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II. Der Beginn des Krieges 1. Ursachen und Auslösung

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Das Attentat von Sarajewo, bei dem der serbische Nationalist Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand (*1863) und seine Frau auf offener Straße erschoss, gilt gemeinhin als Auslöser der unmittelbar in den Ersten Weltkrieg führenden Entwicklungen. Erklären kann es die Kriegsauslösung jedoch nicht. Wieso sollten ganz Europa und große Teile der Welt wegen diesem zwar schrecklichen, in seiner politischen Bedeutung aber doch regional begrenzten Terrorakt Krieg miteinander führen? Die Beantwortung dieser Frage weist in zwei Richtungen: Zum einen gilt es, die politischen Entscheidungen der Akteure im Verlauf der sogenannten Julikrise zu analysieren, an deren Ende die Kriegsauslösung stand. Zum anderen aber ist auch nach den längerfristigen Ursachen zu fragen, vor deren Hintergrund erst verständlich wird, warum gerade der Balkan zum europäischen Pulverfass werden konnte und wieso dieser regionale Krisenherd dann das ganze europäische Staatensystem erfasste.

Machtvakuum auf dem Balkan

Durch die Schwäche der osmanischen Herrschaft war auf dem Balkan seit langem ein Machtvakuum entstanden, das verschiedene Kräfte auszufüllen versuchten. Zum einen waren dies die Nationalbewegungen der hier lebenden Völker, insbesondere der Serben, Rumänen, Bulgaren, Griechen, Montenegriner und Albaner, die mehr oder weniger erfolgreich je eigene Nationalstaaten errichten und ihre Macht zu vergrößern suchten. Zum anderen ging es um die gegensätzlichen Interessen von zwei europäischen Großmächten: Österreich-Ungarn sah auf dem Balkan ein zentrales Feld imperialistischer Expansion und hatte 1908 Bosnien und die Herzegowina annektiert, was nicht zuletzt zur Folge hatte, dass die südslawische Nationalbewegung ihre Feindschaft von den Osmanen auf die Habsburger übertrug. Russland dagegen sah sich im Zeichen des Panslawismus als Schutzmacht der kleineren slawischen Völker und versuchte auf diesem Wege, seinen Einfluss auszudehnen. Als 1911 die Niederlage gegen Italien in Nordafrika erneut die Schwäche des Osmanischen Reiches deutlich machte, sahen die Balkanstaaten ihre Stunde gekommen. Sie verbanden sich unter russischer Patronage zum Krieg gegen die Türkei, auf den nach ihrem gemeinsamen Sieg schließlich 1913, im zweiten Balkankrieg, ein Streit um die Beute folgte, aus dem vor allem Serbien als Sieger hervorging. Das Ergebnis war ein schwelender Krisenherd auf dem Balkan, insbesondere weil Österreich-Ungarn und Russland politisch weiterhin erbittert um die Vorherrschaft rangen.

Das europäische Bündnissystem

Aus diesen Zusammenhängen kann erklärt werden, warum die Wiener Politik nach dem Attentat von Sarajewo den Versuch unternahm, die Serben in die Schranken zu weisen, und wieso damit das Zarenreich als Verbündeter Serbiens auf den Plan trat. Doch weder ist daraus schlüssig die Entscheidung abzuleiten, dies nun auf kriegerischem Wege zu tun, noch kann aus dem Konflikt auf dem Balkan erklärt werden, wie es schließlich zu einem großen Krieg der europäischen Mächte kommen konnte. Ansatzpunkte dafür bietet zuerst einmal das europäische Bündnissystem, das sich in den vorangegangenen Jahrzehnten herausgebildet und im frühen 20. Jahrhundert immer stärker verfestigt hatte. Seit 1879 waren Österreich-Ungarn und Deutschland nicht nur, wie bisher üblich, zeitweilig und zu bestimmten Zwecken, sondern auf Dauer im sogenannten Zweibund miteinander verbunden, der für den Fall eines russischen Angriffs militärische Unterstützung, bei anderen Angriffen wohlwollende Neutralität vorsah. Dieses Bündnis, das 1881 um das allerdings immer wieder lavierende Italien zum Dreibund erweitert wurde, führte Anfang der 1890er Jahre, nachdem die deutsche Politik auch Bismarcks geheimen Rückversicherungsvertrag mit dem Zarenreich aufgekündigt hatte, zu einem ähnlichen Gegenbündnis zwischen Frankreich und Russland. Im frühen 20. Jahrhundert gab schließlich auch England die Politik der Splendid Isolation auf und schloss seine Entente-Abkommen zuerst 1904 mit Frankreich, dann 1907 mit Russland, so dass sich in Europa schließlich zwei gegeneinander gerichtete Bündnissysteme der Großmächte gegenüberstanden. Zwar war damit auch eine abschreckende Wirkung verbunden, doch durch die diversen Verbindungen der Mächte mit weiteren Staaten drohte nun bei jedem regionalen Konflikt das Risiko eines großen europäischen Krieges.

