Читать книгу Wenn alles in Scherben fällt - Wolfgang Kirchner - Страница 9

5.

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Nachmittags sind wir losgezogen. Abends fängt es an zu regnen. Es wird kühl. Ende März liegt in Danzig um diese Zeit Schnee.

„Wir haben Diti verloren!“ Große Angst überkommt mich, ich fühle mich verlassen und weine.

„Irgendwo hinten wird er sein, er kommt nach“, beruhigt mich Mama. Aber nichts kann mich trösten. „Ich höre seine Räder nicht quietschen!“

Diti hatte mich nach vorn geschickt, zu Mama. Er sah, ich konnte nicht mehr. Ein hinkender Mann warf seine Tasche auf den Karren und half an meiner Stelle schieben. Der Weg geht über Feldwege, über einen Friedhof, dann durch den Wald, bergauf, bergab...

„Auf dem Wagen ist alles, was wir zu essen und zu trinken haben“, sage ich zu Mama, „und die Decken für die Nacht!“

„Ich hab was zu essen dabei“, ruft Klara. Über ihrer Schulter hängt eine schwere Tasche mit Proviant. Klara trägt den schlafenden vierjährigen Helmut auf dem Arm und hat einen Arm um den siebenjährigen Detlef gelegt, der ihr nicht von der Seite weicht.

Immer tiefer werden wir in den Wald geführt. Wenn ich mich umdrehe, um nach Diti Ausschau zu halten, sehe ich am Himmel einen riesigen roten Feuerschein. Hinter uns brennt die Stadt.

„Wissen Sie noch, Klara?“ sagt Mama. „Die polnischen Frauen auf der Langgasse – im September 1939? Sie zogen Bollerwagen mit armseligen Bündeln hinter sich her, und neben den Wagen gingen die Kinder. „Wohin gehen die bloß?“, habe ich die Leute auf der Straße gefragt. Keiner wusste Genaues. Einer sagte: „Aufs Land, wo sie hingehören! In unserer schönen deutschen Stadt jedenfalls haben sie nichts mehr zu suchen…“

Mama hat einen Augenblick lang die schweren Taschen abgesetzt; an eine klammert sich die übermüdete Dorothee. Die Großeltern sind zurückgeblieben; wir müssen warten, bis sie uns einholen. Die Kleinen wollen trinken. Hinter uns schimpfen Flüchtlinge, weil wir ihnen den Weg versperren und sie über unsere Taschen stolpern. Frau Duschau bringt das Gepäck vor den Füßen der Nachdrängenden in Sicherheit.

„Wir müssen weiter“, sagt sie, „meine Kinder schlafen im Stehen ein.“

Klara hat angehalten, um Helmut auf die andere Schulter zu legen.

„Als wir im Sommer in Bohnsack waren, weißt du noch?“ sage ich zu ihr. „Da hat auch was gebrannt.“

„In Bohnsack?“ Klara ist zu müde zum Nachdenken. „Das musst du geträumt haben.“

„Ich weiß genau, da hat was gebrannt!“ Immer habe ich daran denken müssen, wenn ich Papas Fotoalbum durchblätterte. Wir sitzen bei Bohnsack am Strand. Einige Fotos zeigen uns vor Kolskes Fischerhaus. Da wohnten wir zur Sommerfrische. ‚September 1939’ stand unter den Bildern.

„Als der Krieg anfing“, versuche ich Klaras Gedächtnis aufzufrischen. „Als wir an der Ostsee waren. Als sie anfingen zu schießen.“

Klara schweigt.

„Es war nachts, die Vorhänge waren zu. Kleine Fenster hatte das Fischerhaus. Und rot karierte Vorhänge.“

„An was du dich alles erinnerst!“

„Du trugst ein schwarzes Kleid, hast dich aufs Sofa geworfen und geweint. Nie habe ich einen Menschen so weinen gesehen wir dich. Du hast geschrien!“

Klara geht mit fast geschlossenen Augen neben mir her. Helmut auf ihrem Arm schläft.

„Mama hat gesagt, du sollst aufhören, die Kinder… “

Klara stöhnt. Helmut wird ihr zu schwer.

„Klara, reißen Sie sich zusammen… vor den Kindern! War das nicht so, Klara?“

„Ja. So war es. Genauso.“

„Was war da?“ will ich wissen.

Klara schaut sich um, ob Diti mit dem Wagen kommt.

„Warum hat Mama damals mit dir geschimpft, Klara?“

„Du musst das richtig verstehen!“ sagt sie. „Deine Mutter hatte Angst. Jeder hatte damals Angst. Man durfte kein lautes Wort sagen. Schon gar nicht vor Kindern…“ Und dann, nach einer Weile: „An diesem Tag ist meine Mutter umgekommen.“

„Euer Haus brannte… hast du uns damals erzählt, nicht?“

Klara nimmt den schlafenden Helmut auf den linken Arm.

