Читать книгу Schäm dich, Europa! - Wolfgang Maria Siegmund - Страница 6
ОглавлениеVieles, woraus der Westen berechtigt seinen Stolz bezieht, seine frühen Erkenntnisse in Wissenschaft, Philosophie und Kunst – und damit die Ursprünge seines Wertesystems – hat er den Bewohnern beiderseits des Mittelmeeres zu verdanken. Unter dieser gemeinsamen Sonne, für Platon das sichtbare Symbol für das Gute, wurden die Schrift, die Zahl, das Geld erfunden. Ja, die ersten Meister der Philosophie lebten und lehrten allesamt in der heutigen Türkei. Es ist arabischen Übersetzern zu verdanken, wenn wir heute die Schriften des Aristoteles in Form von günstigen Reclambüchern in Händen halten; der Bewässerungskunst der Mauren, wenn wir abends in Tomaten beißen, deren Haut nach Südspaniens Neusklaven schmeckt (ein Fortschritt, dessen Nichteintritt leicht zu verschmerzen wäre). Und ganz ohne den Auftritt des jüdischen Lennons der Levante hinge in unseren Schulen noch immer das Porträt vom Goldenen Kalb. Doch den Anfang unseres Begreifens provozierte die glitzernde Weite dieses Meeres, das uns alle das Staunen lehrte, gemeinsam fragend in dieser Welt zu stehen.
Umso beschämender der Umstand, wie sich Europa, nach Erhalt all dieser Gaben, mit einer Mauer der Abwehr vor seinen südlichen Ideenspendern, seinen Nachbarn verschließt. Das Abendland nimmt es somit in Kauf, die lebenserhaltende Blutbahn des Kreativen zu kappen, die „Herzenge“ von Gibraltar noch weiter zu schließen. Die sokratisch-ethische Präambel, „es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun“, wird der endgültigen Austrocknung überlassen, ja auf den Kopf gestellt. Die Abwehr des Anderen läuft im Moment auf höchsten Touren, aber somit auch die moralische Gefahr für den Westen, im Schatten der untergehenden Sonne die eigenen Werte gleich mit zu begraben.
Davor hat schon vor Jahren Albert Camus, selbst ein Bewohner der anderen Meeresseite, in seiner radikal humanistischen Schrift über das „mittelmeerische Denken“ gewarnt, vor dieser neuen Verrohung Europas. Ohne den notwendigen Austausch von Licht und Schatten, des Eigenen mit dem Andern und dabei immer Nemesis, die Göttin des Maßes im Blickpunkt, käme eine ethische Verwüstung auf uns zu. Diese Gedankenspur nimmt der Verfasser dieses Pamphlets, mehr Literat als Philosoph, noch einmal auf. Neben Camus lädt er drei weitere große Denker der Ethik auf sein fiktives Schiff: Jacques Derrida, geboren am „anderen Kap“, Emmanuel Lévinas, der wohl radikalste Ethiker unserer Tage, und Giorgio Agamben, sie alle kommen mit an Bord für diese Zeitreise zu den Anfängen des Abendlandes, als das Gute seine erste Setzung hier empfing. Dabei schrammt ihr Schiff auch die Gegenwart. An westlichen Verbannungsinseln, für das Böse bis hinauf in unsere Tage geöffnet, zieht es vorbei. Alle vier Denker halten ein Puzzle einer Meeresethik in der Hand, doch dann … Und dazu taucht noch ein Familienrätsel auf, eine Sache, worüber der eigene Großvater nie sprach …
Das Buch wurde nicht für den alles wissenden Philosophen geschrieben, sondern für den interessierten Laien, der neben ernsten Fakten den Mix aus Literatur, Philosophie und Reisebericht nicht scheut. Doch auch hier werden dem Zorn, den ein Pamphlet einfach braucht, zum Ausgleich die Selbstironie und das Augenzwinkern als Maß zur Seite gestellt.
Alle nichtkursiven Dialoge der philosophischen Bordbesatzung sowie die Figur Stane entspringen der Fantasie des Verfassers.