Einkreisung Deutschlands?

Diese Entwicklung ist in Deutschland sowohl zeitgenössisch als auch in der historischen Analyse oft als eine von England betriebene, letztlich auf den Krieg hinauslaufende Politik der „Einkreisung“ gedeutet worden, der sich die deutsche Politik habe widersetzten müssen, notfalls durch die Auslösung eines vermeintlichen Präventivkrieges. Doch von dieser Auffassung ist in der neueren Forschung wenig geblieben. Die englische Politik reagierte vielmehr auf vielfältige, ebenso schwer berechenbare wie aggressive Initiativen von deutscher Seite, die im Zeichen der von Wilhelm II. proklamierten, durch einen groß angelegten Schlachtflottenbau unterstützten „Weltpolitik“ das Inselreich unter Druck setzten und damit seine Verständigung mit Frankreich und Russland erst auslösten. Hinzu kam, dass in Berlin mehrere Initiativen Londons, eine Verständigung über Rüstungsbegrenzungen und Einflusssphären herbeizuführen, abgelehnt wurden. Die Reichsleitung verfolgte stattdessen eine „Politik der freien Hand“, die jedoch nicht zu den gewünschten Entfaltungsmöglichkeiten deutscher Interessen führte, sondern stattdessen ihre Handlungsspielräume immer weiter eingrenzte. Anstelle der auf vielfältige Weise wechselseitig verflochtenen, aber auch unüberschaubar werdenden internationalen Politik der Bismarck-Ära standen sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges zwei immer fester gefügte Machtblöcke gegenüber, und das Deutsche Reich war vor diesem Hintergrund eng an die schwächelnde Habsburger Doppelmonarchie als einzigen verlässlichen Partner gebunden.

Der Hochimperialismus

Die hier in aller Kürze skizzierten Entwicklungen der internationalen Politik wiesen durchaus ihre Eigenlogik auf, doch trotzdem vollzogen sie sich nicht in einem sterilen Raum internationaler Diplomatie. Vielmehr waren sie zutiefst geprägt und bestimmt von den allgemeinen gesellschaftspolitischen Tendenzen der Zeit, die nicht zuletzt im Zeichen von imperialistischer Interessenvertretung, nationalistischer Machtpolitik und dynamischem Rüstungswettlauf standen. Während die imperialistische, von der Suche nach Rohstoffen und Absatzmärkten für die industriekapitalistische Wirtschaft angetriebene Durchdringung der Welt im 19. Jahrhundert lange freihändlerisch geprägt und mit der Hoffnung auf allgemeinen zivilisatorischen Fortschritt verbunden war, wurden mit der sogenannten Großen Depression im letzten Viertel des Jahrhunderts und der darauf folgenden protektionistischen Wende der nationalen Wirtschaftspolitik die Weichen in eine andere Richtung gestellt. Nun traten die um Schutz und Förderung ihrer Volkswirtschaften bemühten Nationalstaaten zunehmend selbst als imperialistische Akteure auf den Plan und gerieten dadurch auch untereinander in vielfältige Konflikte. Besonders deutlich wurde dies im Scramble for Africa, als die europäischen Großmächte in einem Wettlauf um die Aneignung von Macht- und Einflusssphären auf dem schwarzen Kontinent eintraten und umso heftiger aufeinander trafen, je weniger Expansionsfelder übrig geblieben waren. Dabei trat insbesondere das Deutsche Reich als kolonialistischer Nachzügler mit seinem neuen weltpolitischen Streben nach einem „Platz an der Sonne“ besonders aggressiv in Erscheinung, während es Frankreich, England und Russland zunehmend gelang, ihre Einflusssphären gegeneinander abzugrenzen und zu einem Interessenausgleich zu gelangen.

