Читать книгу Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner - Страница 8

4.

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Nachts sind alle Russen betrunken. Sie kommen zu uns in den Keller und wollen die Frauen herausholen. Wir schreien uns die Kehlen heiser nach unserem Kommandanten, doch der lässt sich nicht sehen. Mit einem der Russen kämpft Papa um Klara. Fast hat der Russe sie schon am Arm aus dem Luftschutzkeller gezerrt. Papa bittet und fleht und hält die gellend schreiende Klara am anderen Arm fest, wird dabei immer weiter in den Kellerflur gezogen, weg von uns Kindern, die den Erwachsenen mit dem Hilfeschrei „Kommandant, Kommandant!“ Schutz zu geben versuchen.

„Diti!“ ruft Papa in den Luftschutzkeller, „Diti!“ Der hat sich hinter einem Pfeiler verkrochen und ist in tiefen Schlaf gefallen, als einziger von uns. „Diti, du musst sofort aufstehen, du musst jetzt helfen!“

Taumelnd kommt mein Bruder hinter dem Pfeiler hervor.

„Hilf uns“, sagt Papa, „hol den Kommandanten!“

Diti rennt los – und ich hinterher, an dem Soldaten vorbei, gegen den Klara sich immer noch wehrt. Wir jagen die Treppe hinauf, stolpern oben im Dunkeln über schlafende Russen. Im Wohnzimmer schläft der Offizier, der uns Schutz zugesagt hatte, auf dem Sofa. Wir erkennen ihn an den breiten, mit allerlei Zeichen geschmückten Achselklappen, an den vielen Orden auf der Brust.

Diti redet auf ihn ein, doch der Kommandant schnarcht. Immer wieder rüttelt Diti ihn: „Kommandant… Du musst helfen, du musst kommen!“

Aber der Kommandant wird nicht wach. Wahrscheinlich betrunken. Wütend zerrt Diti an ihm: „Im Keller, da murksen die Russen inzwischen die ganze Familie ab!“

Das Geschrei der Kinder unten und Ditis Rütteln machen den Offizier endlich wach. Torkelnd geht er hinter uns her zur Kellertreppe, reißt die Tür auf und brüllt etwas hinunter. Keiner der Soldaten hört auf ihn. Er stolpert die Stufen hinab, doch sie nehmen keine Notiz von ihm. Unser Kommandant ist klein, und die Soldaten sind schwere, selbstbewusste Kerle. Der Kommandant kann nicht befehlen, muss seinen Soldaten gut zureden, damit sie von Klara ablassen. Es dauert einige Zeit, bis sich das Knäuel um Klara löst. Fluchend gehen die Soldaten aus dem Keller. Der Kommandant folgt ihnen nach oben. Wer weiß, ob er noch einmal kommen wird, um uns zu helfen. In den nächsten Stunden haben wir Ruhe – aber was wird morgen sein?

Am nächsten Tag steigen zwei Russen die Treppe zur Waschküche herunter. Sie gehen schnell, entschieden, als ob sie einen Auftrag haben. Im Keller suchen sie gründlicher als alle, die vorher da waren. In jede dunkle Ecke schauen sie. Aber sie nehmen nichts mit. Endlich kommen sie auch in den Luftschutzkeller. Mama, Klara und Frau Duschau haben die Kleinsten auf den Arm genommen. Ängstlich starren sie den beiden entgegen, die weder „Uri“ sagen noch „Komm, Frau!“, sondern nur „Dokumente!“

Sie lassen sich Zeit mit der Prüfung der Pässe. Großvater erklärt auf Polnisch, wie alt er ist, aber davon nehmen sie keine Notiz.

Sie reichen die Pässe zurück und fragen etwas auf Russisch. Da niemand sie versteht, gehen sie wieder. Ich folge ihnen und erschrecke, als einer von ihnen die Tür zum Heizungskeller öffnet. Ich weiß: Dort ist Papa. Hier unten gibt es keine Toilette, daher gehen die Erwachsenen hinter den Koks. Ich schaue an den Soldaten vorbei in den dunklen Heizungsraum. Papa ist nicht zu sehen. Der Soldat ruft etwas in den Keller, da höre ich Schritte auf dem Koks, und Papa kommt hervor. Der Russe winkt ihn heraus. An der Tür packt er Papa am Arm, hält ihm die Pistole an den Kopf und drängt ihn zur Kellertreppe. Weil Papa die Stufen nicht schnell genug hinaufgeht, gibt der andere Soldat ihm einen Tritt. Papa schaut sich nach ihm um – und sieht mich. Da fange ich an zu schreien...

Schreiend laufe ich zurück in den Luftschutzkeller. „Sie haben Papa mitgenommen!“ Ich werfe mich über den Tisch und schluchze.

