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I.3 Neben Oliven & Landwein sind in diesem Falle die Fragen der wichtigste Proviant

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Was ist also nur mit diesem Meer geschehen, diesem „Meer-Denken“, dem wir Europäer alles zu verdanken haben, die Schrift, die Zahl, Logos und Mythos? Das alte Schmelzwasserbecken, das stets gefüllt war mit jüdischen, christlichen, islamischen Tropfen, dieser Vermittler inmitten aller nur denkbaren Gegensätze ist plötzlich zu einem ständig überwachten Grenzort geschrumpft. Gibt es für diesen noch immer schönen verwitterten Umschlagplatz der Ideenkreuzung eine dritte Renaissance? Eine neue Gerechtigkeit, eine neue Ethik, einen moralischen Entwurf, der nicht mit seinem Anspruch universeller Umarmung abermals die Schwächsten erdrückt? Ergibt dieser westliche Werte-Hegemonialismus noch Sinn, wenn in seinem Namen unentwegt neue, vermeintlich gerechte Kriege entstehen? Kann nicht irgendwann eine Ethik im Kommen sein, die sich bewegt, die mit Außenbürgern Fuß an Fuß, Hand in Hand flüchtet, läuft, die sich nicht fortstiehlt, sondern bei ihm, beim Letzten bleibt? Ist eine „transportable Ethik“, wie sie der Verfasser hier nennen möchte, denkbar?


Abb. 3

Die Zeit drängt, auf die Schiffe, ihr Philosophen. Ich werde in diesem Fall nur Berichterstatter sein, ein Leichtmatrose am Deck der „Neuen Gerechtigkeit“. Es wäre verrückt und zugleich vermessen, ginge ich bei dieser waghalsigen Mission alleine an Bord. Und da die Namen auf den Büchern ohnehin sich stets auf Reisen befinden, in unseren Taschen, Koffern, Citybags, fällt es mir nicht allzu schwer, eine Anzahl von radikal erlesenen Denkfiguren an Bord zu holen, sie virtuell an Deck zu bitten. Bedingung ist nur: Es müssen radikale Denker der Ethik sein, Überdenker der anderen Seite, des Ausgegrenzten, also auch vom algerischen Ufer. Deshalb bitte ich natürlich Albert Camus an Bord.

Nun zum nächsten Gast und Missionsbegleiter: Jacques Derrida. Hier gibt es einiges, was die beiden pieds noirs vereint, wie die großen Franzosen ihre „Kleinen von drüben“ abwertend zu nennen pflegten. Das reicht weit über Kindheitserinnerungen hinaus, wie die gemeinsame frühe Liebe zum Fußballspiel auf den rotkargen Plätzen von Algier. Es war überraschend für mich, auf keine einzige namhafte Untersuchung gestoßen zu sein, die sich mit der Ähnlichkeit dieser zwei Anderen befasst. Denn sie beide kannten nur allzu gut die schmerzhafte koloniale Überfahrt von Algier nach Marseille. Auf dieser Schreibfahrt wird also vom maghrebinischen Derrida die Rede sein, von jenem Mann vom anderen Kap.

Doch was wäre eine Mittelmeerfahrt ohne einen echten Rabbi vom östlichen Ende des Gestades, einem Gelehrten, der zwar rein körperlich in Frankreich lebte, aber was sagt das schon … Sein Werk birgt die wohl radikalste Ethik der postmodernen Zeit. Sein Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit lässt er mit einem äußerst mysteriösen Satz beginnen, den ich in meinem Logbuch untersuchen werde: „Das wahre Leben ist abwesend. Aber wir sind auf der Welt.“ Emmanuel Lévinas, der Doyen des anderen Denkens, den zeitlebens eine tiefe Freundschaft mit Derrida verband.

In Rom schließlich holt sich das Schiff noch einen weiteren Passagier an Bord. Giorgio Agamben. Dunkelpoetisch spricht er die vernichtendste Kritik über das jetzige Europa aus. Doch auch er verfügt über einen Plan, dem Desaster zu entrinnen.

Dieses Aufeinandertreffen der Genannten ist nicht dem Zufall geschuldet, jeder der vier Männer hält ein wichtiges Puzzleteil bereit, für das Ausströmen, In-Bewegung-Setzen einer Mittelmeerischen Ethik, die sich im Gleichklang mit der Aristotelischen Handlungsethik für die „Untersten“ dynamisiert.

Für die Besatzung gilt, und da steht sie im Widerspruch zu Nietzsche, dass sie nicht schon wieder eine andere Welt entdecken will, sondern im Gegenteil, sie will dem frierenden Anderen dieser blank gelegten Welt eine ethische Decke reichen, jenem Antipoden, der unverschuldet auf der unteren Seite der Welt zu stehen hat.

Schäm dich, Europa!

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