Nationalismus und Neue Rechte

Die im Zeitalter des Hochimperialismus auftretenden Konflikte entwickelten sich umso schärfer, als zugleich der Nationalismus einen deutlichen Formwandel vollzog. Nicht mehr, wie 1848, im Zeichen eines Nationalitäten übergreifenden „Völkerfrühlings“ standen nun die nationalen Bestrebungen und Ideologien, sondern sie zielten auf die je eigene Nation und sie proklamierten, begleitet von der Ausbildung ideologisierter Selbst- und Feindbilder, ihren Vorrang in Europa und der Welt. In besonders aggressiver Weise wurde dieses Programm von neuen Bewegungen am rechten Rand des politischen Spektrums vertreten, wie sie im Alldeutschen Verband von 1890/94 und in der Action Française von 1899 ihren programmatisch klarsten Ausdruck fanden, aber auch in einer Vielzahl von Agitationsvereinen hervortraten. Sie lösten sich von den Bindungen des traditionellen Konservatismus an legitimistische Werte und setzten die Regierungen mit ihrer nationalistischen Propaganda massiv unter Druck, insbesondere wenn es um Fragen der „nationalen Ehre“ und damit um die Zuspitzung außenpolitischer Konflikte ging. Besonders deutliche Beispiele dafür waren die beiden Marokkokrisen der Jahre 1905 und 1911, in denen das Deutsche Reich den Versuch unternahm, seinen Einfluss in Marokko gegen die französische Vorherrschaft auszudehnen. Denn als dies misslang, war es der Reichsleitung nur mit Mühe und unter großem Gesichtsverlust möglich, die von der nationalistischen Rechten vehement geforderte Eskalation der Konfrontation zu vermeiden.

Militärischer „Kult der Offensive“

Unter dem Einfluss der neuen, weltpolitischen Ambitionen des Deutschen Reiches stand auch der maritime Rüstungswettlauf der Vorkriegszeit. Der 1896 anlaufende, mit der Flottennovelle von 1906 noch einmal deutlich ausgeweitete deutsche Schlachtflottenbau zielte weniger auf eine weltweite Präsenz deutscher Kriegsschiffe als auf die Fähigkeit, in der Nordsee eine große Auseinandersetzung mit der englischen Flotte bestehen zu können. Zwar verband die Reichsleitung damit die Hoffnung, England durch Rüstungsdruck zu einem für Deutschland günstigen Abkommen zu zwingen. Doch das Inselreich sah seine maritime Vorrangstellung in der Welt bedroht und reagierte seinerseits mit einem technologischen Rüstungssprung. Der Bau größerer, besser gepanzerter und kampffähigerer Schlachtschiffe der Dreadnought-Klasse ließ nicht nur den Rüstungswettlauf zwischen Deutschland und England weiter eskalieren, sondern er veranlasste auch die anderen Großmächte, ihre Flotten zu modernisieren. Insbesondere für England war dies eine bedrohliche Entwicklung, denn die bisherige numerische Überlegenheit seiner weltweit agierenden Kriegsflotte verlor so an Bedeutung. Nicht zuletzt daraus wird die neuartige, mit bisherigen Grundpositionen brechende Politik der Entente Cordiale gegenüber Frankreich und Russland erklärlich. Doch auch gegenüber Deutschland war England immer wieder, zuletzt mit der Haldane-Mission von 1912, um eine Verständigung bemüht, während man in Berlin weiterhin darauf setzte, durch forcierten Druck bessere Erfolge erzielen zu können.