„Wer hat euer Haus in Brand gesteckt?“

Klara schaut mich bittend an, ich soll sie in Ruhe lassen. Aber sie sieht, es ist zwecklos, ich würde sie noch lange mit Fragen quälen.

„Das war am ersten Tag des Krieges“, sagt Klara mit leiser Stimme, damit Helmut nicht aufwacht und weint. „Mein Schwager war bei der polnischen Eisenbahn. Alle, die bei der polnischen Eisenbahn waren, wurden abgeholt.“

„Von wem?“

„Von wem schon? Von der SS.“

„Das hast du uns nie gesagt!“

„Ihr durftet nichts davon wissen!“

Helmut stöhnt und wirft den Kopf herum.

„Dann haben sie Handgranaten ins Haus geworfen. Es brannte sofort. Meine Schwester und die Kinder kamen gerade noch raus. Meine Mutter blieb drin.“

Jetzt fängt es richtig an zu regnen. Klaras Gesicht ist ganz nass.

„Du hast geschrien und geheult“, sage ich. „Wir wurden aus dem Zimmer geschickt, weil du gar nicht mehr aufhörtest.“

Sie bleibt erschöpft stehen. Es wird immer dunkler, aber im Osten leuchtet der Himmel blutrot.

„Klara… warum durftest du nicht weinen?“

„Ich sagte ja, die Angst…“ Klara wird richtig böse, weil ich nicht kapieren will. „Damals durfte man Kindern nichts erzählen. Sie verrieten einen, ganz unabsichtlich. In der Schule wurdet ihr ausgefragt. Manche Leute sind ins KZ gekommen, weil sie nicht den Mund halten konnten. Ich habe euch zuviel erzählt. ‚Die Klara bringt uns noch in Teufels Küche’, sagte euer Vater immer.“

„Als deine Mutter umkam, wo war Papa damals?“

Ein anderes Bild aus dem Fotoalbum steht mir vor Augen: Papa zu Pferd, in Helm und Uniform reitet er durchs Grüne Tour, an der Spitze seiner Kompanie, die ihm zu Fuß folgt. An allen Gebäuden des Langen Markts wehen Hakenkreuzfahnen. Der Krieg gegen Polen ist noch nicht zu Ende, aber sie machen schon eine Siegesparade. ‚26. September 1939’ stand unter dem Foto.

„Papa hat gegen die Polen gekämpft…“ sage ich und wage den Gedanken nicht auszusprechen.

Klara spürt, was ich sie fragen will. Sie schüttelt den Kopf. „Dort, wo meine Mutter wohnte, hat dein Vater nicht gekämpft“, sagt sie schnell.

„Er hat uns sein Wort gegeben: Nie hat er im Krieg auf einen Menschen geschossen!“

„Nein“, sagt Klara, „er hatte damit nichts zu tun.“

„Wirklich nichts?“ Weil Klara keine Antwort gibt, frage ich: „Haben sie Papa deshalb geholt…?“

Die Straße macht eine Biegung, wir treten aus dem Wald. Sandige Hügel sind von Schützengräben durchzogen, von Granateinschlägen aufgerissen. Zwischen den Hügeln und der Straße liegt ein Gehöft. Als wir näher herangehen, um uns dort unterzustellen, erkennen wir, der Bauernhof ist zerschossen.

Viele Flüchtlinge haben das gleiche gedacht wie wir. Als sie näherkommen und nur Ruinen sehen, haben sie keine Kraft mehr weiterzugehen, lassen sich in den Straßengraben fallen, setzen sich in die nasse Wiese. Immer mehr Flüchtlinge verlassen die Straße. Mama folgt ihnen. Sie hilft Großvater über den Graben und geht mit ihm quer über die Wiese auf den Wald zu.

Frau Duschau warnt Klara, hinter Mama herzugehen: „Nur wenn wir alle dicht beisammen bleiben, sind wir sicher! In einer großen Menge kann uns am wenigsten passieren!“

„Im Wald werden wir nicht so nass“, gibt Klara zu bedenken.

„Da findet Diti uns nie!“ Ich protestiere und will Klara zurückhalten, aber sie springt schon, Helmut auf dem Arm, über den Graben.

„Ausruhen“, sagt sie erschöpft. „Nur ein paar Stunden…“

Wassertropfen laufen mir übers Gesicht. Eine Hand schiebt meinen Kopf leicht zur Seite. Ich öffne die Augen. Mama beugt sich zu mir herab. Ich bin unter einer Tanne eingeschlafen. Von der Spitze eines Astes tropft Wasser auf mein Gesicht.

Ich schaue mich um. Unter der feuchten Decke, die immer schwerer wird, schläft Dorothee, und meine jüngsten Brüder sind mit Mamas Pelzmantel zugedeckt. Ich hebe den Kopf und suche Klara. Sie schläft in unserer Nähe. Auch die Großeltern schlafen. Die Duschaus schlafen. Fräulein Plasse ist nirgends zu sehen. Seit auf dem Marsch ein Russe an ihrer Tasche zerrte und sie die Tasche nicht loslassen wollte, haben wir sie aus den Augen verloren.