„Wo ist Diti?“ fragt Mama ruhig, als habe sie es kommen sehen. „Geh Diti suchen! Sag, er soll Papa hinterhergehen! Er soll aufpassen, wo sie in hinbringen!“

„Lassen sie Papa wieder laufen?“ frage ich heulend. „Lassen sie ihn bald wieder frei?“

„Warum sollen sie ihn festhalten?“ beruhigt Mama mich. „Er hat keinem was getan!“

Weinend laufe ich in den Garten. Diti sitzt bei den Russen am Lagerfeuer, als ob er schon zu ihnen gehört.

„Diti!“ schreie ich. „Sie haben Papa geholt!“

Er springt auf, und zusammen laufen wir auf die Straße. An der Kreuzung Johannisberg – Jäschkentaler Weg stehen, von Soldaten bewacht, etwa dreißig Männer, und immer mehr werden gebracht. Mitten unter ihnen Papa.

„Warum ist er hinter dem Koks hervorgekommen?“ Wieder fange ich an zu heulen. „Warum hat er sich nicht versteckt?“

„Du kennst Papa nicht!“ Diti schüttelt den Kopf. „Papa würde sich nie verstecken! Warum auch? Er hat nichts zu verbergen!“

„Trotzdem haben sie in mitgenommen!“

Eine ganze Weile steht Diti ratlos da, sagt kein Wort, schaut zu Papa hinüber.

„Du musst ihm helfen abzuhauen!“ sage ich.

„Wie denn?“

„Du findest schon einen Weg!“

Diti hat eine Idee. „Bleib hier stehen!“ befiehlt er mir. „Behalt Papa im Auge! Bin gleich wieder da!“

Mit einer Decke, in die ein Kommissbrot gewickelt ist, kommt er zurück. Aber die Posten lassen ihn nicht an Papa heran. Sie drängen die Männer gegen ein hohes Gitter; dahinter, zwischen Bäumen und Hecken, steht ein Schlösschen, die Villa des Postpräsidenten. Diti läuft mir voraus durch die Toreinfahrt, schleicht am Gitter entlang durch den Garten zu den Gefangenen, zeigt einem, der am nächsten steht, unseren Vater und flüstert: „Den Mann da - schleusen Sie den vorsichtig ans Gitter!“

Es dauert lange, bis Papa, Schritt für Schritt zurückweichend, die Posten im Auge behaltend, den Zaun erreicht. Diti will ihm das Päckchen durch die Stäbe schieben, aber das Kommissbrot ist zu dick. Er muss es hinüberwerfen. Ungeschickt und voll Angst, es könnte von den Soldaten bemerkt werden, versucht Papa, das Brot aufzufangen. Es fällt zu Boden. Mehrere Männer bücken sich danach. Diti steckt Papa noch eine Schachtel Zigaretten zu, in den letzten Kriegsjahren eine Kostbarkeit. Papa schüttelt verwundert und gerührt den Kopf. „Wo hast du die her?“

„Mach was, damit er fliehen kann!“ verlange ich von Diti.

Er schüttelt den Kopf.

„Wenn du ihm hilfst, schafft er es bestimmt! Wir verstecken ihn im Wald – oder bei den Koschalkes auf dem Land.“

Einen Augenblick lang ist Diti unsicher. Er schaut zu Papa hinüber.

„Wenn die Russen ihn wegbringen“, versuche ich Diti umzustimmen, „kann er nichts mehr für uns tun, kann Mama und Klara nicht beschützen! Er muss fliehen!“

„Es gibt so etwas wie Ehre“, sagt Diti. „Aber davon verstehst du nichts. Er hat nichts getan, weshalb soll er fliehen? Er hat ein reines Gewissen!“ Dann, nach einem Zögern: „Außerdem glaube ich, Papa ist nicht geschickt genug zum Fliehen...“

Die ganze Zeit behält Papa uns im Auge. Er reckt den Hals, und wenn sich mal ein Größerer vor ihn stellt, schiebt er ihn beiseite. Er hebt die Hand und winkt vorsichtig.

Im Luftschutzkeller erzählt Diti den Erwachsenen, wie streng die Russen Papa bewachen, dass sie uns nicht an ihn ranlassen, dass immer mehr Männer gebracht werden, alle so alt wie Papa und noch älter – viele stützen sich auf einen Stock.

„Wohin können sie die alten Männer schon bringen?“ sagt Mama und macht uns Hoffnung, dass wir Papa bald wiedersehen. „Du musst mit Papa mitgehen“, bittet sie Achim. „Vielleicht lassen sie dich bald wieder frei. Dann wissen wir wenigstens, wo er ist, und können hingehen und ihn verpflegen.“

Sie legt für Achim einen Anzug bereit. Er soll ihn anziehen. Wenn er älter wirkt, nehmen die Russen ihn mit.