In den unmittelbaren Vorkriegsjahren machten die Balkankriege allerdings deutlich, dass ein großer europäischer Krieg, der sich nun immer bedrohlicher abzuzeichnen begann, nicht allein und auch nicht primär auf den Meeren entschieden werden würde. Der forcierte Rüstungswettlauf wurde nun auch auf die Landheere übertragen. Russland hatte bereits nach der Niederlage gegen Japan 1905 ein Programm der Heeresreorganisation eingeleitet, das 1917 abgeschlossen sein sollte, in Deutschland große Ängste hervorrief und den Gedanken an einen Präventivkrieg nährte. In den Jahren 1912/13 brachten auch Deutschland, Österreich-Ungarn und Frankreich Programme für eine enorme Erweiterung ihrer stehenden Heere auf den Weg. Und die krisenhafte Unsicherheit des europäischen Staatensystems wurde noch dadurch verschärft, dass die Militärdoktrin der Zeit geradezu im Zeichen eines „Kultes der Offensive“ stand. Denn gerade deshalb lag im Konfliktfall die Versuchung nahe, durch eine schnelle Kriegseröffnung dem Gegner zuvorzukommen und eine militärische Vorentscheidung herbeizuführen. Von besonderer Bedeutung war es schließlich, dass die deutsche Kriegsplanung dieses Vorgehen bereits programmatisch festgelegt hatte. Der sogenannte Schlieffenplan sah vor, die Mobilmachung unmittelbar in einen großangelegten Angriff auf Frankreich zu überführen. Das galt auch für einen Konflikt mit Russland, weil das mit dem Zarenreich verbündete Frankreich als ernsthafterer militärischer Gegner eingestuft wurde, und politische Spielräume waren für diesen Fall nicht mehr vorgesehen.

Kulturpessimismus und „Generation von 1914“

Eine im einzelnen schwer einschätzbare, zweifellos aber nicht zu unterschätzende Rolle in der Vorgeschichte des Krieges spielten schließlich die inneren Krisen, die den Modernisierungsprozess der europäischen Gesellschaften und Staaten begleiteten und die sich im frühen 20. Jahrhundert vielfach noch einmal zuspitzten. Hier ist nicht zuletzt der Kulturpessimismus zu nennen, eine geistige Strömung, die sich insbesondere in den jüngeren Generationen des Bürgertums breit machte. Ihnen erschienen die Errungenschaften und Verheißungen der Modernisierung in mancher Hinsicht schal, unmittelbarer betroffen waren sie dagegen von den Zwängen und Verwerfungen der modernen Gesellschaft, der Naturzerstörung, der Unwirtlichkeit der Städte, der Künstlichkeit sozialer Beziehungen, der Bürokratisierung moderner Institutionen und nicht zuletzt einer wohlanständigen Bürgerlichkeit, die ihrem Erlebnishunger wenig Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten schien. Auch der Frieden verlor für sie so an Bedeutung, ihre Ausbruchsphantasien schlossen den Krieg als Bruch mit der bürgerlichen Welt ein. Diese Haltung war nicht zuletzt deshalb von besonderer politischer Bedeutung, weil die kulturkritische Distanz in vieler Hinsicht doch höchst affirmative Züge aufwies, mit nationalistischen, imperialistischen und militaristischen Tendenzen verbindbar war und schließlich in die Kriegsbegeisterung von 1914 mündete. Der Kulturpessimismus der „Generation von 1914“, wie diese Jugend rückblickend benannt wurde, war allerdings mehr ein Symptom für die allgemeine Krise der Moderne, die den Ersten Weltkrieg hervorbrachte. Ihre treibenden Kräfte dagegen sind in den ökonomischen, sozialen und politischen Strukturentwicklungen der Zeit zu sehen, in deren Zentrum die Verbindung von Krisenerfahrung und Konfliktverschärfung stand.