Dies ist unsere zweite Nacht im Wald. Gestern war ein warmer Tag. Wir konnten die nassen Sachen ausziehen und zum Trocknen in die Zweige hängen, und Mama wusch uns im Bach. Hinter dem zerschossenen Gehöft lief ich später mit Dorothee die Anhöhe hinauf. Zwischen ausgebrannten Panzern suchten wir uns einen Weg. Wir dachten, vielleicht entdecken wir von oben Diti mit seinem Leiterwagen. Wir liefen durch Schützengräben, die an manchen Stellen eingestürzt waren. Gewehre ragten aus dem Sand, überall lag Munition herum, Handgranaten, es juckte mich in den Fingern, am Abzug zu ziehen. Wir sprangen über einen toten Soldaten, der, halb zugedeckt vom Sand, im Graben lag, gekrümmt, als sei er gerade gefallen, ein junges, hart gewordenes, gelbweißes Gesicht, die Fäuste gegen den Bauch gedrückt. Wir kehrten um, als aus der Ferne, rasch näherkommend, ein Brüllen und Rasseln zu hören war, ein Dröhnen und Knirschen. Eine Kolonne riesiger russischer Panzer fuhr unten auf der Straße vorbei, es sah aus, als würden sie mitten durch die Menge der Flüchtlinge fahren, die links und rechts der Straße lagerten. Dorothee hielt sich die Ohren zu und schrie: „Hoffentlich ist Diti nicht auf der Straße… mit seinem Leiterwagen!“

Dorothee murmelt im Schlaf. Als weit weg eine Frau gellend um Hilfe schreit, zuckt sie unter der Decke zusammen, wacht aber nicht auf. Niemand von all den Tausenden, die im Wald liegen, rührt sich. Zitternd starre ich durch die Zweige in den roten Himmel über der Stadt und warte auf einen neuen Schrei.

Später wache ich davon auf, dass Mama und Großvater erregt miteinander flüstern.

„Wir kommen so oder so um“, sagt Großvater „wir gehen zu Grunde. Wir müssen hier weg.“

„Jetzt, wo die Kinder so schön schlafen?“

„Diese Nässe… Dein Jüngster wird dir wegsterben, sieh ihn dir an!“

„Wie sollen wir an den vielen Posten vorbeikommen?“ fragt Mama.

„Natürlich nicht über die Straße! Durch den Wald müssen wir gehen! Sag den Kindern, sie sollen den Mund halten und nicht jammern…“

Ich höre, wie Mama die Schnallen an unseren Rucksäcken schließt. Dann fühle ich ihre weiche Hand auf meinem Gesicht. „Wach auf!“

„Ich bin schon wach, Mama… Gehen wir nach Hause?“

„Was machen wir mit den Decken?“ fragt Klara. „Die haben sich mit Nässe vollgesogen wie Schwämme.“

„Auf Ditis Leiterwagen sind Decken genug!“ sagt Mama.

„Und was ist, wenn wir Diti nicht finden und noch eine Nacht im Wald schlafen müssen?“ fragt Frau Duschau.

Ich male mir aus, was Diti zugestoßen sein könnte: Sie haben ihm Wagen und Taschen abgenommen. Sie haben ihn mitgenommen. Bei dem Gedanken, ihn nie wiederzusehen, fange ich an zu weinen. Großvater schimpft: „Wirst du dich wohl zusammenreißen? Willst du uns alle verraten?“

Vorsichtig geht er uns zum Waldrand voraus. Mit dem Spazierstock zeigt er zwischen den Bäumen hindurch zum roten Himmel. „In die Richtung müssen wir gehen!“

„Ob unser Haus brennt?“ will ich von Klara wissen – als ob Klara mehr wüsste als ich.

Auf Zehenspitzen gehen wir über den Waldboden, damit Flüchtlinge, die in der Nähe schlafen, nicht aufwachen. Das würde große Unruhe geben, alle würden mitkommen wollen, und die Posten würden schießen…

„Wenn unser Haus abgebrannt ist“, frage ich Klara, „wie soll Diti uns finden?“

„Da vorn steht ein Posten“, sagt Großvater leise zu Mama. Jetzt wissen wir nicht weiter. Wir bleiben stehen. „Wartet hier“, sagt er. „Ich rede mit ihm… Ich habe noch eine Uhr.“

Er geht hinüber zu dem Posten und spricht ihn polnisch an. Der Posten antwortet russisch, es klingt kurz und abweisend. Eine Weile redet Großvater mit ihm – offenbar ohne Erfolg. Dann bringt er die Uhr ins Spiel. Der Posten nimmt die Uhr, lässt sich viel Zeit, ehe er sich langsam entfernt. Großvater winkt uns, ruft leise: „Kommt rasch!“

Wenn alles in Scherben fällt

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