„Wo kommt Papa hin?“

„Sicher in der Nähe in ein Gefangenenlager“, vermutet Mama. „Natürlich nur vorübergehend!“

Achim ist skeptisch. „Nur vorübergehend?“ Er wechselt mit Klara einen zweifelnden Blick.

„Wenn die Russen euren Vater so behandeln“, sagt Klara, „wie bei uns die russischen Kriegsgefangenen behandelt wurden… dann hat er nichts zu lachen!“ Aber Mama will jetzt keine Zweifel aufkommen lassen: „Arbeiten mussten die Gefangenen – wie jeder bei uns!“

Klara weiß es besser. Klaras Vater war Häftling im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. „Dort haben auch russische Kriegsgefangene gearbeitet“, sagt Klara, „aber lange hat man sie nicht leben lassen…“

„Papa wird eine Weile interniert, bis der Krieg vorüber ist, dann wieder zu seiner Familie entlassen“, fährt Mama unbeirrt fort, während sie für Achim einen Rucksack packt. „Barackenlager gibt es genug in unserer Gegend, da brauchen die Männer nicht weit zu laufen. Das Narvik-Lager zum Beispiel.“ Sie wendet sich an Großvater. „Du hast erzählt, dass ihr winterfeste Baracken für russische Kriegsgefangenen gebaut habt.“

„Nein, nein“, sagt Großvater, „das musst du verwechselt haben. Meine Leute haben zwar winterfeste Baracken gebaut – aber nicht für Russen!“

Mama hat jetzt Wichtigeres zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, was die Nazis mit ihren Feinden angestellt haben. Sie steckt ein Kommissbrot und eine Flasche Mineralwasser in den Rucksack, denn es geht ja nicht weit, meint sie, Papa und Achim werden nur kurze Zeit fort sein. Obendrauf packt sie frische Wäsche für Papa und eine Decke, und als Achim sich den Rucksack umschnallt, legt sie ihm noch Papas Regenmantel über den Arm. Zum Abschied umarmt sie Achim.

„Wenn du nicht fliehen kannst, musst du eben für Papa sorgen!“

„Mama, ich hab solche Angst!“ sagt Achim leise.

Sie macht ihm ein Kreuzzeichen auf die Stirn. „Hab keine Angst um uns“, tröstet sie ihn. „Diti ist ja da, er wird für uns sorgen. Pass du auf Papa auf!“

Wir bringen Achim zur Tür. Draußen ist es warm geworden. Ein sonniger Frühlingstag. Brandgeruch liegt in der Luft, ein beißender Dunst, es riecht nach verbranntem Holz, angesengten Kleidern, und obwohl nirgendwo in unserer Umgebung brennende Häuser zu sehen sind, schweben überall grauschwarze Flocken zur Erde herab.

Auf Mamas Flügel im Salon klimpert ‚unser’ Kommandant herum. Wir hören die Stimmen der Russen im Haus. Sie lachen und singen ihre herrlichen Lieder.

Als ich in den Luftschutzkeller zurückkomme, packt Frau Duschau hastig die Sachen ihrer Kinder zusammen. „Es brennt in der Nähe, riecht ihr das nicht? Wie schnell kann das Feuer hier sein! Wir müssen raus!“

„Wohin denn?“ fragt Mama. Aber auch sie fängt an zu packen, und Klara hilft ihr dabei.

Reglos steht Fräulein Plasse und schaut zu. „Was mache ich bloß mit meinem schweren Koffer?“ Sie blickt Klara an, als ob sie erwartet, dass Klara ihr den Koffer trägt.

Großvater zankt mit Großmutter um jedes Stück, das sie aus ihren Koffern herausholt, um es in kleinere, leichtere Taschen umzupacken. „Das brauchen wir alles nicht! Wer soll das schleppen?“ Schließlich gibt Großmutter auf. „Lasst uns doch hier!“ stöhnt sie. „Was können die uns alten Leuten tun?“

Frau Duschau drängt zur Eile. „Wir müssen hier raus, solange es Tag ist. Noch so eine Nacht mit den Russen ertrage ich nicht!“

Mama holt Rucksäcke mit Wäsche, die sie nach den ersten Bombennächten für jedes von uns Kindern vorbereitet hat. Jeder muss seinen Rucksack umschnallen. Aber wer soll das Essen, die Wasservorräte, die Decken schleppen? Wohin gehen wir überhaupt? Wie lange werden wir unterwegs sein?

„Diti! Wo ist Diti?“

„Diti ist mit Achim mitgegangen“, sage ich.