Soziale und politische Konfliktpotentiale

Der Imperialismus entwickelte sich nicht nur in einem direkten ökonomischen Zusammenhang mit der Krisenhaftigkeit industriekapitalistischer Wirtschaftsentwicklung, sondern er wurde auch bewusst als Sozialimperialismus, als Instrument zur Befriedung sozialer und politischer Konflikte im Innern der europäischen Gesellschaften konzipiert. Die imperialistische Ausbeutung der Welt sollte zu einer sozialen Besserstellung der Arbeiterschaft führen und damit die kapitalistischen, vom Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geprägten Klassengesellschaften stabilisieren, die durch das enorme Wachstum sozialistischer Bewegungen bedroht erschienen. Und in enger Verbindung mit dem Nationalismus ging es der imperialistischen Expansion immer auch darum, innere Konfliktpotentiale nach außen abzuleiten, der Nation eine einende, die inneren Gegensätze überformende Idee zu geben und so den gesellschaftlichen und politischen Status quo sicherzustellen. Doch wer sich auf diesen Weg begeben hatte, der durfte im Fall außenpolitischer Konflikte nicht nachgeben, und zugleich wuchs die Versuchung, innere Probleme durch außenpolitische Erfolge zu überspielen.

Dies erschien umso bedeutsamer, als die Widersprüche zwischen dem Prozess der Basisdemokratisierung der europäischen Gesellschaften einerseits, den etablierten Herrschaftsstrukturen in Staat und Gesellschaft andererseits, sich politisch überall in mehr oder weniger krisenhafter Form zuspitzten. Für den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wurde es immer schwieriger, die nach Selbständigkeit strebenden Nationalitäten unter dem Dach der Doppelmonarchie zusammenzuhalten. Frankreich wurde von der Dreyfus-Affäre erschüttert, die aufs Neue den Konflikt zwischen einer republikanischen Linken und einer antirepublikanischen Rechten in den Mittelpunkt der Politik rückte. In England riefen nicht nur die Wahlrechtsforderungen der Frauenbewegung schwere politische Konflikte hervor. Auch die liberalen Pläne für eine irische Selbstverwaltung trafen auf Widerstand der Konservativen und schienen das Land an den Rand des Bürgerkrieges zu rücken. So offen zugespitzt waren die politischen Auseinandersetzungen in Deutschland nicht. Doch führten hier die besonders krassen Widersprüche zwischen einer beschleunigten Industrialisierung und einer eher vordemokratischen Herrschaftsorganisation im konstitutionellen System, die ausbleibende Parlamentarisierung der Reichspolitik, der kaum noch mögliche Interessenausgleich zwischen den unterschiedlichen staatstragenden Kräften aus Großindustrie und Großlandwirtschaft sowie die bedrohlichen Wahlgewinne einer noch immer als reichsfeindlich ausgegrenzten, programmatisch revolutionären Sozialdemokratie dazu, dass kaum noch wegweisende politische Entscheidungen getroffen werden konnten und sich der Eindruck einer Dauerkrise verdichtete. Umso stärker machte sich unter der deutschen Führungsschicht der Gedanke breit, durch außenpolitische Erfolge und ggf. auch durch einen Krieg innenpolitische Perspektiven zurückgewinnen zu können, ohne einen grundlegenden Systemwechsel einleiten zu müssen.

Die Kriegsauslösung – eine unausweichliche Entwicklung?

Angesichts dieser Konfliktpotentiale erscheint es naheliegend, den Krieg als notwendige Konsequenz einer umfassenden, alle Bereiche von Gesellschaft, Kultur und Politik erfassenden Krise der europäischen Moderne zu deuten. Doch sollten Historiker vorsichtig sein, ihre Rolle als rückwärtsgewandte Propheten, die immer schon das Ende der Geschichte kennen, analytisch zu überhöhen und auf der Suche nach Erklärungen unabweisbare Notwendigkeiten zu konstruieren. Immerhin waren in der Vorkriegszeit alle ernsthaften außenpolitischen Konfliktsituationen immer wieder so weit befriedet worden, dass ein großer europäischer Krieg vermieden werden konnte. Und warum sollte das nach dem Attentat von Sarajewo nicht aufs Neue möglich gewesen sein? Man muss den Krieg nicht gleich, wie jüngst Holger Afflerbach, als eine geradezu unwahrscheinliche Möglichkeit deuten, um die relative Offenheit der historischen Entscheidungssituationen zu betonten. Die Kriegsauslösung aber ist aus den Strukturentwicklungen der Vorkriegszeit, so sehr sie die Kriegsgefahr auch erhöht und die zum Krieg führenden Entscheidungen vorgeprägt haben, doch nicht einfach ableitbar. Entscheidend war schließlich das politische Handeln in der Julikrise.

