine neunjährige Schwester, kommt aus dem Haus und zieht Diti aufgeregt am Arm. „Du musst schnell kommen!“ sagt sie ängstlich.

Wir laufen zurück ins Haus und schauen uns in den Zimmern um. Die Jalousien, die durch den Luftdruck einer Bombe aus ihrer Verankerung gerissen wurden, hängen schief vor den Fenstern. Daher ist es in den Räumen ziemlich dunkel. Russen stapfen über Berge von Büchern, über zerbrochenes Geschirr, Scherben von Kristallgläsern, über Gemälde, die von der Wand gerissen sind, über Tischdecken, Bettzeug, Fotoalben, Matratzen und Teppiche und stochern in alldem mit ihren Gewehren herum. Ein Soldat reißt Hemden, Pullover, Strümpfe und Hosen aus einem Wäscheschrank, auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Um im halbdunklen Zimmer besser sehen zu können, zündet er ein Streichholz an und hält es so lange, bis er sich die Finger verbrennt, dann lässt er es fallen. Sofort entsteht am Boden ein kleines Feuer. Diti tritt es aus. Der Russe geht nach nebenan und durchwühlt einen anderen Schrank, in dem vor ihm viele herumgestöbert haben.

„Geht hinter ihm her!“ sagt er zu Dorothee und mir, und als wir zögern, weil wir Angst vor den Russen haben, schreit er uns an: „Schnell! Ihr seht doch, gleich brennen sie uns das Haus ab! Tretet die Streichhölzer aus!“

Also trampeln wir hinter dem Russen her und treten auf brennenden Papieren und Stoffen herum. Immer neue Russen kommen herein. Unser Haus lockt ganze Kompanien an, sie scheinen bei uns sagenhafte Reichtümer zu vermuten.

„Barbaren“, nennt Diti die Russen, „kulturloses Pack!“, weil sie Bücher aus den Regalen reißen und zu Boden werfen, weil sie auf Ölgemälden herumtrampeln. Aber wenn einer sich an Mamas Flügel setzt und eine Etüde von Chopin spielt, dass es durchs ganze Haus schallt, staunt Diti. Er lacht mit den Rotarmisten, wenn sie ihm Zigaretten drehen und der Machorka seine Kehle so reizt, dass er mit Husten nicht aufhören kann. Wenn er ihren Ruf hört: „Komm, Frau!“, wird Diti wütend und nennt sie Schweine. Mir geht es wie ihm – mal fürchte ich mich vor ihnen, mal lache ich über sie.

Von einem der Russen wird Diti gepackt. „Uri!“ Diti trägt keine Armbanduhr; rechtzeitig hat er sie versteckt. Er zeigt dem Russen die nackten Handgelenke. Der Russe besteht auf einer Uhr. Da sagt Diti: „Komm mit, Russki!“ Und führt ihn in Papas Arbeitszimmer. Auf einem der Bücherschränke steht eine schwere alte Messinguhr mit breit ausladendem, unförmigem Zierrat. Die Regalböden als Leiter nutzend, klettert Diti hinauf, packt die Uhr und reicht sie dem Russen herunter. Der hält das für einen schlechten Scherz. Was soll er mit dem schweren Ding anfangen? Er wirft die Uhr wütend zu Boden. Und weil er denkt, Diti habe ihn zum Narren gehalten, tritt er mit dem Fuß nach ihm und flucht drohend hinter uns her, als wir uns vor ihm in Sicherheit bringen.

Mit Diti fliehe ich die Treppe hinunter in den Keller. Auch hier überall Russen. Einer wühlt im Dunkeln zwischen den Kostbarkeiten, die Klara für Zeiten der Not gehortet hat: Gläser mit Obst aus unserem Garten, Kompott in zellophan-bespannten Töpfen, Fleisch, ganze Hühner in Weckgläsern, sorgfältig beschriftet. Mit Eingemachtem können die Russen wenig anfangen. Krachend fallen die Gläser zu Boden. Unsere Fleischvorräte sagen ihnen mehr zu. Sie schneiden die Würste mit dem Seitengewehr vom Haken und gehen zufrieden hinaus.

Bald ist im Keller kein Durchkommen mehr. Was in Kisten und Koffern sorgfältig verpackt war, liegt verstreut am Boden, vermischt mit dem Inhalt und den Scherben der Weckgläser. Papas Weinvorräte sind längst verschwunden. Nur die Kommissbrote werden nicht mitgenommen. Brot haben sie selber. Schnaps suchen sie. Es heißt, sie trinken alles, was Alkohol enthält, sogar Haarwasser und Parfüm…

Einen Russen hören wir auf Klara einreden: „Komm, Frau!“ Klara schreit um Hilfe. Aber der Russe will etwas anderes, als Klara befürchtet. „Schlüssel!“ sagt er immer wieder und zeigt nach oben. Klara soll ihm folgen, soll oben einen Schrank aufschließen, in dem er ein Schnapslager vermutet.

Im Esszimmer steht Mamas kostbares Büfett aus Birkenholz, daran rüttelt der Russe, es klirrt und klingelt darin, als sei der Schrank voller Flaschen. Klara ist so durcheinander, dass sie den passenden Schlüssel nicht gleich findet. Der Russe kann nicht warten. Er steckt sein Bajonett aufs Gewehr und sticht mit dem langen Messer ins Schloss. Splitternd öffnen sich die Türen: Nichts als Kristallgläser und leere Karaffen. Enttäuscht schlägt der Russe mit der Faust zwischen all das leere Glas, in hohem Bogen fliegt kostbares Kristall durchs Zimmer. Zum Glück lenkt ihn der Zipfel eines Teppichs, der unter dem Unrat am Boden hervorragt, von uns ab, er zerrt den Teppich ans Tageslicht, findet Gefallen an ihm, rollt ihn zusammen, wirft ihn sich über die Schulter und geht aus dem Haus.

Wenn alles in Scherben fällt

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