„Ohne Diti können wir nicht weg!“ erklärt Mama.

„Gehen wir wenigstens aus dem Keller!“ Frau Duschau wird immer ungeduldiger.

„Nicht durch die Waschküche!“ ruft Klara. In der Waschküche haben die Russen eine Funkstation eingerichtet – der Raum scheint Funker anzuziehen.

„Probieren Sie, ob die Tür zum Notausgang aufgeht“, schlägt Frau Duschau vor.

Vergeblich versucht Klara, den schweren Hebel, der die niedrige eiserne Tür verschließt, herumzulegen. Ich hole ein Beil und schlage auf den Hebel, aber er lockert sich nicht. Die Tür ist nie benutzt worden und der Hebel eingerostet. Einen Augenblick lang haben wir das Gefühl, in der Falle zu sitzen… Da wird der Hebel plötzlich bewegt, quietschend öffnet sich die Eisentür. Diti hat sie von draußen aufgestemmt.

„Ich hab einen Wagen gefunden!“ ruft er uns aufgeregt entgegen.

„Was für ein Quatsch!“ schimpft Großvater. „Lass jetzt diese Kindereien!“

„Ein großer Leiterwagen!“ sagt Diti. „Den haben Flüchtlinge am Straßenrand stehenlassen! Den können wir bestimmt gebrauchen!“

Erst jetzt fällt ihm auf, dass wir alle unsere Rucksäcke umgeschnallt haben. „Was habt ihr vor?“

„Wir müssen hier raus“, erklärt ihm Klara.

„Und zwar schnell!“ fügt Frau Duschau hinzu.

„Wenn Diti einen Wagen hat…“ ruft Fräulein Plasse und zeigt hilflos auf ihren schweren Koffer. Niemand achtet auf sie.

„Wir müssen weg!“ schreit Frau Duschau. „Und zwar bevor es überall brennt!“

Diti zerrt mich durch den Notausgang ins Freie. „Stell dich neben den Leiterwagen und lass ihn dir nicht klauen“, ermahnt er mich streng. „Schrei, wenn einer ihn dir wegnehmen will!“

Er springt in den Keller und hilft erst den Kindern hinaus, danach den Alten, dann den Frauen. Er trägt Taschen, Decken und Mäntel ins Freie, Eimer voller Gläser, Geschirr, Flaschen, Besteck, ein Bündel Handtücher – zuletzt auch Fräulein Plasses Koffer.

Als alles sich auf dem hohen, zweirädrigen Karren stapelt, setzt sich ein kleiner Flüchtlingstreck in Bewegung: die Frauen dicht beim Leiterwagen, wir Kinder rings um sie, zu ihrem Schutz. Diti zieht vorn an der Deichsel, ich schiebe hinten. Noch geht es leicht: Der Johannisberg fällt zum Jäschkentaler Weg leicht ab. Doch der Wagen hat sein Gewicht. Noch müssen wir bremsen, aber wie wird es sein, wenn es bergauf geht? Wir fühlen uns schwach vom langen Herumsitzen im Keller, von all den schlaflosen Nächten.

„Papa und Achim stehen immer noch an der Kreuzung“, rufe ich. Wir können nicht zu ihnen. Ein Flüchtlingsstrom aus der Stadt wälzt sich den Jäschkentaler Weg herauf. Tausende ziehen an uns vorüber. Russische Soldaten mit umgehängten Maschinenpistolen begleiten den Zug.

„Ganz Danzig brennt!“ rufen die Flüchtlinge uns zu. „Es wird immer noch gekämpft!“

„Wo wollt ihr hin?“

„In die Wälder!“

Manche schieben überladene Kinderwagen vor sich her, andere transportieren ihre Habseligkeiten auf Fahrrädern. Sie erzählen, sie seien schon seit Stunden unterwegs und todmüde. Als einige den Jäschkentaler Weg zu verstopfen drohen, weil sie für einen Augenblick verschnaufen möchten, kommen die Posten, drohen und treiben sie weiter.

Wir wollen Papa und Achim Auf Wiedersehn sagen. Dazu müssen wir durch den Menschenstrom hindurch. Aber kaum sind wir in die Menge der vorwärts Drängenden eingetaucht, werden wir auch schon mitgerissen. Mama kämpft verbissen gegen den Strom an. Als sie ganz nah bei Papa ist, wird sie von einem der Posten zurückgeschickt. Nur Dorothee schafft es an den Soldaten vorbei. Zwischen den Gefangenen schlängelt sie sich hindurch, springt an Papa hoch und umarmt ihn noch einmal.

Wo sehen wir uns wieder, Papa…?

Wenn alles in Scherben fällt

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