Geheimdiplomatie und Kriegskalkül

Nach dem Attentat von Sarajewo verschwand die zum Krieg führende Politik erst einmal im Schatten der Geheimdiplomatie. Viele führende Politiker gingen in den Sommerurlaub, von Kriegsgefahr scheinbar keine Spur. Doch hinter den Kulissen sah die Sache anders aus. Die Initiative lag erst einmal in Wien und, weniger unmittelbar, aber doch entscheidend, in Berlin. Die österreichische Politik war mehrheitlich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen, um Serbien auf kriegerischem Wege in die Schranken zu weisen. Angesichts der Verbindung Serbiens mit Russland erschien dies nur mit deutscher Unterstützung möglich. Bei den Konsultationen am 5./6. Juli in Berlin erteilte die Reichsleitung nicht nur ihren sogenannten Blankoscheck für ein offensives Vorgehen, sondern sie drängte ihren Verbündeten auch zu raschem Handeln. Die Gegenseite sollte überrumpelt, Serbien militärisch eingedämmt und Russland als schwacher Bündnispartner hingestellt werden. Ob man es allerdings tatsächlich für möglich hielt, dass Russland neutral bleiben würde, ist in der Forschung umstritten; klar aber ist, dass Deutschland für den Fall eines militärischen Eingreifens des Zarenreiches seine aktive Unterstützung zusagte und insofern das Risiko eines europäischen Kontinentalkrieges gegen Russland und auch gegen das verbündete Frankreich bewusst einging. Denn für den Fall eines deutsch-russischen Krieges sah die deutsche Strategieplanung mit dem Schlieffenplan nur eine mögliche Kriegseröffnung vor: den schnellen Angriff auf Frankreich.

Eine Politik des kalkulierten Risikos?

In Anlehnung an Reichskanzler Bethmann Hollwegs (1856–1921) Berater Kurt Riezler ist diese Entscheidung als eine im Prinzip defensiv motivierte, gegen die „Einkreisung“ des Reiches gerichtete „Politik des kalkulierten Risikos“ begriffen worden, der es vor allem darum gegangen sei, den schwächenden Bündnispartner Österreich-Ungarn zu stärken und gleichzeitig die Entente diplomatisch zu schwächen und aufzusprengen. Andere Historiker gehen in der Nachfolge von Fritz Fischer dagegen davon aus, dass es der deutschen Seite von Anfang an um die Auslösung eines Kontinentalkrieges gegangen sei, in dem nur England möglichst lange neutral gehalten werden sollte. Bei der Beurteilung geht es nicht zuletzt darum, ob man sich vor allem auf den zögernden Kanzler konzentriert, oder ob man den Druck der in Deutschland eindeutig zum Krieg drängenden Militärführung stärker gewichtet. Doch wie dem auch sei, alle Versuche der Reichsleitung, die selbst aktiv verschärfte Konfrontation zugleich unter Kontrolle zu halten und den heraufziehenden Krieg in irgendeiner Weise zu begrenzen, blieben am Ende erfolglos. Die komplizierten Abstimmungsmodalitäten in der Habsburger Doppelmonarchie führten dazu, dass das Ultimatum, das den Vorwand zum schnellen Krieg gegen Serbien liefern sollte, erst mit zweiwöchiger Verspätung am 23. Juli in Belgrad übergeben wurde. Obwohl die Serben den ihre staatliche Souveränität verletzenden Forderungen sehr weit entgegen kamen, forcierte die Wiener Politik nun das Tempo, begann mit der Mobilmachung und erklärte Serbien am 28. Juli den Krieg.

Der Erste Weltkrieg

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